5. Gerede
Der Kopf der Königin fühlte sich an wie ein Sack voll Steine. Die Sitzung der Ratsmitglieder zog vor ihr vorbei, als würde sie alles von weit weg beobachten. Sie konnte keine Sätze herausfiltern und auch die Gesichter der Sprechenden konnten ebenso gut verschleiert sein. Sie hörte Stimmen - besorgte, wütende, unsichere, besonnene. Das Gedanken-Wirrwarr in ihrem Kopf glich dem, das sich vor ihr abspielte. Ein Blitz nach dem anderen huschte durch ihr Bewusstsein. Ständig wurde sie durch die tief stehende Sonne, die sich in der Rüstung des Kommandanten widerspiegelte, geblendet. In einer normalen Situation hätte sie bereits um Verdunkelung der Fenster gebeten, doch diesmal vertrieb es ihre Müdigkeit, die das Ergebnis der vorangegangenen Nacht war. Menschen standen auf, gestikulierten wild während ihre Lippen sich bewegten, setzten sich wieder und schienen zu Statuen erstarrt. Dieses Spiel wiederholte sich unzählige Male, ausgenommen von zwei Figuren, die beinahe so wenig Regung zeigten, wie die aus Stein gemeißelten Gesichter, die ausdruckslos über dem Tisch an der Decke prangten. Die Königin konnte die strengen, harten Fratzen der nördlichen Helden, die von oben herabschauten, nicht ausstehen. Es war ihr so, als wäre ihnen jedes Wort, das hier gesprochen wurde, ein Dorn im Auge, als würden sie jede Tat verurteilen, die hier besprochen wurde, da sie niemals so triumphal sein würde, wie ihre eigenen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, warum sie überhaupt das Recht hatten, an diesem Ort verweilen zu dürfen. Die Sagen waren in ihrem Gedächtnis bereits verloren, gemeinsam verdrängt mit anderen unwichtigen Dingen. Als größte Verhöhnung empfand sie die Stirnbänder dieser vier imaginären Personen, die schmuckvoller waren, als die meisten Kronen. Selbst die Einfassungen der vielen Edelsteine waren kunstvoll in den Stein geschlagen. Es erinnerte sie an ihre eigene elegant geformte, silberne Krone, die schwer, aber ungeschmückt auf ihrem Haupt saß. Als man sie ihr das erste Mal überantwortete, war sie wohl das glücklichste Mädchen der Welt. Niemals hätte sie gedacht eine solche Ehre zu erfahren, war sie doch nur die vierte Tochter des Königs von Witland. Gleichwohl schien das eine halbe Ewigkeit her zu sein und wirkte mehr wie ein Traum. Sie war jung, naiv, ruhmsüchtig. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte so sein wie damals, erleichtert von der einen oder anderen Erfahrung.
Erst ein Name ließ sie mit vollem Bewusstsein an der Ratsversammlung teilnehmen.
„... Hakon de Drostan ist viel zu gefährlich. Das können wir nicht riskieren, wir haben schon genug Truppen verloren", wetterte Huget der Marschall.
Offensichtlich war bereits zum nächsten heiklen Thema gewechselt worden.
"Aktiviert die Reserven", ertönte es von der anderen Seite des Tisches, woraufhin der Marschall nur den Kopf schüttelte.
"Schickt die Elite!"
"Verhandelt!"
"Kapituliert!"
"Wartet ab!"
Ein Vorschlag nach dem anderen wurde negiert, waren es doch nur undurchdachte Ausrufe, die ebenso von Bauern hätten stammen können.
Als sich das erste mal Schweigen über den Tisch legte, war es Odinel, der sich mühsam erhob: "Wir sollten diese Diskussion vertagen, sofern niemand einen vernünftigen Vorschlag vorlegen kann."
Augenblicklich kehrte Ruhe ein und die Anwesenden blickten niedergeschlagen nach unten. In diesem Moment musste sich die Königin eingestehen, dass sogar sie selbst noch keinen Gedanken daran verschenkt hatte, wie sie ihren Ehemann befreien könnte. Egal, wie groß die Erschütterung war, man sollte immer standhaft bleiben und weitermachen ohne sich beirren zu lassen - das hatte man ihr immer eingebläut. Immerhin hatte sie einen Rat, der sich darum kümmern sollte, aber wie es schien, war er unfähiger denn je und es lag an ihr die Zügel in die Hand zu nehmen. Langsam kroch der Zorn in ihr hoch und je länger sie über die gesamte Situation nachdachte, desto größer wurde er.
Gerade als sie die Sitzung beenden wollte, stemmte sich Ruug der Kaldus aus seinem Sitz: "Mit einem Bündnis mit Witland hätten wir mehr Macht und könnten Hakon zu einem Ultimatum drängen. Die Bande der Königin gäben uns genug Gründe."
Erneut herrschte Stille, die scheinbar jeder zum Nachdenken nutzte, doch nach kurzer Zeit war ein lauter Seufzer zu hören. Diesmal war es Odinel, der die Hoffnung zerschlug: „Danke Ruug. Diese Idee ist keinesfalls schlecht, jedoch besitzt Witland nicht die nötigen Truppen. Selbst die vereinten Garnisonen wird der Gesamtheit von Hakons Streitmacht nicht ebenbürtig sein."
Der Vicar hatte Recht. Für Witland waren Soldaten nie ein Erfordernis. Die Landschaft des Königreichs trug genug bei, um bei einer Verteidigung unbezwingbar zu erscheinen und ein Angriff war ebenso sinnlos. Die Menschen in jenem Land hatten kein Verlangen nach Auseinandersetzungen, Expansion, mehr Ressourcen oder sonstigem. In ihren Augen, hatten sie alles, was sie brauchten. Die Königin fragte sich unwillkürlich, ob sie selbst jemals so empfunden hatte oder ob es erst die Jahre in Septorod waren, die sie verändert hatten.
Nachdem am Tisch ein weiteres Mal Schweigen eingekehrt war, erhob sie sich und entließ die Ratsmitglieder ohne viele Worte. Als sich sie sich bereits zum Gehen wandte, da sich die meisten erhoben hatten, räusperte sich eine der zwei Gestalten, die sitzend verblieben waren. Da sie nun jedermanns Aufmerksamkeit hatte, begann sie zu sprechen - langsam, deutlich, laut: „Es gibt noch eine Möglichkeit: Prinzessin Amythia ist unverheiratet."
Die Königin wollte einschreiten, aber Odinel kam ihr zuvor: „Was meint ihr?"
Venefiz Gisla, ihre graue Kapuze tief ins Gesicht gezogen, saß genauso seelenruhig, wie sie es schon die ganze Sitzung über war, auf ihrem angestammten Platz und sprach in gleichem Maße: „Eine Verbindung erlaubt uns einen starken Verbündeten."
„Und habt ihr jemand Bestimmtes im Sinn", fragte der Vicar vorsichtig und die Neugier der Beteiligten wuchs spürbar.
„Genug. Das kommt nicht in Frage", entfuhr es der Königin lauter, als sie es beabsichtigt hatte, so dass alle Augen nun auf sie gerichtet waren. Mit diesem Ansinnen war die Venefiz zu weit gegangen. Abgesehen davon, dass sie sich in der Gegenwart von Gisla immer schon unwohl gefühlt hatte, waren diese Worte von einer ledigen Frau schiere Dreistigkeit. Mit einem tiefen Atemzug beruhigte sie sich wieder. „Die Ratsversammlung wurde klar beendet."
Nach einer kurzen Pause erklang tiefes und dumpfes Gelächter vom anderen Ende des Tisches. Die Königin blickte voller Verachtung auf den Vetus, der sich nun offenkundig über sie lustig machte. Wieso behielt er nicht seine übliche Position ein? Statuenhaft, unbewegt, geräuschlos. Sie hatte den Sinn dieses alten Mannes noch nie verstanden, der sich selten bis nie äußerte und der sein Sehvermögen für einen alten Schwur gegeben hatte - augenscheinlich ein Akt des Wahnsinns. Die Augen, die er immer geschlossen hielt, ließen sie oft glauben, er würde schlafen, was auch für sein Alter nicht verwunderlich wäre. Die Ratschläge, die er gab, waren für sie töricht, unbesonnen. War er auch derjenige, der ihren Ehemann in dieser einfältigen Suche bestärkt hatte.
Sie wollte ihn ignorieren und drehte sich Richtung Ausgang, aber da dröhnte die wenig benutzte Stimme des Alten: „Ihr wollt also dem Gerede am Hof Wahrheit geben... Die Königin nutzt die Macht für sich selbst... Die Königin möchte ihren Gatten loswerden... Die Königin sucht keinen Ausweg... Die Königin hat keinen Glauben."
Sein Lachen war verstummt genauso wie alles andere im Raum. Sie starrte ihn fassungslos an und wusste nicht, ob sie glauben sollte, was gerade aus seinem Mund gekommen war.
„Seht mich nicht so an. Ihr wisst, was das Volk denkt... Auch, wenn Ihr es nicht wahrhaben wollt."
Sie fragte sich, woher gerade dieser blinde Mann wissen konnte, welcher Ausdruck auf ihrem Gesicht lag und doch konnte sie die Fakten, die seinen Worten innewohnten, nicht verleugnen. Sie hatte auch vergessen, dass sich schlechte Kunde schnell verbreitete, aber warum wunderte sie das Geschwätz der Leute so? War sie bei ihren Untertanen dermaßen unbeliebt? Oder waren die Menschen in Septorod einfach Pessimisten? Nicht einmal die Jahre, die sie hier gelebt hatte, gewährten ihr Einblick in das Wesen dieses Volkes.
Sie dachte daran eine Antwort zu geben. Doch was würde sie sagen? Sie wolle ihre Tochter nicht dem gleichen Schicksal wie dem ihrigen aussetzen, sie wie eine Ware handeln und sie in das Ungewissene entsenden. Natürlich hatte sie gewissermaßen Glück mit ihrer Verbindung, aber viele andere Beispiele belehrten sie eines Besseren, vor allem die ihrer Schwester, bei denen sie zumeist nur eine hilflose Briefempfängerin war. Die Ratsmitglieder konnten denken, was sie mochten, doch sie wollte ihre junge Tochter nicht den Gefahren dieser grauenhaften Menschen aussetzen. Und doch kannte sie den Widerhall zu ihrer Empfindung bereits: Sie würde ihre eigenen Interessen über die des Reiches stellen. Vielleicht stimmte das sogar, aber ihren ältesten Sohn musste sie ebenso dem Königreich entbehren und der Gedanke an seinen möglichen Tod, ließ sie beinahe wahnsinnig werden. Sie konnte sich nicht schon wieder von ihrem eigen Fleisch und Blut trennen.
„Wir werden eine andere Lösung finden. Das nächste Mal."
Nach diesen Worten ging sie zur Tür und schwor sich keinem Räuspern, Lachen, Seufzen oder ähnlichem mehr nachzugeben.
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