13.2 Kapitel - Die Kriegserklärung
Ihre Schwester stürzte in ihr Zimmer als sie gerade unschlüssig vor ihrem fast leeren Koffer stand. Emira sah erschrocken auf, in ihrer Hand hielt sie eines ihrer liebsten Kuscheltiere. Sie sollte es mitnehmen, aber sie konnte es einfach nicht über sich bringen. Anziehsachen dort hinein zu räumen war emotionslos gewesen, aber ihren Stoffhund wollte sie nicht loslassen.
„Was machst du denn?", fragte Ariana fassungslos, als sie den ärmlichen Haufen Kleider sah.
„Was?", murmelte Emira und wich dann überrumpelt zurück, als ihre Schwester den Schrank aufriss, einen Armvoll Sachen herauszog und in den Koffer warf.
Die plötzliche Charakteränderung der Beschwörerin hätte sie eigentlich nicht erschüttern sollen. Doch nun begann sie zu zittern. Ihr Körper fühlte sich schwach an und sie schmeckte das Salz auf ihrer Zunge noch bevor sie etwas dagegen tun konnte.
Sie wollte nicht weinen. Aber sie konnte nicht mehr.
Ariana wirbelte herum, packte ihre Schultern und schüttelte sie.
„He! He! Sieh mich an!" Zitternd blickte sie zu ihrer Schwester, auf in die Augen, die ihren so ähnlich waren. „Du nimmst jetzt deine Sachen und dann gehst du zum Unteren Lyndrylbezirk! Hör mir zu, ja? Du darfst jetzt nicht weinen! Du bist stark! Du musst zum Ende der Straße der Brunnen gehen! Da steht ein leeres Lagerhaus. Such einen Mann namens Renato! Er kennt mich. Er wird dir helfen und dich verstecken!"
Vollkommen überrumpelt von diesen Informationen starrte sie ihre Schwester an.
„Wie...wie soll ich denn..."
„Du gehst runter in den zweiten Stock und drückst dich durch das kleine Fenster! Du passt da durch, ich tu es auch! Du kommst aufs Dach, spring von da auf die Markise – sie hält dich!"
„Ich..."
Sie zuckten zusammen, als die Tür erneut aufgerissen wurde. Wie früher, wenn sie bei etwas Verbotenem ertappt wurden, duckten sich die Schwestern unter dem Blick ihrer Mutter. Emiras Herz rutschte in ihren Magen. Beatrice würde auf gar keinen Fall diesen Blödsinn gutheißen und sie hatte Angst, dass Ariana für ihre tollkühne Idee Ärger bekommen würde. Ihre Mutter blickte auf den Koffer.
„Warum ist denn noch nichts gepackt! Hast du ihr von deinem Freund erzählt?", fragte sie.
„Ja doch!"
„Emira, Kind!" Beatrice packte noch einen Stapel Sachen aus dem Schrank, warf ihn in den Koffer und verschloss ihn hastig. „Geh zu diesem Renato, nimm den Weg von dem Ariana denkt, dass ich ihn nicht kenne! Wir kommen dann nach."
„Aber...", murmelte sie verwirrt. „Papa..." Sie dachte daran wie Jannis, der Wolfsgurtträger, wütend über ihrer aller Ungehorsam sein würde.
„Der lenkt gerade diesen kranken Köter und seine Freunde ab!", knurrte ihre Mama. Das sie plötzlich genauso böse wie Ariana klang, ließ sie begreifen. Ihr wurde kalt, eine Gänsehaut zog sich über ihre Beine, ihre Arme hinauf zu ihrem Kopf, als ihr klar wurde, wie sehr sie sie alle liebten. Sie würden alles aufgeben, ihre Existenz, ihr Leben – alles – nur für sie. Emira blickte zu ihrem Koffer und vergrub ihre Finger tiefer in ihrem Plüschtier. Das konnte sie nicht zulassen.
„Das...geht nicht." Sie hätte niemals geahnt wie schwer es sein würde diese drei Wörter zu sagen.
Die beiden starrten sie verwirrt an.
„Klar geht..."
„Nein!" Emira stellte sich endlich wieder gerade hin. Sie war wieder da, wach und anwesend. „Sie werden uns jagen, sie werden uns finden – wir können...nirgendwohin."
Die Nachtzinnen im äußersten Norden und die Wüste Noriestas im Süden bildeten unüberwindbare Barrikaden. Das Sturmmeer im Osten hatte bis zum heutigen Tage kaum einen der abenteuerlustigen Menschen, die sich zu weit hinausgewagt hatten, lebend wieder ausgespuckt, und die, die es geschafft hatten, waren nicht mehr dieselben gewesen. Land hatte keiner von ihnen gefunden. Im Westen zogen sich die Kururi Vertex, ein weiteres, riesiges Gebirge, von Norden bis Süden, dahinter ebenfalls nur noch Wasser und im Verdorbenen Ozean wollte man noch weniger sterben, als im Sturmmeer.
Alles dazwischen war der Kontinent, der von den Werwölfen und Menschen ‚Lupar' genannt wurde und den sich die Alphas in zehn Staaten aufgeteilt hatten. Sie konnten nicht weg von hier. Die Gefährtin eines hochrangigen Werwolfes würde man suchen, sie wären nicht einmal in einem anderen Land sicher, alle würden sie verfolgen.
„Darüber denken wir später nach!", sagte Beatrice, nahm den Koffer und drückte ihn ihrer Tochter in die Hand.
Emira sah hinab auf den kalten Griff und dann wieder auf zu ihrer Mutter. „Ihr könntet sterben."
Der Gedanke spülte die grausigen Bilder ihrer verdrängt geglaubten Alpträume wieder in ihr Bewusstsein und sie musste an sich halten um nicht vor Angst zu erstarren.
Beatrice packte wütend ihre Schultern. „Das ist doch egal!" Fassungslos sah sie die Frau an, die panisch plötzlich ganz anders war, als die die sie kannte.
Arianas Haare sprühten vor Elektrizität. „Wir lassen nicht zu, dass du mit diesem furchtbaren Arschloch mitgehst! Der Kerl ist doch irre! Was er mit Stella vorhatte! Was macht er dann erst..."
‚Mit euch?' Der Gedanke war so schnell in ihrem Kopf, dass sie zusammenzuckte. „Nein!", sagte sie bestimmt, griff nach ihrem Koffer und packte den weichen Plüschhund fester. „Nein, das werde ich nicht zulassen. Ihr begebt euch nicht für mich in Lebensgefahr!" Ariana holte Luft für eine Erwiderung, aber Emira unterbrach sie. „Nein! Das geht nicht! Ich werde mit ihm gehen. Das wird schon..."
„Wird schon?!", wiederholte ihre Schwester schockiert.
Angestrengt presste sie ihre Augenlider zusammen. Sie hatte Kopfschmerzen. „Ich werde gehen und ich werde mich dieser ganzen Sache stellen! Ihr bringt euch nicht für mich in Gefahr das...das würde ich nicht verkraften."
„Emira...", murmelte ihre Mutter.
„Ich laufe nicht weg. Ich lasse nicht zu, dass ihr wegen mir verletzt werdet."
„Emira..." Verzweifelt hob Ariana ihre Arme.
„Ich werde hinuntergehen und ich werde mit dem Alpha mitgehen. Nach Craycarasz. Und...ich bin ja auch nicht weg. Wir können uns ja noch schreiben..."
„Emira...", flüsterte ihre Schwester jetzt kleinlaut.
„Und sicher kann ich euch auch mal besuchen..." Sie musste innehalten, weil ihre Stimme zu zittern begonnen hatte. Sie krallte ihre Finger tiefer in ihren Stoffhund. „Bitte mach das jetzt nicht." Emira wusste ganz genau, dass sie sich kontrollieren konnte, dass sie stark und gerade hier stehen konnte, ohne eine weitere Träne zu vergießen, wäre da nicht Ariana gewesen, die leidend und geschlagen in sich zusammengesunken war. Sie sah aus wie ein gequältes Tier, dass plötzlich verstand, dass alles Kämpfen nichts bringen würde. Dass alles vorbei war.
„Aber Emira... Das kannst du doch nicht machen", wimmerte sie, ihre Augen glänzten wässrig. Unvermittelt überwand die Beschwörerin die Distanz zwischen ihnen und zog ihre kleine Schwester an sich. Emira schloss sie fest in ihre Arme und drückte sie gegen ihre Brust, um ihr schmerzendes Herz zu beruhigen. Ihre Mutter weinte ebenfalls, als sie sie beide umarmte.
Emiras Tränen durchtränkten Arianas furchtbares Hemd, dass so verziert war wie die Uniform der Shinejey. Elektrizität kribbelte über ihren Rücken, als ihre große Schwester sie noch enger an sich zog.
„Aber Emira...", wisperte Ariana verzweifelt.
„Aber Ariana..."
Jannis sah sie mit großen Augen an, als sie wieder in das Wohnzimmer trat und blickte dann zu seiner Frau und seiner anderen Tochter, sichtlich verwirrt darüber, dass Emira noch hier war. Der Alpha fixierte mit verächtlicher Miene abwechselnd den Wolfsfellgürtel ihres Vaters und Kaden, der sich hinter dem Zimmermann in Sicherheit gebracht hatte, und blickte dann in freudiger Erwartung auf.
Anstatt jedoch sofort zu ihm zu gehen, stellte Emira ihren Koffer ab und umarmte noch einmal fest ihren Papa. Sie fühlte seine Anspannung und Verwirrung unter ihrer Haut. Am liebsten würde sie ihm sagen, dass sie das alles für sie tat. Das sie wusste was sie machte und es willentlich in Kauf nahm, wenn sie dafür nur in Sicherheit waren. Aber all das konnte sie nicht sagen.
Das tiefe, drohende Knurren ließ selbst ihren Brustkorb vibrieren. Tief atmete sie durch und drehte sich dann zum Alpha. Sie war so frustriert durch ihre aufgezwungene Hilflosigkeit, dass sie die Worte zum Zurechtweisen bereits auf den Lippen hatte. Wäre er ein Hund, hätte sie etwas gesagt, aber im letzten Moment konnte sie sich zurückhalten.
Der Werwolf sah sie mit hochgezogener Augenbraue an und taxierte skeptisch ihren Körper. „Was ist los mit dir? Du bist plötzlich so anders?", knurrte er fragend.
Emira beugte sich hinab und nahm wieder ihren Koffer auf. Er war schwer und sie hatte keine Ahnung was sie nun eigentlich alles mitgenommen hatte und was nicht.
Der Alpha kam zu ihr und nahm ihr ihr Gepäck ab. Sie war überrascht von seiner netten Geste, doch da drehte er sich schon um und warf das Ding einmal durch den Raum direkt auf Meo. Mit einem überraschten ‚Uff' fing er ihn auf und konnte sich gerade noch so abfangen, um nicht nach hinten umzufallen.
„Gehen wir!", befahl der Werwolf und verkrallte seine Finger tief in Emiras Arm.
Sein magerer Gefolgsmann verbeugte sich erneut vor den versammelten Menschen. „Familie Sol'Artaire!"
„Minatore", warf Jannis ein, wie um noch irgendetwas zu sagen, um sie noch so lange wie möglich aufzuhalten. „Nicht Sol'Artaire. Ich bin..."
Der Alpha knurrte verächtlich.
„Familie Sol'Artaire und Minatore! Wir danken für Ihre Gastfreundschaft. Der Alpha von Esparias beehrte Sie gerne mit seiner Anwesenheit."
Ariana und Jannis starrten ihn vernichtend an, während Kaden nervös zwischen den beiden Fraktionen hin und her sah. Während des Intermezzos war Beatrice zu ihrer Kommode getreten, ohne dass Emira es bemerkt hatte. Meo betrachtete sie aufmerksam, doch da hatte sie sich schon von ihm abgewandt und war wieder zu ihrer Tochter getreten.
Emira sah ihr fragend entgegen. Sie war bereit für noch eine Umarmung, alles um nur nicht von hier zu verschwinden, doch ihre Mama lächelte sie nur an und gab ihr ihren Stoffhund wieder zurück. Sie atmete zitternd aus.
Der alte Werwolf verbeugte sich erneut und wartete dann darauf, dass sein Alpha voran ging. Doch dieser stand noch immer nur still da und starrte fragend Emira an. „Irgendetwas ist anders an dir. Deine Augen...dieser Ausdruck." Seine dunkle Stimme schlug an etwas in ihr an, unbeirrt hielt sie seinem Blick stand.
Er lächelte sie überlegen an, packte sie etwas fester und zerrte sie hinter sich her zur Tür. Sie konnte sich nicht wehren. Sie würde einfach mit ihm mitgehen. Sie würde das schaffen. Ja. Ganz sicher.
Unvermittelt sprang Ariana ihnen in den Weg und er hielt überrascht an. Sie stand direkt vor ihm, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Mit funkelnden Augen sah sie zu dem größeren Mann auf.
Hinter ihnen versteiften sich die anderen, aber niemand griff ein. Arianas Gesichtszüge verhärteten sich, aber Emira sah, dass sie sich zurückhalten würde.
„Wenn du", knurrte sie warnend, aber mit eindeutiger Verzweiflung in der Stimme, „meiner kleinen Schwester weh tust, dann werde ich dich finden. Und dann werde ich dir weh tun!"
Er erwiderte ihren Blick mit einem gehässigen Grinsen, wiegte überlegend seinen Kopf hin und her und Emira betete, dass er ihre Worte nicht als Drohung sah, sondern als fehlgeleiteter Versuch sie zu beschützen.
Doch anstatt es ihr zu versprechen oder gar sie verächtlich lächelnd zu ignorieren, beugte er sich noch weiter zu ihr und schrumpfte so die Distanz zwischen ihnen auf ein Minimum. „Das will ich sehen." Unvermittelt zuckte der Kopf des Alphas, ein lautes Knacken ertönte und kurz darauf hallte Arianas schmerzerfüllter Schrei durch das Haus. Sie stürzte zurück und fiel gegen die Türzarge. Emira japste erschrocken auf und wollte zu ihr eilen, doch der Werwolf hielt sie fest. Verächtlich sah er hinab zu der Beschwörerin, die sich unter den Schmerzen seiner Kopfnuss krümmte. „Pass auf mit wem du dich anlegst!"
„Ari!" Sie zerrte so sehr an seinem Griff, dass ihr Arm schmerzte, doch der Wolf zog sie einfach weiter.
Hinaus aus dem vertrauten Haus indem sie geboren wurde, hinein in eine gefährliche Welt, die ihr vollkommen fremd war.
Und in der sie ganz allein war.
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