4. Morgen
Die Königin fand sich vor der Tür zur Speisehalle wieder. Nachdem sich ihre verwunderten Zofen jede denkbare Mühe gegeben hatten, sie innerhalb kürzester Zeit wieder vorzeigbar zu machen, stand sie nun einem Gespräch mit Jupp Rigger gegenüber. Nach dieser schlaflosen und energieraubenden Nacht wusste sie nicht, wie sie die Kraft dafür aufbringen sollte. Ein Überbringer schlechter Nachrichten konnte keinerlei gute Botschaften mit sich bringen.
Die beiden Flügel der Tür schwangen auf und sie trat ein. Augenblicklich erhoben sich alle von ihren Stühlen, behielten dabei aber den Blick gesenkt. Ausgenommen von einem Mann, der sie beharrlich anstarrte. Erst nach einigen Augenblicken erkannte sie das Gesicht wieder. Das rabenschwarze Haar war gekämmt, der Bart gestutzt und die Wunde an der Stirn verschwunden. Nur seine Augen waren unverkennbar die Gleichen. Jupp Rigger hatte sich über Nacht in einen anderen Menschen verwandelt. Mit seiner neuen Kleidung wirkte er fast schon edel. Das weiße Leinen spannte unter seinem muskulösen Oberkörper, die hellbraune, lederne Weste, in der Mitte durch vereinzelte, schwarze Schnüre verbunden, war ihm jedoch zu groß.
Sie ließ sich auf ihrem angestammten Platz am Kopf der Tafel nieder und auch die restlichen Personen setzten sich wieder. Sie war froh, dass Rigger weit genug weg von ihr platziert worden war, doch dann fiel ihr Blick auf die beiden leeren Stühle zu ihrer Rechten und sie erinnerten sie an den Schmerz in ihrem Herzen. Sie wandte sich an ihren Berater, der links von ihr vor sich hin schmatzte: „Odinel, ich möchte, dass die übrigen Plätze des Königs und des Thronfolgers durch Prinzessin Amythia und Prinz Symond besetzt werden." Sofort hielt er inne und sah sie entgeistert an. Die Krümel, die sich in seinem Barthaar verfangen hatten, schienen ebenso verloren zu sein.
„Muss ich mich wiederholen", fragte sie bestimmt.
Noch mit vollem Mund schüttelte der Vicar den Kopf zuerst seitlich und dann nach oben und unten.
„Die nächste Mahlzeit verbringen sie bereits neben mir." Sie schenkte ihren Kindern über die Distanz hinweg ein schwaches Lächeln und bevor sie einen Schluck ihres Beerensafts nahm, konnte sie fast alle Augen auf ihr ruhen sehen. Sie hatte mit normaler Stimme gesprochen, was wohl auch Grund dafür war, dass die meisten Gespräche verstummt waren und die Aufmerksamkeit nun ihr galt. Als sie bewusst durch den Raum blickte, widmeten sich alle wie ertappt wieder ihrem Frühstück. Nur war da abermals der Mann, der sie standhaft musterte - diesmal lag Verwirrung in seinen Augen.
Ohne einen weiteren Gedanken an die Menschen zu verschwenden, die sie nun vielleicht für verrückt hielten, beschäftigte sie sich nun mit ihrem Teller, der in der Zwischenzeit befüllt worden war. Sie bemerkte die Regung in ihrer Magengegend und musste sich selbst gestehen, dass sie schon lange nicht mehr einen solchen Appetit hatte. Sie sog den Geruch durch ihre Nase. Der erste Bissen zerging regelrecht in ihrem Mund und sie musste sich zurückhalten, nicht gleich über den Rest herzufallen. Sie hätte nicht gedacht in der Lage zu sein, so viel zu essen. Sie musste sogar dem Diener um eine weitere kleine Portion schicken. Zweifellos bemerkte auch Odinel ihr seltsames Verhalten, aber er sprach sie nicht darauf an. Sie hatte ihn wohl für heute genug aus der Fassung gebracht. Der arme Mann musste sich in seinem Alter noch den Launen einer Frau ergeben. Sie bemühte sich über diesen Gedanken nicht zu lachen, um ihr übliches, ausdrucksloses Gesicht nicht zu gefährden.
Die Halle leerte sich immer mehr, mittlerweile waren beinahe alle Plätze an der Stirnseite verlassen und die Königin genoss diesen stillen Augenblick, in dem niemand sie belästigte. Es war das erste Mal seit dem Aufbruch des Königs, dass sie so empfand. Sie beäugte noch einige übrig gebliebene Edelleute, mit ein paar davon würde sie heute gewiss noch zu tun haben. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass auch Jupp Riggers Platz frei war. Sie fragte sich, wie lange er vor hatte zu bleiben. Die Anwesenheit dieses Mannes bereitete ihr zugegebenermaßen Unbehagen und vor allem auch sein Wissen. Was wusste er vom Schlüssel von Calidow? Wusste er mehr als sie? Kannte er die Legenden oder gar doch die Wahrheit? Andererseits... Gab es überhaupt jemanden, der mit Sicherheit sagen konnte, worum es sich handelte?
Grübelnd spielte sie gerade mit der letzten Traube vor ihr, als jemand den Platz des Vicars einnahm. Sie riss den Kopf schnell herum, um zu inspizieren, wer eine solche Dreistigkeit besitzen konnte und musste feststellen, dass es sich dabei um den Befürchteten handelte. Als sie zu einer empörten Anweisung ansetzen konnte, wurde sie unterbrochen.
„Ihr seid nicht besonders neugierig."
Jupp Rigger hatte sich lässig mit verschränkten Armen auf dem Stuhl neben ihr platziert, all die Scheu, die er noch am Vortag hatte, war verschwunden. Seine Augen, fast so schwarz wie sein Haar, eines davon durch Blut eingetrübt, fixierten sie. Auf seiner Stirn waren nun aus der Nähe die Umrisse seiner Verletzung noch zu erkennen.
„Und ihr seid respektlos." Die Königin sah sich im Raum um, ob irgendjemand diese unziemliche Handlungsweise beobachtete, aber vor allem machte sie genau aus, wo ihre Wachen positioniert waren.
Er zog eine Augenbraue hoch und antwortete gelassen: „Ihr müsst mich nicht fürchten."
Sie legte die Gabel zur Seite und strich sanft über ihr Kleid bevor sie etwas zurück gab: „Wenn ich alles glauben würde, was man mir sagt, würde ich nicht hier sitzen."
Sein rechter Mundwinkel bewegte sich nach oben und für einen kurzen Moment löste er seinen Blick von dem ihren.
„Natürlich, verzeiht mir." Er formt die Hände kurz zu einer entschuldigenden Geste. „Aber ich denke, ich bin dennoch der einzige in dieser Burg, der Informationen hat."
So sehr sie diese Aussage hasste, es war Realität. Auch wenn es ihr missfiel, ihm Vertrauen zu schenken, er hatte ihr immerhin den Schlüssel gebracht.
„Nun gut - sprecht", befahl sie milde.
„Ganz wie ihr wollt. Aber was genau begehrt ihr zu erfahren?
Auf diese Frage hin konnte sie nicht verhindern mit den Augen zu rollen. Warum musste er es so kompliziert machen? Jeder normale Mensch hätte am Anfang begonnen. Etwas in seinem Blick gab ihr das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte. Kurz überlegte sie, ihn wegzuschicken, aber ihre Neugier siegte: „Wie seid ihr mit dem König von Septorod in Kontakt gekommen?"
„Ich durfte den Kerker mit eurem Ehemann teilen", entgegnete er sogleich.
Die Königin stutzte. War das tatsächlich ein verurteilter Verbrecher, der vor ihr saß und mit ihr sprach? Wozu war dieser Mann in der Lage? Diebstahl? Hochverrat? Mord? Plötzlich kamen ihr ihre Wachen viel zu weit entfernt vor.
„Die haben ihn regelmäßig an meiner Zelle vorbeigeschleift." Ihr Herz machte bei dieser Vorstellung einen kleinen Stich.
„Er hat mir... geholfen zu fliehen."
Ihr Blick wanderte auf die Tischplatte, um dem Mann nicht länger in die Augen sehen zu müssen. Seine Erzählung schien plausibel zu sein. Es würde ihrem Gatten ähnlich sehen, sich selbst zu opfern. Trotzdem nagten noch immer Zweifel an ihr, also fragte sie: „Wie konntet ihr entkommen?"
Ihr Gegenüber presste kurz die Lippen aufeinander und erwiderte dann: „Mit Verlaub, aber diese Geschichte ist für solcherlei Umgebung ungeeignet."
Skepsis ergriff abermals ihren Verstand, dennoch hatte er Recht. Sie sah sich noch einmal im Raum um. Die wenig Übrigen waren scheinbar in ihre eigenen Gespräche vertieft und bemerkten das Geschehen am Kopf der Tafel gar nicht oder zumindest gaben sie es vor. Sie musste diese Unterhaltung so bald wie möglich beenden.
Jupp Rigger ergriff nach dieser Pause erneut das Wort: „Dieser Wortwechsel war mir eine Freude, jedoch muss ich mich entfernen."
„Wartet," erklang es aus dem Hals der Königin bevor er sich zum Gehen wandte. Eigentlich war es ganz in ihrem Sinne, dass er aufbrach, aber diese eine Frage brannte ihr noch auf der Seele. Seine Augen fanden die ihren, jedoch lag darin keinerlei Ausdruck. Keine Überraschung, keine Wut, keine Angst, keine Freude.
„Was wisst ihr über den Gegenstand, den ihr mir überbracht habt?"
Seine Mundwinkel zuckten und sein Blick wurde ernster: „Mein Wissen ist dem euren nicht überlegen."
Automatisch verengten sich die Augen der Königin und sie konnte ihre Reaktion der Entrüstung nicht verbergen.
„Was für eine Enttäuschung", sagte sie mit einem leichten, sarkastischen Unterton. „Ich dachte, ihr seid für Informationen gut."
Auch die Haltung ihres Gesprächspartners versteifte sich und sein Atem veränderte sich. Ein winziges Lächeln zierte seine Lippen und die Intensität seiner Stimme verstärkte sich: „Wenn ihr darauf besteht, möchte ich mein Wissen natürlich kundtun: Ich weiß, dass der König mir vertraute. Ich weiß, wo er ihn gefunden hat. Ich weiß, wie die Legenden lauten. Ich weiß, dass ich hier nicht willkommen bin und ich weiß auch, wo ihr den Schlüssel aufbewahrt." Sein Finger kam nur wenige Zentimeter vor ihrem Schlüsselbein zum Halt.
Plötzlich wurde ihm durch ein Schwert unter seinem Hals Einhalt geboten.
„Das ist nah genug", ertönte es von Athelard.
Jupp Rigger stand ohne jede weitere Anstalten auf und auch die Königin erhob sich. Sie schenkte ihrem Leibwächter einen wütenden Blick, dieses harsche Vorgehen war nicht notwendig gewesen. Dann starrte sie dem Fremden nach. Was war hier gerade geschehen?
Alles im Speisesaal schien stillzustehen, abgesehen von dem aufgebrachten Mann, der Richtung Ausgang stürmte. Das Gesprächsthema am Hof schien auf jeden Fall gesichert zu sein. Ein Problem schien das nächste zu jagen. Auch in der Gefühlswelt der Königin fand ein regelrechtes Wettrennen statt. Empörung und Fassungslosigkeit über das soeben Geschehene, Kummer und Sorge über das Erzählte, Verzweiflung und Nervosität über das, was ihr bevorstand.
Kurz vor der Tür blieb Jupp Rigger doch noch stehen und wandte sich an die Königin: „Oh... Es gibt tatsächlich noch etwas, das ich weiß... Ich weiß, wie man den Ponte von Arquata behandeln sollte."
Mit diesen Worten hinterließ er das Chaos, das er verursacht hatte.
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