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Schon nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichen wir Ost-Lizha. Es ist eine kleine Holzhütte und sieht mehr wie ein Bauernhaus als ein Ekrasitenunterschlupf aus. Ich habe ein ungutes Gefühl als Shila die Tür öffnet. Unsere ganze Gruppe atmet auf, als wir niemanden im inneren sehen. Die Sonne geht auch schon unter und viel weiter hätte es keiner von uns geschafft, selbst Shila nicht, auch wenn sie das niemals zugeben würde. Mein Hals ist furchtbar trocken und mein Magen fühlt sich genauso an wie diese Hütte: verlassen.

Die Hütte sieht auch von innen ziemlich trostlos aus. Ein runder Tisch steht in der Mitte und Schränke an den Wänden, es gibt ein paar kleine Fenster. Es gibt einen groben Holzboden aus dem gleichen Material wie die Wände. Eine kleine Treppe führt zu einem zweiten Stockwerk, Shila ist gerade auf dem Weg dorthin. Als sie oben verschwunden ist, höre ich sie rufen: „Hier ist auch keiner!"

Max zieht aus einem der Schränke eine dünne Matratze und legt sie auf dem Boden, Arlon legt sich darauf. Er ist sichtlich erschöpft. Shila kommt wieder heruntergelaufen und fragt: „Wo sind die Vorräte?" Ben hat zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich war noch nie in diesem Unterschlupf speziell. „Da drin!", sagt da plötzlich Arlon und zeigt auf einen Schrank. Er war im Gegensatz zu Ben schon mal hier, das merkt man. Ich nehme mir vor, mich später darüber zu wundern. Shila versorgt Arlon mit ein paar Verbänden und verdonnert ihn nach unserem Abendessen – Dosensuppe – zu absoluter Ruhe. Ihre rechte Hand ziert nun auch ein Verband.

Im oberen Zimmer steht ein großes Feldbett, das zu den dünnen Matratzen wahrer Luxus ist. Eigentlich hätte ich es am besten gefunden, wenn Arlon hier schläft, aber das wollte er partout nicht. Er kann es anscheinend wirklich nicht haben, wenn er Hilfe bekommen muss. Die Jungs schlafen also auf dünnen Matratzen unten, während ich und Shila uns das Feldbett teilen. Die Tür haben wir mit ein paar Stühlen verbarrikadiert, nur zur Sicherheit. Eigentlich gab es so vieles, was ich Shila fragen wollte, aber als mein Kopf das Kissen berührt, überkommt mich eine unfassbare Müdigkeit und ich bin fast sofort eingeschlafen.

Als ich am nächsten Tag erwache, höre ich lachende Stimmen von unten. Ich drehe mich auf dem doch sehr harten Bett herum und entdecke, dass Shila schon aufgestanden ist. Also setze ich mich auf und sofort spüre ich einen Schmerz, ähnlich nervig wie Muskelkater. Ich muss wohl falsch gelegen habe. Seufzend stehe ich auf und will gar nicht daran denken, wie meine Haare aussehen mögen. Ich trage immer noch die Kleider aus dem Hauptquartier, auch wenn sie jetzt etwas zerknittert sind. Als ich zur Treppe gehe, knarren die Holzdielen unter meinen nackten Füßen. Meine Schuhe stehen neben der Treppe, in ihnen stecken meine Socken. Ich rümpfe die Nase, als ich die Socken überstreife, der Schweiß der gestrigen Wanderung klebt noch an ihnen. Ich schnüre meine Schuhe zu und gehe nach unten.

Als ich sehe, dass Arlon bei den anderen sitzt, wird mein Körper mit Glück erfüllt und ich nehme mir vor, mich später darüber zu wundern. Ich bemühe mich die ganze Zeit, nichts zu berühren, um meinen Fluck in Zaum zu halten, obwohl ich nicht glaube das in dieser Hütte emotionale Erinnerungen lagern. Nach unserem sehr ausgewogenen Frühstück – Dosensuppe – gehe ich aus der Tür und betrachte erstmals die wunderschöne Landschaft um uns herum. Gestern, als wir verzweifelt hier ankamen, war mein Geist erfüllt von Sorge und Angst. Jetzt, als ich die frische Luft einatme und die kleine Hütte in mitten von einer grünen Graslandschaft betrachte, die paar großen Fichten um uns herum, mit grüneren Nadeln als ich es je in der Hauptstadt bei den gezüchteten Bäumchen im Schlossgarten gesehen habe, jetzt weiß ich, wonach ich mich all die Jahre in unserer Villa und später im Palast gesehnt habe.

Freiheit.

Freiheit das zu tun, wonach auch immer es mir beliebt. Ich saß immer nur herum, redete mir ein kleiner Spaziergang zu den Stallungen wäre Freiheit. Ich habe mich die ganze Zeit geirrt. In diesem Moment des Glücks überkommt mich auf einmal eine erdrückende Traurigkeit, ich wünsche mir nichts mehr als Finn hier bei mir zu haben. Finn war mein einziger Freund im Palast, sogar in den dunkelsten Stunden als die Ekrasiten Norlin getötet hatten und mein Tod nur noch eine Frage der Zeit war, sogar dann stand er mir dabei. Finn war wie ein kleiner Bruder für mich und doch konnte ich ihn nicht beschützen, wie große Schwestern es tun. Eine einzelne Träne rollt über meine Wange, mehr lasse ich nicht zu, wische mir mit meinem dreckbesudelten Ärmel übers Gesicht.

Plötzlich tritt Max neben mich. Ich blicke ihn an und hoffe, dass meine Augen nicht rot sind, denn das sind sie immer, wenn ich geweint habe. Aber es war ja nur eine einzige Träne. „Schön hier.", sagt der Junge neben mir nüchtern, als ob er keinen Blick mehr für die wirkliche Schönheit der Welt übrighätte. „Finde ich auch.", antworte ich, einfach um etwas zu sagen. Dann frage ich, was mir schon seit unserer ersten Begegnung auf dem Herzen liegt: „Wie alt bist du eigentlich?"

Okay, die Frage ist wirklich dumm, aber ich bin wirklich gut im dummen Fragen stellen.

„Fünfzehn. Wieso? Wie alt sehe ich denn aus?", antwortet er in der gleichen, nüchternen Stimme und blickt weiter starr nach vorne zum Horizont. Irgendwie macht mich dieses Gestarre nervös, also sage ich: „Ähm, keine Ahnung deine Augen, sie sehen älter aus." Nun ist das erste Mal unserer Unterhaltung, dass er mich anblickt. „Das ist irgendwie cool.", sagt er und klingt zum ersten Mal wie ein Teenager. Streng genommen bin ich mit meinen 18 Jahren auch noch ein Teenager, doch fühle ich mich erwachsen. Vielleicht geht es ihm ja genauso.

„Wie war es so im Palast?", fragt er mich. Irgendwie fühle ich mich dumm und verhätschelt, wenn ich über mein Leben im Palast nachdenke. „Bequem, aber langweilig.", antworte ich. Max starrt wieder nach vorne, als er sagt: „Naja, mein Leben war dann genau das Gegenteil. Nicht gerade bequem aber schon ziemlich abenteuerlich." Er grinst in die Ferne und ich sehe das Kind in ihm.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also schweige ich. Der seltsame Junge sagt in die Stille hinein: „Ich weiß es übrigens." Was weiß er denn bitte? Ich bin verwirrt also antworte ich: „Hä?"

„Ich weiß...", er macht eine dramatische Pause, „Von dem Fluch."

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