15.1 Kapitel - Unbesiegbar
Auslöserwarnung: Explizite Beschreibung von Verletzungen und Gewaltdarstellung.
Sie hörte nichts. Gar nichts.
Emira hob verwirrt ihren Kopf. Sie konnte kaum sehen, die ganze Welt schien nur aus schwarzen Schlieren zu bestehen und sie wusste nicht wo sie war. Es war warm und unbequem.
Glas- und Holzsplitter schnitten tief in ihre Finger, als sie sich aufrichten wollte und etwas drückte ihren Körper zu Boden.
Verwirrt blinzelte sie den Staub weg. Das Nichts in ihren Ohren wurde zu einem hohen Fiepen und etwas Warmes tropfte auf ihre Wangen. Emira brauchte viel zu lange, um zu verstehen, was sich direkt vor ihr befand.
Sein Gesicht war bleicher als ein Laken, die hellgrünen Augen blicklos aufgerissen. Aus seinem geöffneten Mund tropfte das Blut von seinen Zähnen direkt in ihr Gesicht. Sie lag unter seinem warmen Körper, der sie vor dem größten Übel der Explosion geschützt hatte. Sein einstmals schönes Antlitz war deformiert. Zerstört. Aber sie begriff nicht wirklich warum. Ihr Gehirn wollte es nicht verstehen und die Realität nicht zulassen. Die Realität in Form einer riesigen Metallstange, die ihm quer durch den Schädel gestoßen worden war. Die in seinen einstmals goldenen Haaren eingetaucht und unter seinem linken Ohr wieder ausgetreten war. Sie war breit und hatte genug Kraft gehabt, um den Unterkiefer zu zertrümmern, sowie Teile des Jochbeins zu zerstören und das so schwer, dass sein linker Augapfel abgesunken war. Es sah grotesk aus.
Mit steifen Gliedern robbte Emira rückwärts aus dem Schutz seiner Arme heraus. Sie bemerkte nichts, weder den Schmerz in ihren Eingeweiden, noch die Geräusche um sie herum. Sie wusste nicht einmal, dass sie es tat, als sie ihre Hand hob, um über ihre Wange zu wischen. Der Anblick des Blutes auf ihrer Haut ließ sie erschaudern. Wie verloren starrte sie auf den Alpha, dessen Körper ohne sie zusammensank.
‚Er hat mich gerettet', registrierte schließlich ihr überfordertes Hirn und sie glitt langsam wieder an ihn heran. Sein Rücken war ein einziges, blutiges Schlachtfeld, abgerissene Muskelstränge und Fetzen von Kleidung hingen ineinander verklebt hinab und seine Wirbelsäule war merkwürdig verschoben. Sein rechtes Bein war widernatürlich verdreht und wäre Emira nicht in ihrem Schock gefangen gewesen, hätte sie das Weiß des gesplitterten Oberschenkelknochens gesehen, der die Muskulatur, die Gefäße und dann die Haut durchstoßen hatte, als er gebrochen war.
‚Darian', erinnerte sie sich wieder an seinen Namen. ‚Er hat mich gerettet.'
Wie betäubt starrte sie auf seine Leiche hinab. Ihr Hirn war leer und sie wich zurück, als er sich bewegte.
Nutzlos zuckten seine Arme über den Boden, die bunten Glasscherben klirrten unter seinen Fingern. Emira hockte sich vor ihn. Sie merkte erst, dass sie wie verrückt zitterte, als sie ihre Hand hob. Sie kannte die letzten Bewegungen von Tieren, die Memento an ein einstiges Leben. Bei einem Menschen hatte sie es jedoch noch nie gesehen.
Unsicher legte sie ihm eine Hand auf die zerstörte Schulter. Sie wusste nicht wieso. Vielleicht wollte sie ihn beruhigen, während er starb.
Doch Darian drehte nur seinen Kopf, um sie anzusehen. Heben konnte er ihn nicht mehr. Er lächelte schwach und bewegte dann seine Arme zu der Eisenstange in seinem Schädel.
‚Nicht!' wollte sie sagen. Sie wollte ihn aufhalten und daran erinnern, dass er damit die letzten Sekunden, die er noch zu leben hatte, vergeudete. Doch da hatte er seine Finger bereits an die Metallstange gelegt. Sie war nicht einmal lang, vielleicht ein halber Meter, und er zerrte sie aus seinem Schädel, sodass das Metall an den Knochen schabte, dass sein Gesicht noch mehr zerfiel.
Es war das erste Geräusch, was Emira nicht wie durch Watte hörte. Beinahe hätte sie sich übergeben.
Als er seine Aufgabe erfolgreich bewältigt hatte, brach der Alpha endgültig zusammen, sein Blut ergoss sich in den Strömen seiner letzten verzweifelten Herzschläge auf dem Boden und auf ihrem einstmals grünem Kleid.
Emira erhob sich. Ihr ganzer Körper bebte und orientierungslos sah sie sich um. Sie stand in den Überresten des goldenen Wagons. Er war zur Seite gekippt – oder er hatte sich überschlagen. So genau konnte sie das nicht sagen. Alles war erfüllt mit Rauch und dichtem Holzstaub, der sie kaum weiter als einen Meter sehen ließ. Der Gestank nach Qualm sprach in ihrem Inneren einen ureigenen Instinkt der Flucht an, aber sie schaffte es nur behäbig voran zu trottete. Irgendwie musste sie hier weg, aber sie hatte vergessen wie man einen Zug verließ.
Das Weinen zog sie voran. Sie passierte ein Bücherregal der seinen Inhalt in Form von zerfledderten Papierseiten verloren hatte. Emira sah ihnen beim Flattern zu und ihr Blick fiel auf den kleinen Stoffhund, der daneben lag.
‚Ach ja. Mamas Geschenk.' Die Erinnerung ließ sie vortaumeln. Der Wagon knarzte besorgniserregend und verlagerte sich als sie vortrat, kippte aber auch wieder sofort zurück, als sie ihren Tröster aufgesammelt hatte.
‚Jetzt kann ich nach Hause gehen', überlegte sie und schritt weiter auf das Weinen zu.
Sie sah Alina am Boden liegen. Mit Tränen überströmten Gesicht stemmte sie sich gegen den roten Polstersessel, der auf ihrem rechten Arm gelandet war. Sie wimmerte und kratzte verzweifelt am Stoff, zerstörte damit jedoch nur ihre Handschuhe.
„ich helf' dir" Emiras Stimme klang merkwürdig rau und dünn und die Prinzessin schien sie gar nicht gehört zu haben, da sie unablässig weitermachte, selbst, als Emira sich gegen das schwere Möbelstück stemmte.
Als es sie endlich freigab, jammerte Alina auf vor Schmerz. Emira warf den Sessel um, ihr Stofftier in der Hand half ihr dabei. Der Gedanke erheiterte sie fast.
„nich' bewegen", ordnete sie an, aber es war schon zu spät. Alina hatte sich aufgesetzt und wippte schluchzend am Boden auf und ab. Über ihr Gesicht zog sich eine dunkle Blutspur, aber Emira konnte nicht sehen woher sie kam.
Das Menschenmädchen erschrak, als die Wölfin ihren Arm ausschüttelte, als wäre er einfach nur eingeschlafen und das war die erste richtige Emotion, die sie wieder fühlen konnte.
„dein...dein...Arm!"
Alinas hohes Wimmern erfüllte die triste Szenerie aus Zerstörung. Sie hörte ihr gar nicht zu.
Emira hockte sich neben sie und umarmte sie tröstend. „Ist schon gut." Ihre eigene Stimme klang schon etwas besser und auch ihr Kopf klärte sich allmählich, aber das Zittern wich nicht aus ihren Gliedern. „Tut dir etwas weh?" Alina weinte hilflos weiter. „Hast du Schmerzen?" Sie beruhigte sich langsam wieder, als sie nach ihrer Hand griff. Emira beobachtete sie aufmerksam. Ein weiterer Schauer jagte durch den Körper der Wölfin und erneut krümmte sie sich zusammen und begann lauthals zu Jammern.
Sie sollte ihr wohl nichts von ihrem Bruder erzählt. Emira drückte sie näher an ihre Brust. „Komm Alina. Wir müssen hier weg." Dunkel erinnerte sie sich wieder an so etwas wie Gasexplosionen.
Das Geräusch von Metall, welches über Holz schabte und das laute Knallen eines umstürzenden Regals ließ sie zusammenfahren. Panisch sah sie sich um.
Eine große Kreatur erhob sich aus den Trümmern. Staub und Schutt rieselten aus ihrem Fell und nur mit Mühe kam sie auf die Beine. Sie schüttelte ihren schweren Körper und Blut spritzte auf den Boden und die Wände. Das Monstrum taumelte, als es seinen riesigen Kopf vorstreckte und gehen wollte.
Mit einem bestialischen Schrei stieß es sich ab und verschwand durch die gesprungen Fenster, die nun über ihnen waren.
„Was?", murmelte Emira. Ihre Aufmerksamkeit lenkte sich wieder auf Alina, als diese sich heftig in ihre Haut klammerte und in ihr dunkelgrünes Kleid weinte. „Schon gut. Komm mit!"
Sie musste ihr unter die Arme greifen, um sie auf die Füße zu bekommen und selbst dann weinte Alina leise weiter. Beide Frauen zitterten. Emira packte ihre Hand und zog sie mit sich.
Der Gestank nach brennenden Stoffen, Holz und Gummi trieb sie voran zu einem hellen Schein. Sie mussten über ein zerstörtes Regal klettern, um sich durch ein Loch im ehemaligen Boden nach draußen kämpfen zu können. Das Licht war grell und die Luft war etwas leichter zu atmen, obwohl selbst hier der Gestank von Rauch alles durchwirkte.
Der Boden war zerfurcht und zerstört, smaragdgrünes Gras und schwarze Erde befanden sich direkt nebeneinander und Emira musste aufpassen nicht im Matsch zu versinken.
Wimmernd drehte Alina sich um und sah zum Zug. Sofort begann sie wieder zu schluchzen. Emira wollte es nicht sehen. Wollte sich nicht umwenden, aber sie tat es. Die einstmals prachtvollen, roten Wagons waren verschoben, zerstört, umgefallen oder standen lichterloh in Flammen. Schreie durchschnitten die Luft und trafen tief in Emiras Herz. Kurz war sie wie gelähmt von dem grausigen Anblick der blanken Zerstörung, dann griff sie Alinas Hand fester. Emira zog die Prinzessin weg von den Gleisen und dem brennenden Konvoi. Vor ihren Füßen erstreckte sich der dunkle, dichte Wald, der Enrhym umschloss, voll mit Perytonen und anderen Monstern. Nein, dahin konnten sie nicht. Links neben ihnen waren ebenfalls einige Wagen, zufällig verteilt wie gerade geworfene Würfel, zerstört und umgekippt, aber sie schienen nicht zu brennen.
Unschlüssig sah Emira zwischen dem Dickicht der Wildnis und den zerstörten Überresten der Zivilisation hin und her. Wo sollte sie nur hin? Ob sie zu Fuß bis nach Hause kam?
Alina schrie heiser auf und klammerte sich weinend fester an Emiras Arm, sodass die vom Anblick des Waldes weggerissen wurde.
Ihr Blut gefror ihr in den Adern. Die unnatürliche Art und Weise wie die Kreatur sich bewegte, war abstoßend. Die langen, vorderen Gliedmaßen endeten in spitzen Klauen, die mächtigen Hinterbeine waren gespannt, aber was sie wirklich vor Angst erstarren ließ, waren die zurückgezogenen Lefzen, die entblößten Zähne und der unglaubliche Hass, der in den hellen Augen des Werwolfs glühte. Alina kreischte, als die Bestie sich abstieß und auf sie zu hetzte. Der Geifer schäumte.
Emiras Instinkt schrie ihr zu wegzulaufen. Die Furcht fesselte sie an ihren Körper. Sie konnte nicht entkommen.
Der Werwolf jaulte, als ein Schatten ihn von der Seite rammte und vom Kurs abbrachte. Sie wühlten den Boden auf. Ihr Brüllen ließ ihr Herz rasen. Der zweite Werwolf war etwas kleiner, sein bleigraues Fell riss unter den Klauen seines Gegners, aber er verbiss sich tapfer im Hals seines Widersachers.
„Wirmüssenweg! Wirmüssenweg!" Sie verstand die Prinzessin kaum, folgte ihr jedoch. Emiras Arm brannte, wahrscheinlich hatte Alina bereits so heftig zugedrückt, dass es blutete. „Amalrichkannihnnichtaufhalten!", kreischte sie panisch.
Amalrich – der komische, magere Mann, der Darian begleitet hatte. Emira wäre nun in den Wald geflohen, aber Alina zog sie kopflos zu den umgefallenen Wagen.
„Warte!" Sie rannte weiter. „Alina, warte!" Nicht einmal ihr Name schien sie zu erreichen.
Emira griff vor und drückte sie an der Schulter herunter. Nur ein kurzer Impuls, der sie von ihrem Kurs abbringen würde. Sie wurde langsamer und das Menschenmädchen konnte sich aus ihrem Griff winden.
Um die Wagen herum waren Trümmer verteilt. Metallische Teile, Maschinen, die sie nicht kannte, und sogar ein Waschbecken. Direkt neben der Armatur glänzte das schwarze Metall. Sie kannte es. Die Waffe war schwer und sie fragte sich wie präzise die Revolver der Shinejey wohl waren. Jetzt sollte sie wohl treffen, wenn sie schoss. Und vielleicht sollte sie auch aufhören zu zittern.
Alina kreischte erneut und Emira beeilte sich zu ihr aufzuholen. Das Wüten der kämpfenden Werwölfe befeuerte ihre Schritte. Die Prinzessin verschwand in einem der Wagen. Keuchend sprang sie durch das Loch in der Zugwand. Emiras ganzer Körper brannte wann immer sie einatmete.
Das Innere des Wagons war unheimlich still. Die Explosion hatte hier nicht so schlimm gewütet wie in ihrem, aber trotzdem genug Schaden angerichtet. Der kleine Gang in dem sie sich befand, war eng und schwebender Staub verdunkelte ihn, vor ihr befanden sich die mehr oder minder zerstörten Schiebetüren der ehemaligen Abteile.
Kurz hatte sie Angst die Wölfin verloren zu haben, aber dann hörte sie das Weinen. Unsicher schlich sie durch die merkwürdige Dunkelheit und lugte um eine dünne Trennwand. Verzweifelt trommelte Alina mit ihren Fäusten auf eine verzerrte Eisentür ein, die nicht nachgeben wollte.
Emira sah hinab auf die schwere Waffe in ihrer einen und den schmutzigen, aber weichen Stoffhund in ihrer anderen Hand. Derweil hatte die Prinzessin aufgegeben auf die Reste des Wagens einzuschlagen und war weinend zusammengesunken.
„Alina." Sie trat auf sie zu. „Alina!" Wässrig blaue Augen sahen zu ihr auf. „Du kannst dich doch in einen Werwolf verwandeln! Du kannst uns beschützen!"
Heftig schüttelte sie den Kopf. „Das...das dauert viel zu lange. F...fast zwei Minuten." Sie rieb mit den letzten Resten ihres Handschuhs über die Tränenspuren in ihrem Gesicht.
„Zwei Minuten?", wiederholte Emira ungläubig und versuchte sich daran zu erinnern wie lange Martha Kraft damals in den Arkaden gebraucht hatte.
„Mein Vater empfand es nicht für wichtig, dass ich..." Ihr Satz endete in einem erneuten Weinkrampf.
Sie atmete einmal tief durch und hockte sich vor Alina. „Nicht verlieren", wies sie sie an. Den Hund loszulassen tat Emira fast schon körperlich weh, als die Wölfin ihn dann aber dankbar an ihre Brust presste, fühlte sie sich ein ganz klein wenig besser.
Ihre Finger gehorchten ihr kaum, als sie die Munition überprüfte. Sie hatte weitaus weniger Ahnung von Waffen, als ihre Eltern, aber es musste reichen. Sie hoffte inständig, dass die Shinejey ihre Revolver regelmäßig reinigten.
Ein lautes Klacken ließ sie herumwirbeln. Schritte erklangen im leeren Wagon. Alina japste auf und Emira richtete den Lauf auf den Gang aus dem sie gekommen waren. Ihre Hände zitterten und als sie es unterdrücken wollte, brach ihr der Schweiß aus.
Sie wusste nicht einmal ob sie das konnte. Auf ein lebendes Wesen schießen. Sie hatte bisher nur mit Zielscheiben aus Papier geübt und das nicht einmal regelmäßig. Hinter ihr wimmerte das verlorene Mädchen und das erfüllte sie mit neuem Feuer.
Es war alles gut. Sie musste nur überleben. Dann konnte sie nach Hause gehen. Zu ihrer Familie.
Kontrolliert atmete sie aus, als die Schritte sich näherten. Aus dem Dunst der Dunkelheit trat ein drahtiger Mann hervor. Er blickte mit großen Augen direkt in die Mündung der Waffe und hob sofort die Hände.
Emira war wie festgefroren. Der Schock saß zu tief in ihren Knochen und sie konnte sich einfach nicht bewegen, bis Alina erleichtert aufschrie.
„Meo!"
Der Anführer der Shinejey hielt weiterhin ergeben seine Arme oben. „Ich wäre froh, wenn das nicht zur Gewohnheit wird." Sein bemüht lockerer Ton erinnerte Emira daran, dass sie sich beruhigen konnte. Die Muskelspannung zu lösen tat weh. Als sie ihre Waffe gesenkt hatte, preschte Alina quietschend vor und umarmte den Beschwörer überschwänglich.
Er schien genauso perplex wie Emira, fing sich aber wieder. „Ihr müsst keine Angst mehr haben. Ich werde euch beschützen!" Meo nickte zuversichtlich, obwohl Emira genau sehen konnte wie übel er aussah. Schweiß lief seine Schläfe entlang, er war kurzatmig und seine dunkelblauen Sachen waren nass, dem Gestank nach von Blut.
„Was ist passiert?" Zwar war sie nicht so unendlich erleichtert wie Alina, aber nicht mehr vollkommen auf sich allein gestellt zu sein, beruhigte sie schon. „Ich kann mich an nichts mehr erinnern", gab Emira zerknirscht zu.
Der Anführer bedeutete ihnen ihm zu folgen. „Wir wurden angegriffen. Sie müssen die Schienen vermint haben. Ich hab gedacht wenn wir langsamer sind..." Er verstummte und sah misstrauisch hinaus. Seine erhobene Hand hielt sie erst für die Anweisung anzuhalten, aber er bewegte konzentriert seine Finger. „Ich würde es besser finden, wenn du mir das da geben würdest."
Emira brauchte eine Weile bis ihr klar wurde, dass er mit ihr sprach und dass er die Waffe in ihren Händen meinte. Erst als er ihr den Revolver abnahm, wurde ihr klar, dass seine Worte nicht wie ein Befehl geklungen hatten. Sie hatte ihr Leben in seine Hände gelegt. Einem Mann, der blind dem Alpha folgte. Sie hätte etwas sagen sollen. Jetzt war es zu spät. Ihre leeren Finger machten sie nervös, aber Alina presste weiter ihren Stoffhund an die Brust und sie brachte es nicht zustande ihn zurückzuverlangen.
„Bleibt hinter mir!" Meo sprang trotz seiner Verletzungen leichtfüßig hinab ins Gras. Er steckte die Waffe weg und zog sein Schwert. Angespannt horchte er. Weit entfernt waren immer noch Schreie und das Brüllen des Feuers zu hören, aber...
„Amalrich! Er hat...diesen Wolf...sie waren beide Wölfe!" Emira stolperte über ihre eigene Zunge, aber der Shinejey nickte ihr wissend zu.
Aufmerksam auf jedes Geräusch lauschend gingen sie weiter.
Der laute Knall eines schweren Körpers, der auf dem Boden aufschlug ließ Emira herumwirbeln. Ein großer Wolf kam auf sie zu. Blut tropfte hinab auf die zerfurchte Erde. Er humpelte.
Panisch schrak sie zusammen und wünschte sich Meo nicht nachgegeben zu haben. Ein leises Wimmern verließ ihre Lippen, als ihr klar wurde, dass sie sich nicht verteidigen konnte und hastig wich sie hinter den schmalen Rücken des Beschwörers. Sie war jedoch die einzige, die so panisch war. Alina fing nicht wieder an zu weinen und der Shinejey ließ sogar sein Schwert sinken.
„Das ist Amalrich", erklärte er Emira nachsichtig.
Der Werwolf neigte seinen Kopf und schaffte es dann seinen Fuß wieder aufzusetzen. Er kam noch etwas näher und unfreiwillig fragte Emira sich, ob Meo ihn streicheln würde.
Unvermittelt fletschte die riesige Bestie die Zähne und warf ihren Kopf herum. Alina quietschte auf und Meo hob abwartend sein Schwert höher.
„Sie kommen. Da sind noch mehr! Sie sind...", stotterte die Prinzessin.
„Wer kommt?" Emiras Stimme war ungewollt hoch.
„Ich kann sie riechen! Werwölfe!" Ihrem panischen Ton nach zu urteilen, keine wie Amalrich.
„Aber was..." Die Worte wurden ihr von den Lippen gerissen, als eine heftige Windböe sie zur Seite warf. Gerade rechtzeitig bevor ein gewaltiges Monstrum an der Stelle landete, wo sie eben noch gestanden hatte.
In einer einzigen, fließenden Bewegung war Meo herumgewirbelt und stieß mit seinem Schwert zu.
Unsanft landete Emira auf ihren Füßen. Der markerschütternde Schrei des fremden Werwolfs nahm ihr fast die Balance.
Die Kreatur taumelte zurück. Der Schnitt an ihrem Hals schien nicht einmal tief, Meo hatte wohl mehr Konzentration darauf verwenden müssen sie aus der Bahn zu bekommen, doch trotzdem jammerte der Wolf, als wäre die Verletzung tödlich gewesen.
Ein zweiter Werwolf preschte hinter einem umgestürzten Wagon hervor, direkt auf sie zu. Amalrich stellte sich knurrend vor sie. Ihr Kreischen, als sie sich ineinander verbissen ließ Emiras Ohren klingeln.
Meos Gegner schlug mit seinen langen Klauen nach ihm, doch der Shinejey wich ihnen geschickt aus. Sein Schwert teilte die Haut des Monstrums so leicht, als wäre sie aus Butter.
Alina klammerte sich wimmernd an Emiras Schultern, die nur stocksteif dastand und überfordert zu den keifenden Bestien blickte. Sie wusste nicht was sie tun sollte, wohin sie gehen sollte, ob sie weglaufen sollte.
Der Shinejey tauchte unter den Zähnen des Werwolfes hindurch, hob sein Schwert und versenkte es bis zum Heft im Brustkorb seines Widersachers. Die Kreatur gurgelte heiser und ein gewaltiger Schwall Blut ergoss sich aus ihrer Schnauze, als Meo seine Klinge aus ihrem Körper zog. Mit einem dumpfen Schlag brach sie zusammen.
Amalrich wurde derweil winselnd zu Boden gedrückt. Sein Gegner schnappte nach seiner Kehle und zerfurchte seinen weichen Bauch mit Krallen, länger als Emiras Finger. Das Blut spritzte.
Meo drehte sich erneut. Zischend wie ein silberner Pfeil flog etwas durch die Luft. Mit großen Augen sah Emira zu dem feindlichen Werwolf, der in seiner Bewegung erstarrt war, das Schwert tief in seinem Hals versenkt.
Mit einem heftigen Ruck befreite sich Amalrich von seinem Kontrahenten, der sterbend zu Boden ging.
Meo hob abwartend seine leeren Hände.
„Ist hier noch jemand?", fragte er. Seine Stimme war merkwürdig ruhig.
Alina wimmerte. „Blut. Überall ist Blut", schluchzte sie. Es tränkte den Boden, verfärbte das Gras, mischte sich mit den wenigen Pfützen, des gestrigen Regensturms und durchwirkte die Luft. Der unglaublich widerwärtige Gestank nach Eisen ließ sie würgen. Emira starrte auf Amalrich und seinen zerfetzten Körper.
Blut. Überall.
Er winselte mitleiderregend und bewegte sich langsam.
„Ja. Ganz ruhig." Meo kam zu ihnen. Seine Augen taxierten aufmerksam die zerstörte Umgebung. „Die Luftströme sind gut...", murmelte er, eher zu sich selbst als zu ihnen. „Aber es werden mehr kommen."
Der Werwolf Amalrich wimmerte erneut und Emira sah besorgt zu ihm und dem roten Lebenssaft der unaufhaltsam aus ihm strömte. Er würde sterben.
„Wir müssen ihm helfen." Ihre Stimme war dünn. Alina drückte sich zwar immer noch nervtötend eng an sie und behinderte damit ihre Bewegungen, aber ihre Worte hatte sie wohl nicht verstanden, genau wie Meo. Der Shinejey ging an Amalrich vorbei, zog sein gerade geworfenes Schwert aus dem Kadaver des Werwolfs und wischte die Klinge an dessen Pelz sauber, als würde sein Verbündeter neben ihm nicht gerade seinen Verletzungen erliegen.
„Kommt", sagte der Beschwörer und winkte sie heran. Alina ging unbeirrt weiter, aber Emira verharrte an Ort und Stelle und starrte hinab zum fiependen Werwolf. „Er wird wieder."
Erschrocken blickte sie auf. Meo war zu ihr getreten. In seinem Gesicht mischte sich Angespanntheit und Mitleid.
„Aber...aber...", stotterte Emira. Er griff nach ihrer Schulter und drängte sie sanft vorwärts. Rücksichtsvoll ging er zwischen ihr und Amalrichs Körper. „Aber..."
Sie gingen die kurze Strecke zurück zu den Gleisen. Die brennenden Wagen kamen näher, aber Meo führte sie von dort weg. Besorgt drehte Emira ihren Kopf und sah dann wie der Werwolf sich aufrichtete. Amalrich streckte sich steif. Das Blut lief ihm immer noch aus dem Fell aber seine Wunden schienen verschwunden. Er trottete ihnen hinterher.
Emira erhaschte einen Blick auf die toten Werwölfe. Ihre Wunden waren tief. Sie standen nicht wieder auf.
Meo führte sie zu einem noch stehenden Wagon mit offener Tür. Er sagte ihnen, dass sie keine Angst haben müssten, da die Minen fort wären, hielt dann jedoch inne.
Amalrich stellte sich direkt hinter sie und der Shinejey sprang allein in den Wagon.
Ein lautes Knallen ertönte. Alina verkrallte sich erneut in ihrem Arm. Jaulen und Knurren ließ Emira zurückweichen. Dann war der Tumult vorbei. Meo erschien wieder in der Tür und streckte seine Hand aus, um ihnen hoch zu helfen. Die Prinzessin ging unerschrocken auf ihn zu. Er wollte auch nach Emiras Hand greifen, aber sie wich vor seiner blutbesudelten Gestalt zurück. Er sah grausig aus.
Sie kletterte mit genug Abstand zu ihnen hinauf, eigentlich wollte sie nicht hinsehen, aber ihr Blick fiel direkt auf die Bestie mit dem hellen Fell, die mitten im Wagen lag, die Kehle aufgeschnitten.
Meo sah besorgt zu Emira und zog dann erneut sein Schwert. Sie starrte zu ihm und erst jetzt wurde es ihr klar. Die helle Klinge war aus einem Metall geschmiedet, wertvoller als alles Gold und alle Edelsteine in ganz Lupar. Ein Metall, dessen Abbau streng kontrolliert wurde, dessen vertrieb an normale Menschen verboten war und mit dem nur unter strengen Auflagen gehandelt wurde, wenn überhaupt, und sonst weggeschlossen blieb.
Silber.
Das einzige, was einen Werwolf verletzen, was ihn töten, konnte.
Er führte sie an der toten Bestie vorbei. Amalrich knurrte den Kadaver feindselig an und beinahe hätte Emira ihn zur Ordnung gerufen. Es war nur eine kurze Erinnerung an das Hundetraining. Ein Fragment ihres alten Lebens.
Alina nahm erneut ihre Hand und drückte mit der anderen das Stofftier fester an sich. Es stach direkt in Emiras Herz, als sie sich fragte, ob sie es wohl kaputt machen würde.
Zielsicher führte Meo sie durch den restlichen Zug. Die meisten Wagen waren noch intakt, das Interieur an Ort und Stelle, andere so zerfetzt und zerstört, dass sie nur langsam vorankamen.
Ihre Nerven waren so gespannt, dass Emira sich nicht einmal traute laut zu atmen, geschweige denn die Fragen zu stellen, die auf ihrer Zunge brannten.
Sie schlichen durch ein intaktes Abteil. Die Stühle waren nicht so edel und schick wie die, die der Alpha besessen hatte, die Tische einfach. Meo hatte seine linke Hand immer noch erhoben und bewegte konzentriert seine Finger. Der stechende Ausdruck, der plötzlich in seinem Blick erschien, gefiel Emira gar nicht.
„Schneller!", wies er sie an und beeilte sich zum Ende des Wagons zu kommen. Sie zerrte die Prinzessin hinter sich her. Alina war viel zu langsam. Ein heftiger Ruck riss sie beide von den Füßen.
Emiras Rippen schmerzten. Steif drückte sie sich hoch von der Tischplatte, die sich in ihren Brustkorb gebohrt hatte. Ihre Hände rutschten aus, als ein erneuter Ruck durch den Wagen ging und ihn beinahe umwarf. Das widerliche Geräusch von Krallen die über Stahl gezogen wurden, ließ sie zusammenfahren. Ängstlich blickte sie auf.
„Bleibt hinter mir!" Meo zerrte sie mit sich. Neben ihnen brachen die Fenster in einem Regen aus Glasscherben. Lange, fellige Arme drückten sich zu ihnen hinein. Das Bellen und Keifen jagte Emira die Angst tief in die Knochen. Meo hob seine linke Hand. Der Windstoß war heftig. Holz und Metall trafen krachend auf sie und winselnd zogen die Bestien sich zurück.
Der Shinejey warf sich an die metallene Tür und zerrte sie auf. Emira und Alina rannten japsend an ihm vorbei. Amalrich schnappte noch einmal nach den anderen Werwölfen, aber das bekamen sie schon nicht mehr mit. Auch im nächsten Wagon, zerstört und verbogen, schnappten spitze Schnauzen und Klauen nach ihnen.
Der Wagen verdunkelte sich von den Körpern, die sich gegen ihn pressten. Meo schlug mit seinem Silberschwert nach den Angreifern, traf sie jedoch nicht. Heißer Schmerz zuckte durch Emiras Körper, als einige Krallen es schafften ihr Bein aufzureißen. Sie schrie auf und sprang zur Seite. Sie musste hier raus.
Durch die zerstörten Fensterscheiben drückte sich der Kopf eines Werwolfes.
Sie musste hier ganz dringend raus.
Alles war nur noch Panik. Der Gestank nach Blut und wildem Tier nahm ihr den Atem. Das Chaos war überwältigend.
Licht.
Ein schummriger Strahl an weißem Licht.
Emira rannte darauf zu, die Menschen folgten ihr.
Sie stürzte durch das winzige Fenster, der Boden war nicht gnädig zu ihr. Ihr Handgelenk schmerzte, aber sie richtete sich auf, um Meo und Alina Platz zu machen.
Die Luft war zum Schneiden dick, der Himmel schwarz vor Rauchwolken, der Boden aufgewühlt und zerfurcht. Das laute Schreien der Werwölfe, ließ sie herumwirbeln. Sie schlugen noch immer auf den Wagen ein. Der Shinejey rannte voran, in der Ferne konnte Emira andere Menschen ausmachen. Rettung.
Das Heulen in ihrem Rücken ging ihr durch Mark und Bein. Sie kannte den Laut. Bestien auf der Jagd. Sie wollte sich nicht umdrehen, aber bildete sich ein heißen Atem in ihrem Nacken zu spüren. Emira quietschte auf, bereitete sich darauf vor zu Boden gerissen zu werden.
Der starke Windstoß warf sie beinahe von den Füßen, aber sie rannte unbeirrt weiter. Panisch sah sie sich um. Hinter ihr waren keine Werwölfe, aber drei Monster lagen in den Trümmern des Zuges, zwei von ihnen aufgespießt von offen liegenden Metallgerüsten.
Mit tränenden Augen sah sie wieder gerade aus, gerade rechtzeitig um das nächste Biest zu sehen. Meo hob energisch seine Hand und beförderte den Wolf hoch in die Luft. Mit einem überraschten Jaulen drehte er sich um seine eigene Achse, schlug wild mit seinen Klauen um sich und kam mit einem dumpfen Schlag wieder auf dem Boden auf. Das Silberschwert tötete ihn bevor er überhaupt den Versuch wagen konnte, aufzustehen.
Emira sollte angewidert von der ganzen unnötigen Gewalt sein, verschreckt von der Selbstverständlichkeit wie dieser Mann einen Werwolf nach dem anderen tötete ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Kreaturen, die sich in echte Menschen verwandeln konnten, die sprechen und fühlen konnten wie sie. Aber sie war schockiert. Alles war nur noch die Taubheit des Geschehens und darunter war die blanke Dankbarkeit dafür, dass jemand da war, der sie beschützte.
Das ziehende Gefühl von Gefahr ließ sie herumwirbeln. Fünf der Bestien hatten sie eingekreist und stürmten auf sie zu.
Meo drückte sie hinter sich. Er atmete schwer, Schweiß ließ sein kurzes Haar bereits an seiner Stirn kleben. Ihr Magen wurde zu einem kalten, harten Klumpen, als ihr klar wurde, dass Beschwörer nicht über unendlich viele Reserven verfügten, dass sie müde wurden und bei exzessivem Gebrauch ihrer Kräfte sogar Gefahr liefen zu sterben, und dass Meo das alles nicht mehr lange durchhalten konnte.
Er hob seine Hände. Drei der Wölfe vergruben ihre Klauen tief im Boden, aber der Matsch konnte sie nicht halten und sie wurden in einem gewaltigen Tornado nach oben geschleudert. Winselnd krachten sie ineinander, rissen sich mit ihren Klauen den Pelz auf und brachen sich gegenseitig die Knochen mit ihren schweren Körpern.
Als Meo sich den anderen beiden zuwenden wollte, keuchte er. Er zögerte, nur ganz kurz. Emira meinte Schmerz in seinen Augen aufblitzen zu sehen, als er versuchte seinen linken Arm höher zu ziehen, dann war der Moment vorbei und sie sah die Erkenntnis in seinem Gesicht, noch bevor ihr Verstand es zulassen wollte.
Er würde es nicht schaffen.
Die Wölfe würden sie erwischen.
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