16.2 Kapitel - Nicht so, wie es sein sollte

Die meisten Menschen kostete es Überwindung sich gegen Fremde zur Wehr zu setzen und sich selbst zu verteidigen. Sie nicht.

Mit kalter Verachtung blickte sie sich nach den patrouillierenden Stadtwachen um. Helle Haare, helle Augen, helle Haut. Alles Werwölfe. Diese hässlichen, miesen Halbköter. Selbst jetzt, wo der verdammte Alpha weg war konnte man kaum Treten ohne auf einen Wächter zu treffen. Sie wuselten überall herum, durchsuchten Stände, Läden und sogar Herbergen. Und zumeist waren die Besitzer Menschen.

Abschaum.

Der Stein unter ihr war unangenehm kalt. Feine Wassertröpfchen durchnässten ihren Rücken und Ariana legte müde ihren Kopf in den Nacken, um zum Feuervogel über ihr zu blicken. Enrhyms Schutzpatron spuckte unbeeindruckt allen Leids in dieser Stadt weiter Wasser in seinen Brunnen und sie hasste ihn. Sie waren alle gleich. Lebten glücklich vor sich hin, spuckten in aller Eintönigkeit ihr Wasser in den dummen Brunnen, den sie ihr Leben nannten und taten nichts. Gar nichts.

Aber nicht sie. Ariana war nicht wie die anderen.

Die Sonne war schon längst verschwunden und die kühle Dämmerung wurde langsam aber sicher von der Nacht abgelöst. Eine unbestimmte Unruhe erfasste ihr wuterfülltes Herz, als sie den Mond Lunai am Himmel sah. Die Münze in ihren Händen war das einzige was warm war. Warm, vom nervösen Drehen in ihren Händen.

Vielleicht sollte sie doch erst morgen gehen. Oder übermorgen.

Kaden kam nicht mit. Aber was hatte sie schon von ihm erwartet? Er war genau wie die anderen.

Der Mond kletterte höher.

Ihre Nase juckte. Es war unangenehm. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu kratzen. Obwohl sie es manchmal willkommen hieß, die dumpfe Auslösung von Schmerz, das Drücken auf ihre blaue Flecken. Genau wie die Kanten der Münze, die sich tief in ihr Fleisch bohrten.

Ariana starrte wütend auf zu Lunai. Nicht mal diese verdammte, leuchtende Scheibe kam ihr heute entgegen. Halbmond. Vielleicht etwas weniger. Sie kannte sich da nicht so gut aus.

Ihre Augen huschten zu den Werwölfen. Sie starrten sie an. Die Beschwörerin konnte sich denken, was sie dachten. Sie war die Schwester von Emira. Emira Sol'Artiare, der Gefährtin des Alphas. Ariana war noch nie in ihrem Leben ‚die Schwester von...' gewesen. Sie war öfter mal ‚die Tochter von...', aber doch nicht ‚die ungewollte Schwägerin des großen Alphas von Esparias'! Das würde sie auch ganz sicher nicht bleiben!

Egal wie oft sie nach oben sah, der Mond wurde einfach nicht voller. Nicht heller.

Genauso frustrierend wie Kaden. Was maßte dieser Feigling sich eigentlich an? So mit ihr zu reden! Sein Jammern, sein Wegducken, sein Wimmern. Ihr Herz schlug so heftig in ihrer Brust, dass sie sich jetzt sofort bewegen musste. Sie musste irgendetwas zerstören. Irgendjemanden anschreien. Das Blut rauschte laut in ihren Ohren. Sie hatte Feiglinge so satt. Diese rückgratlosen Waschlappen. Kaden. Sie konnte sich schon genau ausmalen wie er ihre Schwester einfach vergaß und sich jemand Neues suchte. Jemand anderen, der ihn bemitleidete und ihn bemutterte. Zu mehr war er ja nicht fähig. Sie sollte ihm noch einmal einen Besuch abstatten. Vielleicht auch mal seine Nase brechen. Oder einige seiner Finger.

Weil Lunai nicht doch plötzlich zum Vollmond wurde, und weil ihr Rücken langsam viel zu nass wurde, sprang sie auf.

Selbst jetzt war der Marktplatz recht gut gefüllt, aber sie ignorierte die anderen und stellte sich direkt vor den Mosaikbrunnen, die Kupfermünze fest in den Händen. Der Schutzpatron Enrhyms versprach jedem der zu Vollmond einen Bet in seine Tiefen warf, etwas, was er wirklich begehrte.

Ariana hatte die Formulierung schon immer komisch gefunden. Sie ‚begehrte' ja nicht wirklich. Aber es war ja auch nicht wirklich Vollmond, also war das schon in Ordnung. Sie versuchte die boshaften Gedanken, beißend wie tollwütige Hunde, zu verdrängen und sich nur auf ihren Wunsch zu konzentrieren.

Der Bet drückte in ihre Haut.

Sie sah ihm beim Versinken zu.

Und nun würde sie losziehen. Und zurückschlagen.



Sie trafen sich in einer kleinen Seitenstraße, die zur Akademie führte. Ariana hatte auf Kaden warten wollen, um ihn noch einmal ihre ganze Wut fühlen zu lassen, aber seine fassungslose Panik ließ sie unsicher zurückweichen.

Der junge Mann keuchte, seine Augen glänzten vor einer Angst, tiefer, als sie es von ihm gewohnt war. Er stammelte etwas, immer und immer wieder das gleiche. Erst als er wieder etwas zu Atem gekommen war, konnte sie ihren Namen hören.

„Ariana. Ari...ana...", winselte er. Er musste sich selbst auf seinen Oberschenkeln abstützen, um wieder Luft zu bekommen.

Der Schein der ersten Straßenlaternen war nicht stark genug, um zu ihnen durchzudringen, also stand sie unschlüssig in der Dunkelheit und sah dem Chemiker beim verzweifelten Versuch zu atmen zu.

„Was ist denn los?", fragte sie. Erst jetzt bemerkte sie die dünne Stange in seinen Händen. Was wollte er damit?

„Ich...ich hab...da...da war..." Er atmete einmal tief durch und versuchte dann sich wieder gerade hinzustellen. Er zitterte. Das sollte sie nicht beunruhigen, aber das tat es. „Da...da war...Martha." Er bekam den Namen der Werwölfin kaum über die Lippen. Panik glänzte in seinen Augen. Wie ungerecht, in diesem Zustand konnte sie ihn unmöglich anschreien.

„Martha Kraft?", fragte sie skeptisch.

„Sie...sie war da...und dann... Tommaso und ich waren in den Laboren. Wir haben nur...etwas länger gemacht. Ich wollte doch nur nicht nach Hause gehen! Ich wollte doch nur nicht allein sein! Ich wollte nicht..."

„Jetzt beruhige dich doch mal!" Ariana packte seine Schultern, ließ ihn aber sofort wieder los, als sie bemerkte, wie stark er schwitzte. „Erzähl schon was passiert ist!"

Sie ahnte schlimmes. Jeder in Enrhym wusste, das Martha den Verflossenen ihrer Mutter ganz besonders hasste. Ariana fragte sich ob sie Tommaso vor Kadens Augen zusammengeschlagen hatte, das würde seinen Auftritt erklären.

„Martha sie...sie war..." Er begann fast zu weinen. „Sie war vollkommen...berauscht. Ihr Zahnfleisch hat geblutet. Geblutet!"

Ariana hätte fast gelächelt, wäre Kadens Verzweiflung nicht so schlimm gewesen. Viele Werwölfe überschätzten die erste Dosis Roten Harz und kotzten sich schließlich die Seele aus dem Leib, wenn ihr eigenes Blut ihnen den Magen verklebte.

„Tommaso ist also verletzt?", fragte sie skeptisch.

Kaden starrte sie mit großen Augen an. „Sie...sie hat ihn angegriffen. Sie war...vollkommen... Und dann hab ich sie geschubst. Nur etwas. Ich...ich wollte nicht... Aber dann ist sie..." Er unterbrach sein Stammeln, um einmal über seine rissigen Lippen zu lecken. „Ich glaube ich habe Martha getötet."

Stille legte sich über sie beide. Es gab nur noch sie auf der Welt, sie und die enge Dunkelheit in die sie sich quetschten.

„Was?", fragte Ariana nach einer Ewigkeit. „Das ist doch... Kaden. Findest du das witzig?", fragte sie ungläubig. An seinem Gesicht sah sie jedoch, dass das kein besonders schlechter Streich war. Er war auch nicht die Art von Mensch, die dumme Scherze machte. „Martha ist ein Werwolf. Menschen töten keine Werwölfe. Nicht einfach so, jedenfalls."

„Sie...sie fiel. Und dann...stand sie nicht wieder auf", erklärte er zitternd.

„Sie...ist gefallen...", wiederholte Ariana. „Das ist eine ungewöhnliche Nebenwirkung von Rotem Harz."

Sein Gesicht verhärtete sich plötzlich. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Unvermittelt packte er ihr Handgelenk und versuchte sie mit sich zu ziehen.

Ohne Anstrengung befreite sie sich aus seinem Griff, lief aber weiter neben ihm. Er schien verwirrt. Höchstwahrscheinlich würde sie es bereuen ihm helfen zu wollen, spätestens wenn Martha sich auf ihn stürzen wollte. Zumindest war der Kampf mit einer Wölfin der Stadtwache anspruchsvoller, als der mit einem kleinen, zitternden Jungen.

„Was willst du eigentlich damit?" Sie deutete auf die Stange. Seine Finger umklammerten sie so heftig, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sie sah, dass irgendetwas Dunkelgrünes daran klebte, als sie an einer Straßenlaterne vorbeigingen.

Kaden blickte darauf hinab, als wüsste er gar nicht, was das ist.

„Es hätte blau sein sollen", sagte er dann und ging unbeirrt weiter.

Misstrauisch folgte sie ihm.

Die Akademie von Enrhym war einfach wunderschön. Mehrere, große Häuser aus hellem Sandstein, auf verschiedenen Ebenen, zwischen ihnen wunderschön angelegte Terrassen und Blumenbeete. Auf dem Hauptgebäude thronte sogar eine große, gläserne Kuppel. Ariana kannte sich in einigen der Häuser halbwegs aus. Nicht, dass man sie hier genommen hätte, aber sie hatte mal einen netten, dummen Studenten verführt, nur um in diese Hallen zu kommen – und eine Kaffeemaschine in der Küche des Dekanats zum Explodieren zu bringen. Natürlich aus Versehen.

Heute Abend waren die gepflegten Wege genauso leer wie damals. Hier und da liefen noch einige Studenten und Auszubildende herum, aber die meisten waren schon längst nach Hause oder in die Bars der Stadt verschwunden.

Kaden lief noch immer zitternd neben ihr, die Augen aufgerissen und auf den Boden gerichtet. Beinahe hätte sie Mitleid mit diesem erbärmlichen Häufchen gehabt, aber zumindest einer von ihnen musste stark und gefasst bleiben. Martha Kraft konnte, wie alle Werwölfe, sehr einschüchternd sein, aber Ariana würde das schon mit ihr klären.

Die Behauptung, dass sie tot wäre, konnte die Beschwörerin nur belächeln. Kaden hatte auch einfach vor allem Angst, zusätzlich zu den Schatten unter seinen Augen konnte sie sich denken, woher er seine Wahnvorstellungen hatte.

„Da bist du ja!" Sie hatte den Schatten gesehen, der sich aus einem unbeleuchteten Gehweg genähert hatte. Zum Glück für ihn, sonst hätte er nun zuckend am Boden gelegen. Ihr Begleiter hatte weniger auf seine Umgebung geachtet und fuhr mit einem Aufschrei zusammen. „Kaden. Ich bin es doch." Abschätzig musterte Ariana Tommaso. Die Geschichte wie der alte Mann seine damalige Frau einfach aufgegeben hatte, war eine der verwerflichsten, die sie je gehört hatte, weswegen sie auch absolut im Recht war ihn zu verachten. War ja klar. Aber trotzdem war sie nun hier um zu helfen, also sollte sie sich wohl damit zurückhalten Tommaso ihre Geringschätzung zu zeigen. Andererseits war dafür immer Zeit. „Du bist einfach so weggelaufen. Du musst doch keine Angst haben." Erst jetzt sah der Mann zu ihr und versuchte sie ebenso abschätzig zu mustern, wie sie ihn. Was er nicht schaffte.

„Aber...aber...Martha. Ariana kann uns...helfen", Kadens Zähne klapperten aufeinander, seine Augen glänzten merkwürdig. Die verzweifelte Hoffnung der Verlorenen.

„Sie muss uns nicht helfen!", stellte Tommaso ruhig klar und sah dann zu ihr. „Du kannst gehen."

Ariana zog zweifelnd ihre Augenbrauen zusammen. Wann sie wo hinzugehen hatte, ließ sie sich schon lange nicht mehr sagen. Schon gar nicht von Männern wie ihm.

„Aber...", begann Kaden erneut, jedoch fiel ihm Tommaso ins Wort.

„Es ist alles in Ordnung. Wir haben alles geklärt." Der Alte klang plötzlich so komisch. Sein Blick huschte zur Seite.

„Geklärt?", wiederholte Ariana. Ihre Stimme war so unfassbar laut neben denen der Männer, die nur zitternd flüsterten.

Vernichtend starrte er sie an und tat dann noch einen Schritt auf Kaden zu.

„Komm schon, Junge. Es ist alles wieder gut."

Den roten Würgemalen auf seinem Hals nach zu urteilen, war gar nichts gut. Fragend sah die Beschwörerin in die Richtung, in die Tommaso geblickt hatte.

Zwei hellhäutige Männer standen dort, vielleicht zehn Meter von ihnen entfernt. Erst hielt sie sie für Studenten, dann blickte sie genauer hin. Ein heißes Prickeln fuhr durch ihren Körper.

„Ich..." Kaden sah ebenfalls zu den Werwölfen. „Ja...ich denke...ist schon gut." Er klang nicht überzeugt, aber er wollte es sein. Natürlich. Naive Schwächlinge wollten alles glauben. Die beiden Fremden setzten sich in Bewegung.

„Du kannst gehen", teilte ihr der Alte mit.

Sie mochte seinen Ton nicht. Er packte Kadens Handgelenk. Ihr Blut begann in den Ohren zu rauschen.

Die meisten Menschen kostete es Überwindung sich gegen Fremde zur Wehr zu setzen.

Ihr Arm schoss vor, ihre Finger vergruben sich in der Haut seines Daumens und er zischte schmerzerfüllt, als sie ihn so weit verdrehte, dass er Kaden losließ. Tommaso wich fassungslos von ihr zurück und holte aus. Sie duckte sich unter seinem mies ausgeführten Schwinger, als würde sie den ganzen Tag nichts anderes tun, packte seinen Arm, und drückte seinen Ellbogen herunter. Er schrie auf.

Wie gerne hätte sie jetzt Tommasos Arm gebrochen, aber sie brauchten Zeit, also schleuderte sie den Alten nur gegen die herannahenden Werwölfe.

Die Männer wichen erschrocken zurück. Sie packte Kadens Handgelenk und schrie ihm zu, zu laufen.

„Was?", wimmerte er.

„Los! Weg von den Wachen!"

Ariana war schnell. Schnell und gelenkig genug, um den meisten zu entkommen, aber Kaden war so schwerfällig wie ein nasser Sack. Er bemühte sich Schritt zu halten.

Ihr Herz schlug vor Aufregung. Hinter sich hörte sie bereits Schritte. Sie spürte das Zittern in ihrem Brustkorb, aber für eine elektrische Entladung mussten sie sie einholen und das konnte sie überhaupt nicht gebrauchen.

Ariana zerrte den Chemiker mit sich. Durch Seitenstraßen, dunkle Gassen und schließlich hinaus auf eine der belebten Hauptstraßen.

„Langsam!", wies sie ihn an und zwang sich dazu, zu gehen.

„Was? Wieso?" Kaden keuchte vom Lauf, schien aber mit der Pause nicht einverstanden. Panisch sah er sich nach den Wachen um.

„Hunde jagen nur Katzen, die weglaufen." Nach außen sah sie wohl recht nüchtern aus, wie sie so mit der Masse der Abendspaziergänger schwappte, ein Regentropfen, der in einen Fluss gefallen war, aber innerlich sprühte sie vor Energie. Sie wollte laufen, kämpfen, entkommen. Aber das hier war ganz anders als sonst.

„Sie müssten uns gar nicht jagen, wenn wir nicht weggelaufen wären! Und warum hast du Tommaso geschlagen?"

Die beiden passierte eine Kneipe. Ariana packte seine Schultern und drückte ihn unvermittelt in die winzig kleine Gasse daneben. Ihr Körper zwängte sich gegen seinen, ihre Arme fixierten seinen Oberkörper, ihr Kopf war direkt vor seinem. Er schnappte erschrocken nach Luft und starrte sie mit großen Augen an. Von außen sah es so aus, als wären sie einfach nur ein Pärchen, das in einer dunklen Ecke Küsse tauschte. Die perfekte Tarnung. Andererseits hoffte sie stark, dass ihre körperliche Nähe ihn nicht zu Gefühlen anregte.

„Meinst du Werwolf-Wachen kommen vorbei, weil sie die Akademie so hübsch finden?", zischte Ariana. „Du hast was gemacht. Du hast etwas wirklich Schlimmes gemacht, verstehst du?"

„Was...was schlimmes?" Blanke Verzweiflung trat erneut in sein Gesicht und er sah an ihren beiden Körpern herab zu der Stange in seinen Händen.

Ariana folgte seinem Blick. Na das wurde ja doch noch interessant.




Kadens Schädel war wie leer gefegt gewesen, als Tommaso vor ihm gestanden und gesagt hatte, dass alles wieder gut werden würde. Er hatte ihm geglaubt, weil er ihm immer hatte glauben können, aber nun presste sich Ariana Sol'Artaire unangenehm nah an ihn und sagte diese...Dinge.

„Du sagst die Wahrheit!" Ihr Gesicht hellte sich auf. Irgendwie erinnerte ihn ihre Miene an die von Martha. Kurz bevor sie... Ihm wurde schlecht. „Sie ist tot!"

„Lass mich los!"

Ariana war wirklich so nett von ihm abzulassen und er schnappte panisch nach Luft. Er beugte sich vornüber. Hatte Angst sich zu übergeben. Das schwarze Kopfsteinpflaster war alles was er sah. Er zwang sich ruhiger zu Atmen. Doch die brennenden Bauchschmerzen wichen nicht. Er hatte sie umgebracht. Nein. Sowas tat er nicht. Das war nicht richtig. Umbringen? Das konnte er doch gar nicht.

„Menschen...Menschen töten keine Werwölfe", wiederholte er den Satz, den Ariana vorhin noch gesagt hatte. Vorhin. Als sie noch geglaubt hatte, dass er sie anlog. Oder zumindest, dass er wahnsinnig geworden war. Nun glaubte sie seine Worte. Das war schlecht. Ganz schlecht. Eine Hand legte sich um seinen Oberarm.

„Komm schon. Wir müssen uns bewegen." Arianas Stimme war plötzlich so ruhig. Er nickte und ließ sich von ihr in eine gerade Position und dann die Straße hinabziehen.

„Sie ist gefallen", hörte er sie flüstern. Er blinzelte. Das war alles gar nicht wirklich passiert. Das war ein Alptraum. Weil er so lange nicht mehr geschlafen hatte. Die Rache seines Körpers. „Aber warum? Ich verstehe nicht ganz warum sie jetzt tot ist!" Fragend blickte sie zu der Eisenstange. „Und warum schleppst du das da mit dir rum?"

„Martha...sie ist...sie hat doch selbst... Sie hat meine Probe, mein Projekt heruntergerissen und als sie fiel, fiel sie direkt... ich meine... Das wollte ich doch nicht."

„War da...hast du Silbersalze in deine Tinktur da gegeben?" Wissbegierig funkelten Arianas Augen auf.

Kaden seufzte. Das hatte sie ihn schon mal gefragt. Heute. Nicht wahr? Ja. Ein merkwürdiger Alptraum.

„Nein. Nein ich habe nur... Die Chemiker wollten einen neuen Katalysator probieren. Eine neue Rezeptur für die bessere Ausbeute bei der Klein-Hass-Synthese. Wie du vielleicht weißt ist die...nicht sonderlich vorteilhaft. Obwohl man das wissen sollte, heutzutage."

„Hör auf zu schwafeln, Kaden!"

Da war sie wieder. Nicht die sanfte Ariana, die beruhigend auf panische Kinder einredete, sondern die Ariana, die ihn dafür verachtete, dass er schwach war.

Dabei war das doch ziemlich interessant. Das Syntheseverfahren, das den Stoff bereitstellte, mit denen die Felder fruchtbar gemacht wurden, um den schier unendlichen Hunger einer stetig wachsenden Bevölkerung zu stillen. Nicht mal in seinen Alpträumen konnte er bestimmen, was relevant war und was nicht.

„Ich glaube ich habe einen Fehler gemacht. Es ließen sich keine Wirkstoffe nachweisen. Die reagieren eigentlich zu einer blauen Mischung, aber es blieb alles nur...dunkelgrün."

„Kaden! Silber!", knurrte sie ungeduldig.

„Da ist kein Silber drin!", entgegnete er ebenso genervt. Seine Bauchschmerzen wurden heftiger. Was war, wenn das alles kein Traum war? Wenn das alles die Realität war? Er hatte ein Leben beendet. Einfach so. Das hatte er doch gar nicht gewollt. Martha hatte...sie war...sie wollte... und doch hatte er es getan. Er und nicht sie. Er war ein Mörder.

„Kaden!" Nun klang sie wieder anders. Hoffnungsvoll. Ganz kurz dachte er, sie wäre Emira. Er blickte zu ihr auf. „Kaden, weißt du was das bedeutet? Wenn du wirklich etwas gefunden hast, was alle Menschen nutzen können, was wir alle selbst herstellen können? Silber ist nicht nur teuer, Silber ist das Wertvollste auf der ganzen Welt. Viele Menschen sterben, ohne es jemals gesehen zu haben. Die Werwölfe kontrollieren wie viel davon abgebaut wird. Sie kontrollieren wer Waffen daraus schmieden darf und sie töten erbarmungslos jeden, der unbefugt den Minen zu nahe kommt, jeden, der auch nur Grammzahlen davon besitzt. Sie unterdrücken uns Menschen doch nur so effektiv, weil wir uns nicht wehren können. Nicht ohne Silber. Aber das brauchen wir nun nicht mehr. Wenn Werwölfe wirklich durch das da", sie deutete auf den Stab, voll mit dunkelgrünem Gel, er sollte das Ding wegwerfen, „sterben, dann haben wir endliche einen Weg, um sie zu besiegen! Eine Möglichkeit uns zu befreien! Zurückzuschlagen! Und deswegen wollen sie dich auch haben. Deswegen suchen sie uns jetzt und deswegen dürfen sie uns nicht bekommen. Das hier ist ein Angriff. Ein Angriff auf sie und auf alles was sie sind!"

Kaden blinzelte ihr verständnislos entgegen. So schnell hatte er nicht gedacht, aber alles was sie sagte, ergab Sinn. Die Worte. Nicht die Meinung dahinter. Nein. Er war nicht...er war doch nicht gefährlich. Die Werwölfe sahen in ihm – ausgerechnet in ihm – eine Bedrohung? Nein. Unmöglich. Er konnte keiner Fliege was zu leide tun! Plötzlich war da wieder dieses Bild von Marthas totem Körper und er schluckte.

„Sie wollen...mich haben...", plapperte er ihr nach. Er kam sich vor wie ein dummer Papagei.

„Sie wollen dich töten, ja. Höchstwahrscheinlich. Aber keine Sorge, sie kriegen uns nicht." Ariana sah misstrauisch zu einem Werwolf, der an ihnen vorbei in ein Restaurant ging. Er beachtete sie kaum.

Kaden konnte nur an eines denken. Uns. Sie hatte ‚uns' gesagt. Und ‚töten'.

Sein ganzer Körper wurde erst heiß und dann unangenehm kalt. Töten. Ihn wollte noch nie jemand töten. Nein. Nicht einmal – Martha. Nein. Sie hatte das nur so gesagt. Nein. Jemand der auszog mit einem Haufen Verbündeten nur um ihn zu töten! Das war doch Wahnsinn! Sowas passierte vielleicht Leuten wie Ariana, aber nicht Leuten wie ihm. Nein.

„Niemand wird versuchen mich zu töten!", stellte er klar. Das war alles nur ein großes Missverständnis. Ja. Er hatte den ganzen Ärger doch nur ihretwegen. Wäre er mit Tommaso mitgegangen, hätte sich doch alles aufgeklärt. Was für ein Trottel er doch gewesen war, loszulaufen und sie zu suchen! Unschuldige Menschen, die getötet wurden von Werwölfen? Sowas passierte vielleicht in Craycarasz, einem Sumpf aus Kriminalität und Korruption, in Maryntrin, einer Stadt an der Grenze, aber doch nicht in Enrhym! In seinem Enrhym, dem Grünen Juwel! Hier gab es keine Unterdrückung. Niemand musste Werwölfe töten, weder mit Silber noch mit...sonst irgendwas!

Ariana sah ihn schon wieder so an. Dieser abschätzige Blick, den sie für all jene reserviert hatte, die ihr nie glaubten, die ihre irrwitzigen Theorien und ihre verblendeten Reden, als das enttarnten was sie waren.

Er sollte sich von ihr trennen und zurück zu Tommaso gehen. Ja. Und ihn dann um Vergebung anflehen.

Kaden öffnete seinen Mund. Er holte Luft die Worte zu sagen, die ihm auf der Zunge brannten, plötzlich war völlig klar was er tun würde. Er würde sich stellen. Gestehen. Sich reuig zeigen und dann würde alles wieder gut werden.

Ein Jaulen zerschnitt die Luft. Laut und bestialisch. Ein tierischer Schrei aus menschlicher Kehle. Das Blut gefror ihm in den Adern.

Auf der anderen Seite von Enrhym antwortete jemand in genau der gleichen Art. Dann jemand aus den Unteren Bezirken. Und dann war es überall um sie herum.

Ein grausames Crescendo. Das Todeslied der Werwölfe. Das Heulen der Jagd, ausgerufen von den Wächtern dieser wunderschönen Stadt.

Nein. Sie mussten sich verhört haben. Sie beide. Die Menschen um sie herum zuckten zusammen und sahen zu, dass sie von der Straße kamen. Nein. So etwas galt Schwerverbrechern. Nicht Leuten wie ihm.

„Glaubst du mir jetzt?", fragte Ariana gereizt.

Nein.

Aber das Wort schnürte ihm die Kehle zu.

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