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Während ich bei dem Trog stehe und nicht wirklich weiß, was ich mit mir anfangen soll, starre ich durch das Fenster ins Innere des Ekrasitenunterschlupfes und bin verwundert, als ich Shila und Ben zusammen am Tisch sitzen sehe. Hielt Shila nicht gestern noch überhaupt nichts von Ben, nannte sie ihn nicht einen Ekrasiten? Okay, er war vielleicht ein Ekrasit aber das ist vorbei! Gestern machte ich mir noch Gedanken über mögliche Wege, Arlon und Shila zu überzeugen, doch heute scheint zumindest Shila ihren Hass vergessen zu haben. Und Arlon tut das vielleicht auch bald, schließlich hält er wohl etwas von meiner Freundin. Irgendwie verspüre ich dabei einen Stich in der Magengegend, ich weiß nicht wieso. Was stört mich denn an Shilas und Arlons gutem Verhältnis? Ich mag Arlon ja nicht mal, wieso stört es mich dann, wenn er Zeit mit Shila verbringt?

Genau in diesem Moment schweift ihr Blick zu meinem Fenster und sie erblickt mich, ihr Gesichtsausdruck friert auf ihrem Gesicht fest. Schnell mache ich einen Sprung aus ihrem Blickfeld, mein Gesicht wird heiß und wahrscheinlich bin ich rot wie eine Tomate. Warum bin ich so gruselig, es ist ganz sicher keine gute Idee, Menschen mit einem abwesenden Blick durch Fenster zu beobachten. Ich stütze mich auf dem Trog ab.

Plötzlich erschlägt mich die Erinnerung wie ein Blitz. Ein Paar, es streitet. Beide sind Ekrasiten, doch sie streiten wie jeder andere auch. Die junge Frau schreit ihrem Geliebten Worte entgegen, ich spüre die erdrückende Trauer, sie presst mich zu Boden, es ist als ob mein sensibles Herz in Milliarden kleiner Scherben zerspringt. Ich sehe die komplette Szene wie durch Nebel, einen Schleier. Alle Geräusche sind Gedämpft. Ich will mich verkriechen, ich will nur noch weg, ich will weg von dieser Traurigkeit, es zerstört mich. Als die Frau weinend davon rennt stützt der Mann sich auf den Trog wie ich gerade, doch meine Bewegung kommt mir wie die eines anderen vor, als ob ich nie existierte. Gerade als ich denke, gleich erdrückt zu werden, ist es vorbei.

Ich sitze auf dem Boden, Schweiß rinnt von meiner Stirn. Ein großer Schwall von Luft entrinnt meinen Lungen, ich habe gar nicht bemerkt, dass ich die Luft anhielt. Ich versuche meinen Atem zu regulieren, ich war unkonzentriert. Die ganze Zeit bemühe ich mich, nichts zu berühren und dann stütze ich mich auf einen Trog. Einen verdammten Trog! Wer hat denn emotionale Erinnerungen, die mit einem Trog verknüpft sind? Klar, Schmuckstücke, Fotoalben, Kleider, altes Spielzeug, alles Dinge, die typisch für Erinnerungen, aber ein Trog?

Nachdem ich mich etwas beruhigt habe fällt mir auf, dass ich mich nie an diese Attacken gewöhnt habe. Ich habe mich daran gewöhnt, zu vermeiden, Dinge zu berühren, doch an die Attacke selbst, nein.

Nach dieser Attacke bemühe ich mich noch mehr, nichts zu berühren. Manchmal spüre ich Max Blick auf mir, aber ich traue mich nicht, ihn nach seiner Schwester zu fragen. Zu oft habe ich Menschen mit dummen Fragen verletzt. Im Ekrasitenunterschlupf bleiben wir noch eine Woche, die Vorräte reichten für weit mehr als drei Tage, doch irgendwann hatten wir den Zwieback satt. Arlons Verletzungen sind auf den zweiten Blick nicht so schlimm gewesen, was mich wirklich freut.

Mit genug Vorräten - Zwieback - und fünf der dünnen Matratzen im Gepäck machen wir uns auf den Weg Richtung Regane. Ich habe mir eine Karte von

Cresidia angesehen, die ich in einem der Schränke in Ost-Lizha fand. Die Wanderung ist wirklich anstrengend und Arlon beschwert sich laufend über meine Unsportlichkeit, wieso muss er eigentlich immer meckern? Außerdem besteht er darauf trotz des verstauchten Fußes alleine zu laufen, ich war ja schon mit gesunden Beinen völlig am Ende.

Nach einem Tagesmarsch kommen wir in Regane an, die Stadt ist kleiner als ich dachte, eigentlich kann man es nicht als Stadt bezeichnen. Fischerdorf trifft es eher. Es gibt viele kleine Holzhäuschen mit Strohdächern und vom Meeresarm, der direkt daneben liegt, klingen die Stimmen der Fischer. Es ist schon später Nachmittag und ich sitze mit Ben auf zwei Fässern im Zentrum des Dorfes. Um diesen kleinen Dorfplatz stehen eine Kapelle aus ungleichmäßigen Steinblöcken, eine rustikal wirkende Gaststätte mit dem treffenden Namen „Zur Forelle", ein Einkaufsladen und ein paar etwas luxuriösere Steinhäuser, die wohl der Oberschicht von Regane von Regane gehören. Immer wieder laufen Fischer, Frauen und Kinder vorbei. Die Luft riecht nach Fisch, aber nicht nach der guten, gekochten Sorte.

Ich rutsche auf meinem Fass hin und her und starre geradeaus, ich bemühe mich nicht zu Ben zu schauen. Ich weiß nicht, wie ich mit ihm umgehen soll, deshalb meide ich ihn einfach so gut es geht. Wenn ich so darüber nachdenke, kann ich nur hoffen, dass ich seine Gefühle dadurch nicht verletzt habe. Ich schiele zu Ben auf dem Fass neben mir und mein Herz macht einen Satz, als ich merke, dass seine Augen auf mich gerichtet sind. Wie vom Blitz getroffen schießt mein Blick wieder nach vorne in Richtung Arlon und Shila, die sich über irgendetwas stritten. Diesen Anblick finde ich auch nicht besonders anregend also wandert mein Blick über den Dorfplatz, auf der Suche nach etwas, das ich beobachten kann. Jetzt bloß nicht rot werden! Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, stieg mir die Hitze in die Wangen.

„Alles klar?", kommt es plötzlich von rechts. Mein Kopf schießt nach rechts, so schnell, dass mein Nacken von einem stechenden Schmerz heimgesucht wird. Während ich meinen Nacken massiere, stammele ich: „Ja...alles in Ordnung." Nach ein paar Sekunden, füge ich hinzu: „Und bei dir?" Ich schaue auf meine Schnürschuhe. Das braune Leder ist vorne schon abgewetzt. „Ja, auch.", antwortet Ben, dann folgt ein peinliches Schweigen. „Hey Leute!", sagt plötzlich Max, der auf einmal vor uns steht. Ich habe keinen blassen Schimmer, wo er er herkam, oder wie er es schaffte, so leise zu sein, um uns dann zu überraschen. Aber wenigstens gibt es jetzt kein Schweigen. „Meine Königin", sagt er und blickt in meine Augen, als er eine geschwungene Verbeugung macht. „Ähm, das mit dem Verbeugen und so, das ist wirklich nicht nötig...", stottere ich. „Ich weiß.", haucht er, während er sich verschwörerisch zu mir herüber beugt. Dann geht er zwei Schritte zurück und schaut theatralisch zwischen mir und Ben hin und her. „Ihr beide braucht ganz dringend einen Eisbrecher.", stellt er fest. „Du", setzt er an und deutet auf Ben, „Denkst, du stehst tief in ihrer", er deutet auf mich, „Schuld. Und du", wieder eine Geste in meine Richtung, „kommst damit sowas von nicht da." Kurz schweigen alle. „Vielleicht sollte Seraphina sich in Lebensgefahr begeben, damit Ben sie retten muss.", fügt er wie beiläufig hinzu und zuckt mit den Schultern.

Genau in diesem Moment stürmt Shila aus dem Laden, in den Armen trägt sie ein dickes Stoffbündel, hinter rennt Arlon. „Lauft!", schreit sie und schlägt den Weg Richtung Meeresenge ein, „Ekrasiten!" In ihrem Gesicht ist blanke Angst zu sehen, während Arlon gelassen wirkt, ja fast triumphierend. Etwas stimmt mit ihm nicht. „Da kommt wohl eure Gelegenheit.", sagt Max und nimmt die Beine in die Hand.

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