Prolog

Joran

Der Unsterbliche und die schöne Prinzessin.

Seit die Götter den Menschen von Himminjörd die Fähigkeit zu Sprache und Wort auf die Zungen gelegt hatten, seit die fahrenden Geschichtenerzähler des Landes ihre Erzählkunst mit Gesang in die Dörfer trugen und die Ältesten dann ihre Geschichten an langen Winterabenden von einer Generation an die nächste vererbten, basierten so viele der tragischen Liebesgeschichten auf ungleichen Paaren zwischen den Schwellen der Anderswelt. Sie erzählten im Verlauf unzähliger Mären von den jahrtausendealten Kreaturen überirdischer Schönheit, von den eiskalten Herzen dieser Wesen in der Brust eines Mannes und erzählten davon, wie die Schönheit einer sterblichen Dame den Bann dieses eiskalten Herzens brach. Sie erzählten von der unsterblichen Liebe zwischen diesem Unsterblichen und seiner Prinzessin, erzählten, wie mit dem Wechsel der Jahreszeiten aus einer Prinzessin schließlich eine Königin wurde, erzählten, wie diese Königin am Ende ihrer so kurzen Lebensspanne in den Armen des Unsterblichen zu Asche zerfiel.

Sie erzählten von der melancholischen Schönheit des Todes, malten idealisierte Bilder menschlichen Leidens. Sie erzählten von Liebe über den Tod hinaus, erzählten von der Unbegreiflichkeit der Anderswelt jenseits der Schleier. Die Leute aus den Dörfern ergötzten sich an der Tragik darin, hörten sich an diesen viel zu perfekten Geschichten über erweichende Herzen und gebrochene Flüche satt, verfielen dem Zauber der Märchen über den wahren Herzschmerz der Unsterblichen, als könnten sie sich dadurch die Schrecken ihres eigenen Todes auf den Straßen eines ärmlichen Landes vergessen machen.

Ich wurde vor mehr als hundertzweiundvierzig Jahren in eine Welt aus Geschichten über vergessene Gesänge geboren und hatte von Kindesbeinen an den Erzählungen über die verlorenen Noten in der Melodie dieses Landes gelauscht, hatte Legenden über die dunklen Wesen aus den Wäldern wie teure Schätze gehortet und mich stets nach Abenteuern, nach Hexen und Monstern gesehnt. Und obwohl so viele der Dorfgeschichten mit den Worten begannen ...

Stell dir vor, Joran, stell dir vor, all diese Geschichten sind wahr!

Stell dir vor, das Feuer hat all die Guten vernichtet!

Stell dir vor, die Wesen aus den Wäldern sind heute nur noch Wesen des Teufels – aber sie sind noch dort draußen und ihre Geschichten sind wahr!

Obwohl so viele ihrer Geschichten mit diesen Worten begannen, so hatte ich mich doch nie als Teil dieser Geschichten gesehen.

Ich lag falsch.

Als ich meine Rolle im Zusammenspiel der unerklärlichen Mächte zugewiesen bekam, da erkannte ich, dass es für Joran, den Todeslosen, wohl kaum eine Prinzessin oder Hoffnung auf diese wenigen Jahre des Lichts geben würde. Weil kein Licht in der Unsterblichkeit lag. Keine Flüche, die es zu brechen, keine Liebe, die es zu finden galt.

Nur Ewigkeit. Und ein Mann – womöglich ein Monster aus jenen Geschichten, das selbst durch den Tod gefürchtet wurde.

Die Leute wussten nie, was sie erzählten.

Damals war ich zu jung, um die Wahrheit zu sehen.

***

Wie flüssiges Gold aus den Schmieden der Götter von Helgrind versickerten die Strahlen der frühen Abendsonne in der Wolkendecke und tauchten das Firmament über den Bergen noch ein letztes Mal in ein andersweltliches Licht, ehe die dichtgrau geplusterten Schleier sämtliches Gold aus den Himmeln verschluckten. Das Tosen der Winde hinter den Hügeln erzählte bereits mit donnernden Stimmen von den Stürmen hinter der Grenze zum Norden und schien schließlich auch die Kronen der hochgewachsenen Fichtenwälder in unserer Nähe erschüttern zu wollen, die grauen Regenbringer des Himmels immer schneller über die Länder zu treiben und dann auch die letzten Spuren des Lichts hinter einer Wand aus undurchdringlichem Sturmfirmament einzusperren. Im Herzschlag des nahenden Unwetters schlang sich die Finsternis um den Norden und machte die Götter hinter ihren Bergkämmen blind – blind hinter diesen dichten Nebeln und Schauerzügen, die sich wie eine Welle des südlichen Ozeans über die Hänge von Helgrind auf das Hochland ergossen.

Götter donnerten dort auf die Felsen. Sie schlugen mit ihren Hämmern auf den Stein, bis die Funken stoben und blitzten.

Der Sturm kam mit Blitz und Donner und Grollen.

Dann streckte sich die Dunkelheit deckengleich über die Pfade der südlichen Waldgebiete, über die schlingernden Baumgiganten und auch um die Flüsse, breitete sich über die mächtige Seenplatte von Helgrind und auch über die eiskalten Fluten der Sjorda.

Ich presste meine Stirn gegen die staubverhüllte Scheibe der Kutsche und starrte in die düstere Waldwelt hinaus, um den ersten Regentropfen noch vor meinen Brüdern fallen zu sehen.

So viele Bäume! So viele Schattengestalten waren zu sehen! So viele Äste, die mit ihren dünnen Albtraumfingern nach dem Dach unseres Gefährtes griffen, die im Schwung des Sturmwinds gegen die hölzernen Aufbauten peitschten und uns immer wieder zu umschlingen versuchten. So viele Fratzen und Gesichter des Waldes, die mir aus dem Dunkel der Fichtenreihen entgegenlinsten, die Stamm an Stamm den aufkommenden Unwettern trotzten und mit ihren knarrenden Stimmen die Geschichten einer fantastischen Anderswelt voller Dämonen erzählten.

Manchmal bildete ich mir ein, jene Dämonen zu sehen. Den Elberich. Oder die Prinzessin der Feen.

Die Baba Jaga mit ihrem buckligen Rücken, wie sie sich durch die Stammlabyrinthe zwischen den Kiefern schleichen wollte. So viele Geschichten, die dort zum Leben erwachten.

Trotz meiner jungen Jahre hatte ich oft schon in ähnlichen Kutschen wie dieser gesessen, mir jedes Mal den Platz an der Aussicht unter den beiden Brüdern erstritten und schließlich meinen Blick in die Ferne hinter den Scheiben schweifen lassen. Kutschfahrten erzählten ihr ganz eigenes Märchen, so fand ich.

Meine kindliche Fantasie fand kaum Grenzen in den ungezähmten Landstrichen im Süden Helgrinds, der mit seinen schwarzen Nadelbaumwäldern, den sprudelnden Quellen und der rohen Natur die Gedanken in fremde Gefilde entführte. Zwischen den heulenden Hütten verlassener Dörfer und den schneidenden Winden in den Schneisen des Waldes erbaute ich mir eine eigene Welt, die mich einen Blick hinter den Schleier des sonst so tristen Lebens in meiner Heimatstadt erhaschen ließ.

Da war ich also. Am Tag meines Schicksals. Kaum sieben Winter alt.

Saß in der Kutsche, blickte aus dem Fenster und erfreute mich an den unheimlichen Kreaturen, die der Herbststurm wie ein wandernder Hirte durch unsere Nachbarlande trieb.

Der Waldrand wich einem schwankenden Schlund zwischen Bäumen und schluckte unsere Kutsche binnen Sekunden in die vollkommene Dunkelheit des Schattenreiches. Kaum ein Licht konnte mehr durch die wankenden Kronen der Baumriesen dringen und die Schotterwege zwischen den Stämmen beleuchten, sodass die nassen Kiesel wie ein schwarzer Fluss unter den Hufen der Maultiere ins Fichtenland trieben.

Meine Augen flogen zwischen den lichteren Waldesstellen umher, suchten nach den Irrlichtern im Dunst der Sagennebel und glaubten so manches Mal, eines der Wesen zu sehen. Feen blitzten aus den Schatten, ehe die Schemen wieder mit Farnen und Moosen verschmolzen.

Wie Geistgestalten entstiegen die Bodenwolken den toten Blättern des Herbstes und erhoben ihre Schleierflügel in die Lüfte, ließen ihre langen Kleider durch die Schwärze des Waldes schweben und formten die Mienen von Fylgjafrauen aus Helgrind. Ihre Nebelkleider erfüllten die Höhen unter den Nadelwedeln der Fichten mit den Spuren eines uralten Reigens und verdichteten die Luft hinter der Glasscheibe mit dem brausenden Lied der Naturgewalten, als ihre Körper im Atem des Sturmes zu tanzen begannen, als sie sich Hand in Hand um das Zentrum der Lichtungen drehten und den Nebel zwischen den Welten mit ihrem Tanz zwischen dem Bäumen verwoben.

Dann prasselten die ersten Schauer auf das Dach unseres Wagens.

Zunächst harmlos. Dann stärker. Lauter. Intensiver.

Die Schutzgeister kreischten im Getöse des Platzregens und schlugen ihre schlanken Nebelfinger um die durchlöcherten Mienen, schwankten, trudelten in den schneidenden Winden, doch half ihnen keine Flucht vor dem Wasser mehr als Flucht vor dem Tod. Es war, als donnerten ihre Fäuste mit jedem Regenschwall gegen die Fensterscheiben der Kutsche, als riefen sie nach mir: »Hilf uns! Hilf uns, Jungchen, bevor der Regen uns auflöst!«

Als riefen sie nach mir, bloß um mit ihren Gestalten in den Schauern zu schwinden und dem Klopfen von Geisterhänden zu weichen. Ihre Münder zerrissen in der ...

»Joran? Joran, setz dich bitte wieder.«

Die Stimme meiner Mutter riss mich vollkommen unvermittelt aus den Tagträumereien, die mich wieder einmal viel zu sehr in ihren Bann gezogen hatten. Da waren nur noch die tanzenden Nebelfrauen hinter den Gläsern gewesen – Schutzgeister, die in den Wassermassen den Tod finden mussten. Kindliche Fantasien, sagten die Alten.

»Joran, Liebling, es ist gefährlich, auf den Polstern zu knien. Sieh nur, wie sehr die Kutsche schwankt. Du wirst fallen und dich verletzen, mein Junge.«

Mit den Augen folgte ich der weisenden Geste meiner Mutter zu meinen Beinen und registrierte erst im Zustand jenseits dieser Tagträumereien auch die Erschöpfung in meinen Knien, die sich schon seit den ersten Donnerschlägen von oben in die Sitzpolsterungen stemmten und nur noch unter Einsatz meiner gesamten Kräfte gegen Erschütterungen des Wagens behaupten konnten. Auf den Schotterwegen des südlichen Waldes versetzte die Geschwindigkeit der Reisekutsche sämtliche Einrichtungsgegenstände in Vibration, rüttelte mit der Macht eines ganz eigenen Sturms an den Satinsitzbänken und entzog mir in regelmäßigen Abständen auch den Halt unter meinen Händen, die ich zu meinem eigenen Erstaunen noch immer an die Trennscheibe des Wagens gepresst hielt.

Ich war fort gewesen. Weit. Sehr, sehr weit fort von hier.

Wie in Trance.

Ob Mutter den Abdruck meiner Kindernase an der gläsernen Scheibe wohl gesehen ...?

»Lass es gut sein, mein Schatz«, murmelte sie prompt in die Stille hinein, doch sprach sie an diesem Unwetterabend mit sonderbar belegter Brust zu mir. »Wir reinigen das Fenster nach unserer Ankunft gemeinsam, ja? Aber setz dich. Bitte, bitte setz dich.«

Ich ließ mich rücklings auf die Sitzbank fallen und erwiderte erstmalig den Blick meiner Mutter.

Sie saß neben Vater – ihren drei Söhnen gegenüber. Wie Saphire leuchteten ihre blauen Augen im spärlichen Licht der Kutsche aus den Schatten hervor und glänzten doch nicht wie bei gewöhnlichen Ausflügen von unserem Stadthaus auf den Landsitz unseres Vaters, nein, schienen vielmehr von blauen Sorgenringen unter ihren Wimpern umschattet, als hätte sie in den Nächten vor unserer Reise trotz des recht milden Herbstwetters keinen Schlaf finden können. Purpurrot wölbte sich der schwere Stoff ihres Herbstmantels in mehreren Wellenlagen über ihre Beinpartien und verbarg die viel zu schmalen Schultern der Frau in einem Berg aus Wollfilz, sodass sie unter all den Stoffbergen wohl annehmen mochte, ihre angespannte Handhaltung wäre aus meiner Perspektive nicht sichtbar. Aber ... unter dem abgetragenen Herrenumhang schien Mutter mit ihrem doch sehr blassen Teint dieser Nacht kaum mehr als eine der nebelgebundenen Fylgjafrauen zu sein, mutete mit ihren mondlichtfarbenen Porzellangliedern noch viel zerbrechlicher an und ließ mich allmählich selbst in Sorgen verfallen.

Niemals zuvor hatte ich eine derartige Emotion in ihren Zügen gelesen.

Mutter war seit jeher von zierlicher Erscheinung gewesen, doch hatte ich sie nie als zerbrechlich angesehen. Nicht derart mutlos, nicht derart von Ängsten zerfressen, wie sie mir in ebendiesen Augenblicken gegenübersaß.

Ihr Blick wanderte aus dem Fenster der Kutsche ... Dann zogen sich tiefe Furchen wie die Wellenlinien der Sjorda über die sonst so glatte Alabasterhaut ihrer Züge und verwandelten die Stirn meiner Mutter in eine ganze Hügellandschaft ihrer Besorgnis; sie verliehen diesen sonst so mütterlichen Zügen eine furchterregende Emotionalität der anderen Art und zeigten Gefühle, Panik und Angst, wie ich sie mir in meiner kindlichen Gedankenwelt nicht zu erklären vermochte. Obgleich ich den Grund ihrer Sorgen nicht in den stürmischen Wäldern glaubte, so schien sie doch in den fernen Tannenlanden gänzlich anderen Geistern als den meinen begegnet zu sein. Als würde sie dort, in den Schatten der Andersweltreiche, den Dämonen ihrer eigenen Seele gegenüberstehen.

Welche Dämonen sie fand?

Welche Schrecken sie sorgten?

All diese Dinge blieben mir noch verborgen.

Und so beobachtete ich mit allmählich schneller schlagendem Herzen, wie ihre Blickrichtung von den tosenden Stürmen in den Baumwipfeln ins Innere der Kutsche abwanderte und sich schließlich mit einem bedeutungsschwangeren Blinzeln an die Miene meines Vaters heftete, als müsste sie ihn mit diesen furchtbar ängstlichen Blicken an der schwankenden Wand des Wagens festnageln, als könnte sie auf diese Weise Halt bei ihm finden. Er registrierte die alarmierenden Unternoten in den Blicken seiner Gattin ganz bewusst nur aus dem Augenwinkel und nagelte stattdessen uns mit einem mahnenden Ausdruck auf seinen Zügen auf der anderen Bank der Kutsche fest; ja, er schien uns mit einem oberflächlichen Theaterspiel abspeisen zu wollen, um seine Hand dann aus dem Dunkel seines eigenen Wollfilzmantels zu lösen und ebenfalls unter die weiten Stoffschwünge über den Knien meiner Mutter gleiten zu lassen. Zwischen den Körpern verschränkten sich die Elfenfinger unserer Mutter mit den seinen. Plötzlich blickten sich die beiden direkt in die Augen. Ihre blauen Blicke trafen auf die grünbraunen des Mannes. So schwarz wie das Haar meines Vaters in der Dunkelheit glänzte, so golden schimmerte der Zopf meiner Mutter in den flackernden Lichtern der Kerzen – er so dunkel und sie so hell, als vereinten sich Nacht und Tag ein letztes Mal in den tobenden Stürmen des Landes.

»Au!«, quäkte ich in die gespannte Stille, als mich der Ellenbogen meines Bruders in die Seite traf. »Was soll das? Du Teufel!«

Ich fuhr herum und fixierte den Jüngsten, der zwischen dem mittleren Bruder Delling und mir in den arrhythmischen Holperbewegungen der Kutsche auf seinem Platz pendelte. Er hatte die kleine Schnute zu einer weinerlichen Fratze verzogen und erwiderte meinen erbosten Blick mit Tränen in den Augen, ehe er sich mit dem Leinenärmel an der Nase entlangwischte und die Salzperlen zu einer glänzenden Spur auf der Wange verteilte.

»Mutter, Joran starrt wieder ins Nichts. Sag ihm, er soll nicht mehr starren. Das ist unheimlich«, wimmerte er. »Er sagt, da sind Geister. Geister, die wir nicht sehen.«

Mutters Mahnung folgte auf dem Fuße.

»Joran, du solltest ihm doch keine Gespenstergeschichten erzählen.«

In der Strenge ihrer Worte schien jeglicher Zweifel zu fliehen, als sie ihre Rolle als Mutter von drei Söhnen über die Tatsächlichkeit ihrer Ängste setzte. Ihre Hand löste sich ohne den Hauch eines Zögerns von der meines Vaters und reckte sich den ausgebreiteten Armen des jungen Sveinn entgegen, der umgehend nach ihren Fingerspitzen angelte und sich von ihr auf den mütterlichen Schoß ziehen ließ. Ihr goldenes Haar schien nahezu mit dem Blondschopf des Jungen zu verschmelzen, als sie ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn hauchte und mit ihrer Glockenstimme ein altes Wiegenlied in sein Ohr zu summen begann.

Wieder sah ich, wie ähnlich Sveinn und Delling Mutter doch waren, wie ähnlich meine schwarzen Locken denen des Vaters waren – wie sehr sie der Tag ... und wie sehr ich die Nacht.

»Ihm habe ich gar nichts erzählt!«, rechtfertigte ich mich maulend. »Delling hat es ihm gesagt. Und ich habe Delling gesagt, dass ich am Fenster sitzen möchte, um die Baba zu sehen.«

»Delling!«

Wieder traf mich ein böser Blick – nunmehr von Delling, der seinerseits gegen die Empörung unserer Mutter anging. Ihr Haupt zuckte zwischen unseren zusammengesunkenen Körpern hin und her, richtete sich mal auf mich, dann wieder auf ihren Mittleren, dann wieder auf mich.

»Nein, alle beide!«, rügte sie uns. »Wir sind eine Familie und der Zusammenhalt ist äußerst wichtig für eure Zukunft. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ...«

»Thordis«, fiel die Stimme meines Vaters in ihren Vorwurf.

Er blinzelte sanft und strich mit der Hand über Sveinns Hinterkopf, als könnte er mit einem einzigen Wort, mit einem Namen, ihrem Namen, dem Namen unserer Mutter, die Furcht aus diesen Räumlichkeiten verjagen und den Sturm selbst aus den düstersten Wäldern vertreiben. So manches Mal war mir, als könnte er es.

Als könnte seine Stimme die Schatten aus meinen Albträumen scheuchen, die Sorgen aus den Zügen der Mutter waschen und die Dämonen im Honiggold seiner Worte ertränken; als könnte er all die Widrigkeiten unseres Lebens mit einem Wort besiegen. In seinen Worten mochte man meinen, die Finsternis wäre eines Tages das Licht.

Doch war es nichts als das Trugbild eines Kindes. Eine Utopie, die ein Sohn sich wünschte, kurz bevor das Leben ihn anderes lehrte.

Ein markerschütterndes Donnern durchschnitt die sturmbeladene Luft zwischen den Kiefern und wurde sogleich von einem gleißenden Licht abgelöst, das die Bäume abseits des Schotterweges wie ein Schlund zum Jenseits verschluckte, das sämtliche der dünnen Baumskelette in Weißglanz tauchte und ein weiteres Grollen auf dem Fuße folgen ließ. Die trommelnden Tränen des Gewitterhimmels verwandelten sich in faustgroße Hagelkörner, die mit göttlicher Gewalt auf das Dach unserer Kutsche einschlugen und den Stützbalken keine Gnade zuteilwerden ließen.

»Papa?« Dellings Ruf ging im plötzlichen Getöse fast unter.

Wie ein trudelndes Blatt im Wind wurde der Wagen über die Waldwege geschleudert, sekundenlang auf nur zwei Rädern über den Schotter gerollt, in die andere Richtung geworfen, gegen Äste gedrückt und scheinbar orientierungslos zurück auf die Wege geschmettert. Nun griffen die blattlosen Astfinger tatsächlich nach unserer Kutsche und sausten mit Wucht gegen die Fensterscheiben, die in der Gewalt des Aufpralls spinnennetzartige Muster formten, die knacksten, knirschten und krachten. So viele Hagelkörner, die wie Steine vom Himmel herab durch die Baumkronen brachen und ...

»Götter, steht uns jetzt bei!«, brüllte Mutter.

Als ein Hagelgeschoss von der Größe einer Faust unter Pfeifen und Tosen durch die Dachbretter brach, da war mir, als müsste mein kleines Herz nun im Schock dieses Aufpralls seine Dienste versagen.

Ich hörte mich schreien.

Erschrocken. Verstört und in Panik.

Ich sah meinen Vater mit der Faust gegen die Kutschenwand schlagen, vernahm seine strengen Befehle: »Schneller, Kutscher! Schneller! Oder der Tod kommt uns holen!«

Wie in Trance blickte ich dann in das versteinerte Gesicht meiner Mutter, die den weinenden Sveinn an ihre Brust gepresst hielt und mir mit offenem Mund entgegenstarrte, als sähe sie den soeben betitelten Tod höchst in Person. Delling krallte sich mit seinen zitternden Fingern bloß noch in den Samtvorhang zu seiner Rechten und sog die Atemluft in hektischen Zügen durch seine Kehle, als wäre der Entsetzensschrei in seiner Brust irgendwo zwischen Stimmbändern und Atem erstickt. Ich wusste nicht mehr, wohin mit mir selbst.

Wer ich war. Was ich fühlte. Was um mich geschah.

All jene Dinge schienen im Bruchteil von Sekunden zu geschehen und gleichzeitig im Lauf der Millisekunden zu Jahrtausenden gelebten Lebens zu wachsen, sich zu unerträglich langer Dauer zu dehnen und im nächsten Moment wieder zwischen den Minuten zerrissen zu werden. Meine Kehle explodierte im Schmerz meiner Schreie, die ich unter den Gewitterschlägen selbst nicht mehr zu hören vermochte, die sich einfach unter das Heulen des Windes in der Dachöffnung mischten und zwischen den Hagelkörnern, Blitzen und Donnergeräuschen zu der urgewaltigen Melodie eines Sturmes gesellten.

Pauken und Donner.

Singende Bäume.

Der kreischende Wald mit seinen Dämonen und Monstern.

Der gehetzte Galopp der Maultiere vor unserem Fahrwerk, die trotz aller Mühen des Mannes keinerlei Befehle mehr von unserem Kutscher empfingen. Sie preschten wie von Sinnen durch die elektrisierte Gewitterluft unter den peitschenden Bäumen und schleuderten den Wagen von einer Kurve in die nächste Wegbiegung. Die Kutsche selbst, die mit den eiernden Rädern wie ein unentrinnbarer Käfig aus Holz, Glas und Eisen über die Schotterwege zu fliegen schien, die meine Familie zwischen den schwankenden Kiefergiganten hin und her schleuderte, als hätten höhere Mächte das Gefährt als Figur über ein Spielbrett geschubst.

Ja, und mit einem Male waren sie von Albtraumgestalten zu echten Reitern der Apokalypse geworden: die Baba. Der Elberich. Und die Prinzessin der Feen.

Allesamt kamen sie, um unsere Leben zu holen.

Ich wusste es, bevor unsere Mutter es aussprach.

»Die Brücke«, wisperte sie. »Die Brücke.«

Schon klapperten die Hufe der hetzenden Maultiere auf dem ächzenden Holz des Nordübergangs und schlitterten ohne Halt über die nassen Bretter der Sjordabrücke hinweg, rutschten mit den beschlagenen Hufen auf einem Film aus schmelzenden Hagelkörnern davon und polterten gegen die Begrenzungspfosten, die sich wie wurzellos gewordene Bäume über den Brückenpfad neigten. Die Räder der Kutsche glitten trotz angezogener Bremsbacken auf die Sjordahöhe. Sie brüllten ihr ohrenbetäubendes Stöhnen in die Unwetternacht, als der Wagen mit seinem ganzen Gewicht ins Trudeln geriet; als er seitlich in die Begrenzungen schlug, zur Seite kippte, gegen die Balken krachte und die Zugtiere von den Füßen riss. Wieder wandelte sich das Geschehen zu einer Momentaufnahme – erstarrt in der Zeit, in den Sekunden so kurz vor dem Tode.

Während meine Welt zu einem Strudel nachtschwarzer Farben verkam und sich im Raum jenseits der Existenzen auflöste, während all die Eindrücke durcheinandergewirbelt und zu skurrilen Figuren ohne erkennbare Zusammenhänge von menschlichen Formen gezogen wurden, spürte ich die Wucht der Schleuderbewegung in meiner Magengegend, schrie und schrie und ruderte mit den Armen, hörte das Schreien der sterbenden Maultiere, hörte selbst die splitternden Balken, die sich schmatzend durch die Eingeweide der Tiere fraßen. Ich schlug meine Hände über die Ohren, verlor meinen sicheren Halt an den Polstern und wurde unter den höheren Gewalten einfach von meiner Sitzbank gerissen.

Dann wurde ich gegen die gegenüberliegende Seite geworfen. Mein Kopf rammte die Untersitzschale, schleuderte mich zurück zur ersten Sitzbank. Der zweite Aufprall drückte die Luft aus meinen Lungen und versiegelte meinen Brustkorb mit eisernen Ketten, sodass ich keinen Atemzug ohne Schmerz nehmen konnte. Die Schreie versiegten.

Es blieb nur die Angst. Blanke Angst.

Und der Schmerz gebrochener Knochen.

Unsägliche Qualen fraßen sich durch meinen zerschmetterten Körper, setzten sämtliche Muskeln in Flammen und versengten jeden Funken meines Geistes, der noch zu klaren Gedanken imstande gewesen wäre. Ich fühlte die Bewegungen der Kutsche unter meinen Händen und spürte selbst die Erschütterungen der schwankenden Brücke. Doch mein Körper registrierte die rutschenden Planken, ohne wahrlich die Hintergründe des Geschehens begreifen zu können. Im Taumel des Sturmes raste das Gefährt seitlich über die Sjordabrücke und prallte ein letztes Mal gegen die hölzernen Balken, ehe sich der Wagen seufzend über den Brückenrand neigte, in Waage auf der Kante verharrte, knarzte und quietschte und klagte ... in der Schwebe balancierte.

Auf Messers Schneide.

Kurz vor dem Fall.

Just in diesem Moment des Innehaltens, da all die Gefühle zu Nichtigkeiten verkamen ...

... da nichts mehr zählte als die Sekunde ...

... und nichts mehr wert galt als ein Blick ...

... sah ich noch einmal in die Augen meiner Eltern, in denen so viele Emotionen glommen, ohne wahrlich gefühlt zu werden.

Furcht. Verzweiflung. Liebe. Und Trauer.

Resignation. Und Hoffnung.

Und Liebe. Mehr Liebe.

Über all diesen Dingen lag ein Schleier der Taubheit, den der Schock über unsere Gemüter gebettet und wie einen schützenden Mantel über unsere rasenden Herzen gelegt hatte.

Alles war gleichzeitig. Und nichts zählte mehr.

Mit einem letzten Stöhnen neigte sich die Kutsche unter meinen Händen zur Seite.

Dann kam der Fall. Die Welt wurde still.

Wasser.

Ich fühlte, wie mein Körper mit dem stürzenden Wagen ins Wasser der Sjorda gezogen wurde und beinahe seine Sinne an die Kälte des Herbstes verlor. Ich fühlte den Aufprall auf den stürmischen Fluten, der einem Schlag auf steinernen Boden gleichkommen wollte. Wie die Arme der Albtraumdämonen des Waldes schlangen sich nun die Wassermassen um meinen Körper, zogen mich immer tiefer in die Dunkelheit des Flusses und hielten mich dort in einer eigenartigen Schwerelosigkeit.

Die Geräusche des Sturmes schienen über der Wasseroberfläche gefangen. So sah ich mich in einer sehr stillen Welt aus Schatten treiben, erblickte die Kutsche wie in einer gefrorenen Momentaufnahme der Zeit durch die Wellen wirbeln und meine Familie – allesamt reglose Silhouetten – wie Treibgut im Wasser. Auch meine Glieder hatte der plötzliche Kälteschock taub werden lassen, sodass ich mich nicht in ihre Richtung bewegen konnte.

Schock. Da war bloß noch der Schock.

Es war, als müsste ich hilflos mitansehen, wie Mutter, Vater, Delling und Sveinn von den Strömen der Sjorda fortgerissen wurden; als müsste ich es hilflos mitansehen und könnte nicht mit ihnen gehen.

Ich wollte schreien: »Mama! Papa! Delling! Sveinn!«

Ich wollte weinen. Nichts geschah.

Eine Flutwelle drückte meinen Kopf gegen einen Felsen.

Schwärze.

***

Helles Licht bohrte sich speergleich durch meine Augenlider und brannte sich viel zu hell auf die Netzhaut, als ich endlich wieder einen Atemzug in die Waldesluft wagte. Tatsächlich kam es dem Atemzug eines Ertrinkenden gleich, denn ich blähte meine Lungen bis in die letzten Winkel hinein und hätte den Atem wohl am liebsten bei mir behalten. Der Sauerstoff erschien mir so unendlich kostbar.

»Ein Traum ... nur ein Albtraum ... nur Erinnerung«, flüsterte ich.

Meine Hände hielten sich noch immer um eine knorrige Eichenwurzel geschlossen und verkrampften an Ort und Stelle zu funktionslosen Anhängseln meines Körpers. Sämtliche Muskelfasern hatten sich im Kampf mit dem Albtraum angespannt und in steinerne Klumpen voller Schmerzen verwandelt, sodass ich mich noch immer nicht von der Stelle zu rühren vermochte.

Ich war wie paralysiert.

»Ein Traum ... nur ein Albtraum ... nur Erinnerung«, flüsterte ich noch einmal.

»Joran«, hauchte mir nun auch die Stimme des Waldes ins Ohr. »Es ist lange vergangen. Es ist vor Jahrhunderten geschehen. Es war nur ein Traum. Nur ein Traum ...«

Dennoch ...!

Ich öffnete die Augen und blinzelte gegen das Tageslicht, das ich schon vor einhundertzweiundvierzig Jahren nicht mehr hätte sehen dürfen. Es fühlte sich wie ein Biss des verbotenen Apfels an. Ich hätte wohl wie jeder andere Mensch mit meiner Familie ertrinken und auf ewig in den Fluten der Sjorda verloren gehen müssen, als wäre ich selbst kaum mehr als verwaschene Erinnerung eines Lebens ... und doch ... war ich hier, lebte, träumte, albträumte und atmete. Jeden Morgen wieder fühlte ich mich wie ein Toter in einer sterbenden Welt – fühlte mich gefangen in Erinnerungen und toten Träumen, in einer lange vergessenen Vergangenheit und den Gedanken an diesen einen, so schicksalhaften Tag.

An diesem Tag wurde ich zum Absatz einer Legende – kaum mehr als eine vergessene Zeile.

Ich wurde zu einem Todeslosen und lernte mit jedem Tag meines erbärmlichen Lebens: Die Leute wussten nie, was sie sagten.

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