11. Kapitel - Beschwichtigungen
Auslöserwarnung: Beschreibung von Gewalt und Tod
Die Stadt brannte.
Asche regnete in schwarzen Kaskaden um sie. An seinen Rändern war der Himmel flammendrot.
Sie stand am Rand des abfallenden Weges, beugte sich über das Geländer und starrte auf die Lachen von Blut unter ihr.
„Sie werden sterben!"
Die Körper die dort lagen. Sie kannte sie. Sie kannte sie alle.
Leere, grüne Augen starrten zu ihr auf, die dunklen Haare verklebt, ihr Mund leicht geöffnet, als hätte sie geschrien bevor sie starb. Blut verfärbte Arianas Bauch und das Kopfsteinpflaster unter ihr.
Neben ihr lagen ihre Mama und ihr Papa, die Kehlen aufgeschlitzt, die Augen starr und leblos.
„Sie werden alle sterben!"
Das Mädchen wollte sich abwenden. Sie wollte sich umdrehen und fliehen, aber sie konnte sich nicht rühren. Festgefroren in ihrer Furcht, verblasste plötzlich das Bild vor ihren Augen und Adelar ragte vor ihr auf. Böse und bedrohlich sah er auf sie hinab.
Sie war nichts angesichts seines Hasses. Sie war nichts angesichts seiner Kraft. Sie war nichts.
Der Schrei zuckte durch ihren Geist und plötzlich war sie frei. Sie drehte sich um, rannte davon. Angst pulsierte durch ihre Adern und Schweiß benetzte ihre Haut, als sie Stellas Kreischen folgte.
Plötzlich stand Kaden vor ihr, seine Arme ausgebreitet und ein Lächeln auf seinen Lippen. Sie überkam ein Gefühl der Sicherheit, der Vertrautheit und blindlinks rannte sie auf ihn zu. Die Asche nahm ihr die Sicht, sie rutschte auf dem Blut. Aber das war nicht wahr.
Erleichtert warf sie sich an ihn, schlang ihre Arme um seinen Körper und wich dann voll Grauen zurück.
Kadens Körper war grotesk verzerrt durch den Pfahl, der sich durch ihn hindurchbohrte und an seinem Hals, direkt neben seinem Kopf, wieder hervortrat.
„Und du kannst nichts dagegen tun."
Sie war wie gelähmt als sie wach wurde. Ihre Augen starrten in die alles verschlingende Dunkelheit und sie hatte Angst. Angst, dass das die Realität war. Das sie gefunden wurde, wenn sie auch nur zu laut atmete.
Ihr Herz schlug schnell und heftig in ihrer Brust. Sie hatte das Gefühl angestarrt zu werden, das Gefühl verfolgt zu werden. Beute zu sein.
Der Druck auf ihrer Brust nahm ihr die Luft, sie konnte nicht spüren wie sie atmete. Als sie sich bewegen wollte, gehorchten ihr ihre Muskeln nicht und blieben schlaff. Panik überkam sie.
‚Es ist alles gut', sagte sie sich dann. ‚Es ist alles gut.' Mit aller Kraft dachte sie daran wie es wäre ihre Finger und Zehen zu bewegen. Eine ganz normale Geste. Als ihr Zeigefinger sich endlich beugte, hatte sie die Paralyse gebrochen.
Emira richtete sich auf, sah in die Finsternis. Ihr Kopf dröhnte. Neben ihr tickte die Uhr, laut und penetrant. Sie warf nicht einmal einen Blick auf das Ziffernblatt. Leises Tippeln an ihrem Fenster klang wie Klauen, die gegen Glas schlugen und nährte ihre Furcht. Sie konnte hier nicht bleiben. Hastig sprang sie auf, sammelte ihre Hose vom Boden und ein Oberteil von einem Stuhl. Auf der Treppe war sie bereits angezogen. Die Schlafzimmer der anderen passierte sie leise, schlich die Treppe hinab, umging die verräterisch knarzenden Stufen und dann stand sie in der Dunkelheit der Stadt.
Regen prasselte auf sie herab und kühlte ihr heißes Gesicht, als sie sich aufmachte durch die gespenstisch leere Stadt. Goldenes Licht blutete von den Straßenlaternen hinab und verlor sich in Schlieren auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Wie spät es wohl war?
Leise wie ein Geist verließ sie ihr vertrautes Viertel.
Überall um sie herum erklang das leise Trippeln von winzigen Tropfen und das Gurgeln von Wasser, das in den Abwasserkanälen versank. Ein paar Werwolf-Wachen liefen vor ihr, bogen jedoch ab und verschwanden ohne ihr Probleme zu machen.
Ängstlich sah sie sich immer wieder um, versuchte in den Schatten hinter den Lichtkegeln irgendetwas Bedrohliches zu erkennen, aber da war nichts, nur das verlorene Gluckern des Regens, das sie nicht beruhigen konnte.
Dann bog sie ab, weg vom Licht, hinein in den dunklen Gang eines kleinen Hinterhofes. Sie wusste welchen Knopf sie drücken musste, auch ohne fähig zu sein, die Namen zu lesen. Die Klingel schrillte durchs Haus. Sie hörte sie sogar hier draußen und schuldbewusst hoffte sie, dass sie niemanden geweckt hatte, der nicht geweckt werden wollte.
Ihr Kopf sank an das Holz der Tür, schwer atmete sie aus und versuchte auf Schritte zu lauschen. Erst jetzt verebbte das Adrenalin. Ihr Herzschlag beruhigte und ihr Kopf klärte sich. Das war doch dumm. Sie sollte nicht vollkommen allein bei Nacht hier draußen sein. Das war doch gefährlich. Aber nun war es zu spät. Der Regen hatte bereits ihre Kleider durchweicht und sie fröstelte.
Es wäre klüger umzukehren und nach Hause zu gehen.
Ein Poltern ließ sie aufblicken. Schritte näherten sich und die schwere Haustür wurde geöffnet. Der Flur war mit kaltem Licht erhellt, das Kadens braune Haut gräulich schimmern ließ. Er blinzelte müde und verwirrt in die nasse Nacht.
„Emira?", raunte er. „Was machst du denn hier?"
Seine dunklen Augen schimmerten mitleidig und das war alles was sie brauchte. Sie drückte sich an seine Brust, krallte ihre Finger in sein Nachthemd, durchweichte es mit ihren nassen Haaren und den Tränen, die ihre Wange hinabliefen.
„Oh Kaden. Ich hatte wieder diesen Alptraum. Sie waren alle tot. Alle waren tot."
Kaden fing sie auf, hielt sie fest und streichelte ihr beruhigend über den Rücken.
„Shhht shht. Ganz ruhig. Komm, wir gehen rein!" Er zog sie mit sich, den kahlen Flur entlang zu seiner Tür. Schnell hatte er sein Zuhause aufgeschlossen und Emira taumelte in die winzige Wohnung. Ein einfaches Zimmer mit Küche und Bett, ein winziger, angrenzender Raum mit Toilette daneben. Die Duschen waren auf dem Flur, zur Verfügung aller Hausbewohner. Die Einrichtung war karg, aber es war sauber. Im Schein einer schwachen Lampe konnte sie die vergilbten Bilder von Naturlandschaften erkennen. Alles was man zum Überleben brauchte, auf das Minimum zusammengestaucht.
Das einzige Fenster im Raum war geöffnet und die dunklen Vorhänge blähten sich im kühlen Wind der Nacht. Emira schlich durch den Raum und ließ sich dann auf die durchgelegene Matratze seines Bettes sinken. Sie schmiegte sich eng an ihn, als er endlich bei ihr saß.
„Emira. Emira ganz ruhig." Seine Stimme war sanft, aber sie konnte sich nicht beruhigen. Sie ließ los. All ihre Barrikaden und ihre Gefühle und weinte all ihre Sorgen und ihre Angst in sein graues Nachthemd.
„Shhht", murmelte er leise, immer und immer wieder, während er ihre Haare streichelte.
„Es ist schlimm. Es wird...immer schlimmer. Jede Nacht. Ich bin so müde."
Er zog sie näher an sich, verstärkte den Druck um ihren Körper. „Es wird alles wieder gut", versprach er leise und sie wollte ihm so gerne glauben.
„Nein. Nein." Sie wollte das nicht sagen. Wollte nicht so weinerlich und verzweifelt klingen, aber es ging nicht. „Es ist alles so schlimm. Ariana will weggehen. Sie will Enrhym verlassen, sich der Schwarzen Asche anschließen. Das kann sie nicht machen. Das kann sie doch nicht machen, Kaden! Sie wird sterben! Weiß sie das denn nicht?"
„Shhhht."
„In meinen Träumen sterben sie. Sie sterben alle. Ihr alle. Du auch. Du stirbst auch. Ich will das nicht. Ich will das alles nicht."
„Emira. Es wird alles wieder gut. Heute ist der Tag der Parade. Wir bleiben einfach hier und warten bis es vorbei ist. Und morgen – morgen bei dieser Zeremonie wirst du einfach ganz...ganz ruhig bleiben. Es wird dir nichts Schlimmes passieren. Ich weiß es."
„Ich kann nicht...ich bin doch so nicht. Ich...reiße mich doch sonst zusammen und..."
„Es ist gut. Es ist alles gut. Hier bist du sicher."
Sie entspannte sich in seinen Armen, vergrub ihr Gesicht tiefer in seiner Brust und weinte leise in sein Oberteil.
„Ich bin einfach gegangen. Einfach weg. Mama und Papa werden sich Sorgen machen, wenn sie aufwachen und ich nicht mehr da bin." Der Gedanke war plötzlich unglaublich wichtig und verzweifelt weinte sie weiter.
Kaden entwirrte vorsichtig ihr nasses Haar. „Es ist doch alles gut. Wir gehen bei Sonnenaufgang zu dir nach Hause und reden mit ihnen, ja?"
Es war schwer zu Atem zu kommen. Der Geschmack ihrer Tränen lag auf ihrer Zunge.
Sie wollte nicht nach Hause gehen. Es war jetzt zwei Tage her, seitdem Nadine vor ihren Augen geschlagen wurde und ihre Mutter strahlte jeher eine nervöse, schuldbewusste Aura aus, die so gar nicht zu ihr passen wollte. Emira wusste nicht mehr wie sie sich gegenüber ihrer Mutter oder ihrer Freundin verhalten sollte, also tat sie meist so als wäre alles in Ordnung und die beiden machten mit.
Das war wahrscheinlich das Schlimmste an der ganzen Situation.
Sie überlegte ob sie es Kaden erzählen sollte, aber sie wusste nicht wie sie diese Gedanken in Worte fassen sollte oder ob sie überhaupt verständlich reden konnte, wenn sie die ganze Zeit weinte.
„Du bist ganz nass", sagte Kaden dann sanft. „Du solltest dich umziehen."
Sie nickte müde und stand dann auf. Ihr Freund gab ihr Handtücher und eines seiner hellen Oberteile.
Ihre nassen Sachen hing sie über den einsamen Stuhl neben der Küchennische, ehe sie in seine Kleidung schlüpfte und sich zitternd in sein Bett legte. Ihr Blut rauschte ihr immer noch unglaublich laut in den Ohren, ihre Zähne klapperten und ihr ganzer Körper bebte vor Ruhelosigkeit, Angst und Kälte. Beherrscht atmete sie langsam ein und wieder aus, versuchte ihre Sinne von ihrem rastlosen Geist zu trennen und auf die Laute der Stille zu achten. Sie lauschte auf das Geräusch des Regens, auf das Geräusch eines Fensters, das geschlossen wurde, und auf das leise Geräusch eines Knipsens, dass das Licht versiegen ließ. Schritte näherten sich dem Bett und Kaden legte sich zu ihr. Sein Körper war so beruhigend warm, dass sich ihre steifen Muskeln sofort entspannten. Er verschränkte seine Finger mit ihren und zog sie näher an sich.
„Es wird alles wieder gut. Ich bin ja da", wisperte er in die Dunkelheit.
Befreit atmete Emira aus, drehte sich dann in seinen Armen herum und berührte sein Gesicht direkt über ihrem.
„Ich weiß. Und ich danke dir dafür", flüsterte sie. Ihr Gesicht näherte sich seinem und sie konnte seinen schnellen Atem auf ihrer Haut spüren. Seine Lippen waren warm und vertraut, als sie ihn küsste. Sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust und schlief endlich ein.
Sacht schaukelte das Interieur des Wagons im Gleichtakt mit dem Rütteln des Zuges. Ihr Sekt schwappte hin und her, die kleinen Goldflocken darin wirbelte immer wieder auf. Alles hier schien aus dem Edelmetall gemacht: die Lampen die über ihr baumelten, der weiche Stuhl auf dem sie saß, selbst das Besteck mit dem sie ihr Frühstück zu sich genommen hatte.
Der Zug war hochmodern ausgestattet und über alle Maße dekadent eingerichtet, nur das Beste für den Herrscher über das Land Esparias, der jedoch nur in einem der rot gepolsterten Sessel hinter ihr saß und finster grübelnd vor sich hinstarrte. Sein dunkelblondes Haar war modisch kurz geschnitten und er spielte mit seinen Muskeln.
Sie bestaunte noch einige Sekunden lang die idyllischen Berglandschaften hinter ihrem Fenster, ehe sie sich ihm zuwandte.
„Ach Darian. Jetzt guck doch nicht so. Freust du dich nicht? Heute kommen wir endlich in Enrhym an."
Er knurrte nur unzufrieden. Sie stand auf, ihre langen, blonden Haare fielen ihr nachlässig ins Gesicht, als sie vom kleinen Tischchen zu ihm herübertänzelte, sie würden später noch zurechtgemacht werden müssen. Ihre bleichen Hände legten sich auf seine muskulösen Schultern, verborgen unter edlem, aber lockerem Stoff.
„Ach Darian. Enrhym soll wunderschön sein. Die Kathedrale, die Bars, der Markt."
„Ich kann mir vorstellen, dass du den Markt sehen willst." Seine tiefe Stimme klang immer noch genervt, aber sie konnte das kurze aufflackern von Belustigung in seinem Gesicht sehen.
Sie kicherte und tänzelte dann wieder weg von ihm. Der weiche Teppich unter ihren Füßen fühlte sich wunderbar an. Sie nahm ihr Sektglas und nippte an dem eiskalten, prickelnden Inhalt.
„Durch das ganze Land muss ich fahren, nur für diese dreckige Stadt." Wütend bleckte er seine Zähne, seine Augen wütend auf die Landschaft fixiert, die an ihm vorbeizog. Schnell stellte sie ihr Glas zurück und hob beruhigend ihre Hände.
„Aber Darian", gurrte sie, während sie langsam auf ihn zuging, „Enrhym ist..."
„Eine Schande!" Seine Wut ließ sie zurückweichen. „Verdammter Drecksfleck in den Bergen!
Die Werwölfe dort sind alles Schwächlinge, verwöhnte Tölen die sich bei Auseinandersetzungen lieber auf den Rücken werfen und ihren weichen Bauch präsentieren! Die verdammten Okkura sind nutzlos und damit auch die Kathedrale höchstens Zierde! Und das Schlimmste sind die Menschen, die machen was sie wollen. Sitzen im Rat, diktieren die Regeln, tanzen mir auf der Nase herum! Schulpflicht. Arbeitsversicherungen. Invalidenrente. Was bilden sie sich nur ein? Denken sie wären etwas Besseres, als der Rest des Landes. Warum? Warum muss ich ans andere von Esparias fahren, anstatt in den Städten nahe der Hauptstadt zu suchen?"
„Aber, aber nein...Darian...", sie sah ihm aufmunternd entgegen. „Enrhym war...schon immer...selbstständiger. Aber das ist doch... Ich meine wir tun doch ihnen einen Gefallen. Wir weihen die neue Strecke zwischen Craycarasz und Enrhym mit dem modernsten Zug ein, den es im ganzen Land gibt. Davon können die Menschen nur träumen." Das eiserne Ungetüm, mehr als dreimal so groß wie sie selbst, war ein respekteinflößender Anblick gewesen, als sie es damals in Craycarasz das erste Mal gesehen hatte. Die rote Lokomotive, die neueste ihrer Art, beschleunigte die Wagons auf beinahe achtzig Kilometer in der Stunde und es war wunderschön anzusehen wie sie den weißen Dampf aus ihrem Schlot pustete. Die Zurschaustellung purster Kraft. Egal für wie fortschrittlich sich Enrhym auch in seinen Beziehungen zwischen Werwölfen und Menschen hielt, was auch immer sie für soziale Experimente sie in ihrem Rat durchwinkten oder was auch immer ihre Chemiker in den Akademien zusammenmischten, mit dem technischen Fortschritt der Hauptstadt konnten sie nicht mithalten. „Viele der Einwohner dort lieben dich, weil..."
Er knurrte wild und Wut verzerrte sein sonst so hübsches Gesicht.
„Sie sollen mich nicht lieben! Sie sollen mich fürchten!" Seine Augen brannten vor Zorn, er sprang auf die Füße, riss seine Arme hoch und zerschmetterte mit einem Schlag den kleinen Tisch, auf dem ihr Sektglas stand. Erschrocken sprang sie zurück bis an die wackelnde Zugwand, die bleichen Hände vor ihrem Mund zusammengeschlagen, um ihr ängstliches Keuchen in ihrer Kehle zu halten. Die kalte Flüssigkeit sickerte sofort in den weichen Teppich, nun gesprenkelt mit goldenen Flecken. „Unser Vater hat sie verweichlichen lassen, hat ihnen Rechte und Unabhängigkeit gegeben! Vielleicht sollte ich sie ja gar nicht mit meiner Anwesenheit beehren, vielleicht sollte ich ihre ganze Stadt bis auf den letzten Stein einreißen!" Darian blickte zu ihr, der Ausdruck in seinen Augen war noch immer wild, es war ihnen beiden klar, dass er sie ebenso schnell zerbrechen könnte. Beherrscht atmete der Alpha aus, ehe ein versöhnliches Lächeln auf seine Lippen schlich. „Oh Alina. Verzeih mir." Langsam ging er zu ihr. „Aber du weißt ja wie ich bin." Sie schluckte gegen die plötzliche Trockenheit in ihrer Kehle. Ja, sie wusste wie er war. „Ich will nur so schnell wie möglich wieder weg von dort."
Die Tür zu ihrem Wagon wurde hastig aufgezogen und zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, stürzten hinein, beide gekleidet in die dunkelblaue Uniform der Shinejey, verziert mit goldenen Emblemen, die sich um die in ihre Ärmel und Schultern eingelassenen Steine schlangen.
Die Augen des Mannes suchten aufmerksam jeden Winkel nach Gefahr ab und blieben dann am zerborstenen Tisch hängen. „Alpha. Gibt es ein Problem?" Er war ein drahtiger Kerl mit einem schon beinahe lächerlich ordinären Gesicht, so als wäre all seine Außergewöhnlichkeit in seine Fähigkeiten geflossen, auf dass nichts mehr für sein Aussehen übrig geblieben war. Das Schwert an seiner Hüfte steckte noch immer in der Scheide und er hatte es auch nicht für nötig befunden, seinen Revolver zu ziehen. Alina konnte sich denken warum.
Der Alpha verdrehte enerviert die Augen. „Nein, Meo."
Der Mann sah nicht zu Darian, sondern zu dessen Schwester. Als Alina bemerkte wie eng sie noch immer an die Zugwand gedrückt war, löste sie sich sofort und nickte dem Menschen mit einem beruhigenden Lächeln zu. Die besorgte Falte zwischen seinen Augen wich nicht, doch er seufzte zustimmend, seine Kameradin machte bereits Anstalten, sich in den angrenzenden Wagon zurückzuziehen.
„Warum braucht ihr eigentlich so lange, um nach uns zu sehen? Ich kenne Werwölfe, die noch nie Herz gefressen haben, sich aber schneller verwandeln, als dass ihr bei Tumult hier auftaucht!"
Meo stellte sich etwas gerader hin und sah ihm direkt in die Augen. „Wir haben uns beeilt, mein Alpha."
Darian schnalzte nur missbilligend mit seiner Zunge, seine Augen verengt. „Ach wirklich? Und wie willst du uns bitte gegen einen potenziellen Angreifer verteidigen? Ohne Waffen?"
Beschämt dieser Situation beiwohnen zu müssen, verschränkte Alina ihre Arme vor der Brust und sah zu Boden. Sie hatte einmal gesehen wie Meo beim Training ganz allein drei Männer besiegt hatte. Er hatte dabei nicht einmal sein Schwert ziehen müssen. Trotzdem traute sie sich nicht direkt in das Gespräch einzugreifen.
Meo sah hinab zu den Überresten des Tisches und dann wieder auf zum Werwolf. Er hatte sich sicher denken können, dass es nur ein Möbelstück gewesen war, das zu Bruch gegangen war. Wie schon so oft. „Seid unbesorgt, mein Alpha. Mit und ohne Waffen werde ich Euch bis zu meinem letzten Atemzug beschützen, so wie ich es einst geschworen habe."
Nun verzog sich Darians Gesicht wirklich und er sah kaum mehr menschlich aus, als er seine Oberlippe zurückzog. „Du hast es meinem Vater geschworen!", blaffte er.
Unerschüttert sah der Beschwörer dem jungen Mann entgegen. „Ich diene dem wahren Alpha Esparias. So wie alle Anführer vor mir."
„Ach ja? Denkst du das? Das ich es nicht bin?!"
Meo runzelte fragend die Stirn.
Alina trat zu ihrem Bruder. „Ach Darian. Wir brauchen einen neuen Tisch."
Der Alpha knurrte, nickte dann jedoch zustimmend seiner Schwester zu. „Du hast natürlich Recht Alina." Mit brennendem Blick starrte er den Beschwörer nieder. „Räum das auf und besorge uns einen neuen Tisch!"
Über Meos sonst so unbewegten Züge huschte der Ausdruck der Verwirrung, ehe er es schaffte ihn zu verbergen. „Jawohl mein Alpha. Ich werde sofort einige Diener..."
„Nein." Der Alpha lächelte. „Du machst das."
Alina schluckte. Ihr Bruder liebte es den Anführer der Begabten vorzuführen und ihm sinnlose Aufgaben zu erteilen. Normalerweise machte Meo alles, was man ihm auftrug, doch heute funkelten seine Augen auf und um seinen Mund zuckte es, als wolle er ihn in Verachtung verziehen.
Alina sprang vor. „Aber Darian, Meo ist doch..."
„Meo", unterbrach er sie barsch, „macht das jetzt!"
Der Beschwörer nickte, plötzlich wieder vollkommen unbewegt. „Sehr wohl." Er hob seine Hand, auf einen Fingerzeig hin rollten sich die Trümmer des Tisches in einer gebündelten Kugel aus wirbelnden Luftströmen zusammen und mit einer weiteren Handbewegung hatte er sie hinter sich gezogen, in den Wagon der Magiebegabten. „Ich kümmere mich sofort darum, dass Ihr einen neuen Tisch bekommt, mein Alpha."
Die Augen des Werwolfs glühten vor Hass. „Du solltest..."
„Meo!", rief Alina schnell dazwischen. „Sieh nur Darian! Meo ist so begabt mit seinen Fähigkeiten, er kann den ganzen Wagon innerhalb eines Herzschlages reinigen, ohne ein Staubkörnchen zurückzulassen. Einfach unglaublich! In Enrhym wird er uns sicher wunderbar beschützen können, aber er sollte sich vielleicht bis dahin noch etwas ausruhen. Seine Kräfte schonen. Schließlich sind sie endlich. Nicht so wie unsere, nicht wahr?"
Darian verengte seine Augen zu schlitzen. „Ja. Ja, natürlich."
Meo neigte ergeben seinen Kopf. „Dann werde ich mich nun zurückziehen und meine Kräfte schonen."
Mit klopfendem Herzen sah sie dabei zu wie der Mensch die Schiebetür hinter sich zuzog und stieß dann erleichtert den Atem aus, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihn angehalten hatte.
„Verdammte Luftratte", knurrte Darian und drehte sich dann wieder zu seiner Schwester.
„Aber Darian. Die Shinejey beschützen den Alpha und dessen Familie. Schon seit es die..." Weiter kam sie nicht.
„'Dem Alpha! Dem wahren Alpha Esparias!' Hast du seine Miene gesehen, als er das gesagt hat? Würde mich nicht wundern, wenn er einer der ersten wäre, die mich verraten. Er ist ein Mensch. Abschaum."
Hilflos sanken ihre Schultern herab und sie suchte nach den richtigen Worten, um ihren Bruder zu beschwichtigen. Angst vor Verrat hatte er schon eine ganze Weile, doch im Gegensatz zu den Bediensteten konnte er die Begabten nicht einfach so entlassen. Empfehlen würde sie es ihm auch nicht, Meo war wahrscheinlich einer der letzten, die noch hinter dem Alpha stehen würden, wenn Esparias unterging.
„Warum sollte Meo dich denn verraten? Er ist einer der treuesten Begabten, die es je gab. Er ist sicher nicht unser Feind. Du", sie stockte kurz, ehe sie zu den metallenen Sprachröhren an der Zugwand sprang, „bist nur so angespannt, wegen der langen Fahrt. Ich ordere uns etwas Sekt, ja?"
Bevor sie die Klappe heben und etwas zu trinken bestellen konnte, lag Darians Hand schon auf ihrer.
„Ich will keinen Sekt. Ich will zurück nach Craycarasz. Während ich durch die Weltgeschichte fahre, werden diese verdammten Terroristen und die Omega immer stärker!" Er wandte sich von ihr ab, starrte wieder grübelnd zu Boden. „Würde mich nicht wundern, wenn sie alle aus diesem verfluchten Enrhym kommen."
„Nein, nein. Eine kleine Auszeit tut dir gut, Darian. Dich nicht mit diesem furchtbaren Thema herumschlagen, etwas Abstand gewinnen, etwas feiern. Und...sie finden."
Sein Körper versteifte sich. „Ein Werwolf-Mädchen. Das ist alles was ich brauche."
Sie wollte ihm sagen, dass seine Gefährtin auch ein Mensch sein könnte, aber als sie vorging und ihn an der Schulter berührte, meinte sie nur: „Du wirst sie ganz sicher finden. Und dann wird alles gut werden."
Es musste alles gut werden. Mit seiner Seelenverwandten an der Seite wäre ihr Bruder unschlagbar, die Schwarze Asche und die Omega würden sich zerschlagen und Esparias wäre endlich wieder sicher.
Die Schiebetür zu ihrem Wagon wurde erneut geräuschvoll aufgezogen und beide blickten auf. Der ältere Werwolf, der eintrat, verbeugte sich vor den Geschwistern. Seine graumelierten Haare waren sorgsam zurückgegelt, sein Schnauzer verlieh ihm ein ernstes Aussehen, wenn es nicht schon der dunkle Gehrock um seinen mageren Körper tat.
„In wenigen Minuten erreichen wir unser Ziel", verkündete Amalrich demütig. „Die Hauptstadt von Gedoth, das grüne Juwel, Enrhym."
Alina kicherte und musste an sich halten, um ihm nicht zu applaudieren. Amalrich schaffte es immer wieder jeder noch so kleiner Begebenheit einen dramatischen Ton zu verpassen. Und das wahrscheinlich nicht einmal absichtlich.
Darian nickte grimmig. „Sehr gut. Meine Schwester wünscht sich ein paar neue Kleider."
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