Ist Liebe übermächtig?
Ich bekomme kaum mit, wie mich Kili durch die dunklen Gänge schleppt, zu sehr stehe ich noch immer unter Schock und die unablässig rinnenden Tränen nehmen mir die Sicht. Erst als er mich durch die Tür in die verlogene Sicherheit meiner Gemächer schiebt und den zitternden Körper in den großen Sessel setzt, komme ich langsam wieder zu mir. Gleichwohl nehme ich nur dumpf wahr, wie er wenige Kerzen entzündet und den Raum damit in ein flackerndes Zwielicht hüllt. Kriechend kehrt Leben, Empfindung und Bewusstsein zurück, als ich mich zwinge meine Gedanken auf das Spiel von Licht und Schatten an den golddurchwirkten Wänden zu konzentrieren. Ich zittere am ganzen Leib, die Wangen brennen, der Biss am Hals schmerzt unsäglich, die Handgelenke sind geschunden und blutunterlaufen und ein schneidender Schmerz zuckt bei jeder Bewegung durch meinen Körper. Aber keine dieser Wunden und Qualen ist auch nur annähernd vergleichbar mit denen in meinem Herzen.
Wie durch einen neblig-schweren Dunst bemerke ich, wie sich Kili vor mir auf die Knie fallen lässt. Ich sehe, dass sich seine Lippen bewegen, aber nur allmählich dringen seine Worte zu mir durch. „Bei Durins Bart, was hast du dir nur dabei gedacht ihn alleine gegenüber treten zu wollen ... hat dir der Ausbruch heute früh nicht gereicht?!" Seine Stimme klingt ungewöhnlich eisig und vorwurfsvoll und ich sehe ihn schockiert an. „Ich wollte doch nur ... ich hätte doch niemals damit gerechnet, dass er ... bei Ilúvatar, dass er zu so etwas fähig sein könnte ... mitnichten hätte ich das jemals von ihm gedacht ...", wimmere ich bebend und breche erneut in Tränen aus. Kilis Blick wird sofort sanfter und er zieht den von aufbrausenden Weinkrämpfen erschütterten Körper in eine tröstende Umarmung. „Verzeih, ich wollte dich nicht so hart tadeln ... der Schrecken und die Fassungslosigkeit sprachen aus mir", erklärt er mir beruhigend, aber die wie ein harter Felsbrocken auf mich fallende Erkenntnis, dass er seinen geliebten Onkel in solch einer Situation sehen musste ... vollkommen eingenommen von Gier, Wut und Wahnsinn ... zu Taten fähig, die jeglicher Vorstellungskraft entsagen ... und was das in ihm auslösen muss, lässt mich nur noch verzweifelter und unglücklicher werden.
Zaghaft nehme ich das Klopfen an dem dunklen Holz der Tür wahr und wie wenig später Balin neben uns tritt. „Bei Mahal, was ist passiert?", will er sofort wissen, aber als Kili mich zaghaft etwas von sich entfernt und er dadurch meinen aufgelösten Zustand, die zahlreichen Wunden und die zerrissenen Überreste des einst edlen Unterkleides bemerkt, weiten sich seine Augen verstehend. Er fragt Kili etwas in Khuzdûl und der junge Zwerg schüttelt mit einer Erwiderung seinen Kopf. Aus seiner Auskunft kann ich nur die Wörter „Nein" und „Hilfe" entschlüsseln, wenige Fragmente dieser geheimnisvollen und faszinierenden Sprache, die ich während unserer langen gemeinsamen Zeit zumindest etwas allein durch Zuhören und Kombinieren erlernen konnte.
Balin legt schützend eine Decke um die entblößten Schultern und kniet sich ebenfalls zu mir hinunter. „Geht es dir gut?", fragt er führsorglich und lässt die schwieligen Daumen untersuchend über die geröteten Striemen meiner Handgelenke und den blutenden Biss am Hals wandern. Ich nicke zaghaft, auch wenn es eine ungenierte Lüge ist ... denn überhaupt nichts ist gut ... schon so lange nicht mehr. „Er hat nicht ... zumindest nicht gänzlich", stottere ich und erneut wollen sich Tränen ihren Weg nach draußen bahnen, als die Erinnerung wie eine Flutwelle zurückkehrt. Balin sieht mich wissend um meine Gefühle und Ängste an und erhebt sich wieder. „Wo ist er?", möchte er flüsternd von Kili erfahren, der sicherheitshalber Stellung an der Tür bezogen hat. „Fili, Dwalin und Gloin haben ihn in der Schatzkammer festgehalten, während ich mit Bil hierher geflohen bin. Ich hoffe, sie konnten ihn beruhigen", erwidert der junge Zwerg und plötzlich klopf es erneut.
Misstrauisch öffnet Kili die Tür einen Spalt breit und schließlich gänzlich, als er erkennt, dass sein Bruder davorsteht. Fili sieht mitgenommen und unglaublich erschöpft aus. Seine Kleidung ist zerrissen, Schweiß und Schmutz vermischen sich zu einer klebrigen Masse, die sein Gesicht und die Arme bedeckt und vereinzelt kann ich Prellungen und Abschürfungen darunter erkennen. Die Gewalt und Wut Thorins schien unermesslich zu sein und ich atme schluchzend aus, als mir klar wird, wie nah wir alle vielleicht sogar dem Tod standen. Balin stellt seine Frage erneut und nachdem Fili einen kurzen mitfühlenden Blick auf mich geworfen hat, antwortet er ihn verbergend vor mir in Khuzdûl.
„Wählt verdammt noch mal eine Sprache, die ich auch verstehe ... es ist mein Recht zu erfahren, was mit ihm geschehen ist!", werfe ich augenblicklich erbost über diese Geheimnistuerei ein und stehe verdeutlichend auf, dass Zittern meiner Beine und den plötzlich aufkommenden Schwindel so gut es geht ignorierend. Die Zwerge sehen mich überrascht über diese ungewöhnlich deutlichen und fast herrischen Worte an. „Dwalin hat es nach einigen Mühen geschafft ihn kampfunfähig zu machen ... wir konnten ihn danach in sein Gemach bringen und er und Gloin bewachen ihn erst einmal, bis wir sichergehen können, dass der Einfluss des Schatzes zumindest etwas weniger geworden ist", berichtet Fili schließlich und ich sacke bestürzt und beschämenderweise auch ein klein wenig erleichtert zurück auf die Sitzfläche. Fassungslos verdecke ich das tränenklebrige Gesicht mit den Händen. „So weit ist es also bereits gekommen ... dass wir ihn nur mit Gewalt bändigen können", stoße ich entsetzt aus.
"Du hättest ihn sehen sollen, Balin. Thorin war nicht mehr er selbst ... er schlug rücksichtslos um sich, fluchte und ständig sprach er davon, dass Bil ihm gehöre, dass niemand anderes sie jemals besitzen soll ... eher würde er sie und sich ...", flüstert Fili stockend und als ich ihn erschrocken ansehe, erkenne ich in nur in seinen Augen, wie der Satz enden sollte. „Bei allen Valar ...", flehe ich erstarrt und angstvoll und augenblicklich zuckt das Bild seines von Wahn gezeichneten Gesichtes vor mir auf. „Du hast recht Fili ... das was ihr gesehen habt ... das Wesen, das eben in dieser Höhle wütete ... das war nicht Thorin", beginne ich schließlich leise, nach einigen unendlich erscheinenden Minuten des fassungslosen Schweigens zwischen uns, „... es war der Drache." Augenblicklich sehen mich die Zwerge verwirrt an. „Ihr habt Smaug nicht gegenübergestanden, nicht in sein Angesicht gesehen, nicht mit ihm gesprochen ... in seinen Augen herrschte die gleiche emotionslose Leere, sein Antlitz war genauso scheußlich entstellt, seine Worte ebenso vom Wahn durchdrungen. Er war ein Geschöpf voller Hartherzigkeit, Habgier, Groll und Eifersucht ... genauso wie Thorin es jetzt ist."
Erneut legt sich ein bedrückendes Schweigen über uns, dröhnend erfüllt von Verzweiflung, Furcht und Leid. „Es ist diese ruinöse Gier nach absoluter Macht und vollumfänglichen Besitz ... die Drachenkrankheit in ihrer grausamsten und verhängnisvollsten Ausprägung, die sein geschwächtes Herz immer fester umklammert, wie eine gewaltige Klaue. Da Thorin den Arkenstein nicht sein Eigen nennt und dieses Verlangen damit stillen kann, vergreift er sich an dem, dass er noch viel mehr begehrt, aber in seinem Wahn nur mit Gewalt erreichen kann ... und darin ist ihm alles andere gleichgültig", klärt uns Balin schließlich auf und lässt mich hart den sich augenblicklich bildenden Klumpen aus Schuldgefühlen herunterwürgen. Was bin ich nur für ein Unglücksbringer ... all das Leid, den Hass und Kummer ... alles habe ich herbeigeführt ... Nicht nur, dass ich sein Herz mit meinen Worten entkräftet habe, nein, mit dem Verbergen des Arkensteins musste ich alles nur noch schlimmer machen ...
Laut knarzend öffnet sich die schwere Holztür zu dem kleinen Raum, den ich bereits vor einigen Wochen gefunden, aber damals noch keine große Beachtung zugesprochen habe. Der Geruch nach altem Staub, schwerem Rauch, verbrannten Kerzen, rostigen Eisen und modrigen Pergament umweht mich ... ein Aroma, das mir bereits vertraut ist und so abstoßend wie es am Anfang war, jetzt schon fast wieder Geborgensein und Sicherheit hervorruft. Winzige, durch den leichten Durchzug aufgeworfene Partikel schweben durch die stickige Luft und flimmern in dem einzelnen Sonnenstrahl, der durch den kleinen Lichtschacht hindurchfällt. Als ich die Tür wieder hinter mir schließe, ist es still um mich herum ... aber anders als in den Gängen, ist sie fast wohltuend ... denn genauso wie die dicken Mauern und Bretter jegliches Geräusch vom Hineindringen abhalten, so vermag es auch kein schlechtes Gefühl einzudringen ... zumindest hoffe ich das.
Langsam gehe ich auf den kleinen Altar am anderen Ende des Raumes zu. Der gesammelte Dreck der vergangenen 170 Jahre auf dem Boden knirscht leise unter meinen Schritten, auch wenn ich versuche so leichtfüßig wie möglich zu sein, um die sich wie eine wohlige Decke über mich legende tröstende Lautlosigkeit nicht zu durchbrechen. Auf dem Tisch, der sorgfältig und faltenlos mit einem ehemals weißen und jetzt eher grauen Tuch bedeckt ist, steht ein Edelstein ... oval und facettenreich geschliffen ... feurig-rot im schwachen Licht brillierend ... eingebettet in ein filigranes Metallgebilde, das wie die lodernden Flammen einer Esse anmutet. Um ihn herum stehen schon längst verdorrte und zu Staub zerfallene Blumengebinde, kostbare Schmuckstücke und allerhand Zierrat ... Bittgaben einer lang vergangenen Zeit an einen allgewaltigen Heiligen.
Der Valar Aule ... Schmied und Meister des Wissens, der Materie, der Künste und aller Handwerke ... erschuf einst die Urväter und -mütter der Zwerge und bettete sie zu Paaren unter die Berge Mittelerdes, bis die Kinder Ilúvatars ... die Elben und Menschen ... erwachten. Jedoch Durin ... den ersten dieser Art ... legte er einzig einen großen roten Edelstein zur Seite ... denn er war der Machtvollste und Begabteste der Zwergenväter und jeder der sechs anderen Häuser sollte einmal sein Blut in ihren Linien tragen. Als Balin mir diesen Urglauben einst offenbarte ... in der Friedlichkeit der Wälder des Auenlands, deren Erinnerung fast verblasst ist ... hing ich zusammen mit Kili und Fili an seinen Lippen, sog jedes einzelne Wort auf wie ein ausgetrockneter Schwamm ... Aber ich nahm sie wahr wie ein Kind, das ein Märchen vorerzählt bekommt und die wahre Bedeutung in ihnen, kann ich erst jetzt vollends erfassen.
Das Haus Durins ist stark und mächtig ... brachte Könige und Krieger hervor, die jeden Heldenmythos meiner Bücher bloßstellt, ja fast beschämt ... und Thorin ist einer von ihnen ... auch wenn von dem einstigen Heros kaum mehr ein Funke zu existieren scheint. Sein Geschlecht vereint die Linien aller Zwergenhäuser miteinander und genau deswegen ist er auch ohne den Arkenstein der König der Könige.
Und noch eines ist mir erst jetzt klar geworden. Jedes Wesen Mittelerdes kennt seine Herkunft ... seinen Gestalter ... Maiar, unter ihnen Sauron, die Istarie, die Adler und Balrogs, sind materialisierte Geistwesen und genauso wie die anderen Ainur Schöpfungen Ilúvatars ... Elben und Menschen sind die Kinder Erus und die Ainur kündigten sie in ihren Schöpfungsliedern an ... die Fauna und Flora wurde durch die Valar erschaffen ... Vögel, Ents, Bestien, Insekten, Fische, Säugetiere, Monster ... selbst Orks und Drachen sind die Kreation Melkors ...
Aber wir Hobbits ... niemand weiß woher wir kommen ... welcher der Ainur uns erdacht hat ... wer unsere Urväter sind ... ob wir überhaupt ein Recht haben auf Arda zu wandeln. Linien und Häuser existieren zwar, aber keine brachte bis jetzt unvergessene Helden hervor. Wir leben im Schatten ... einzig die Natur und wir selber sind uns wichtig. Wie kann ich mir also anmaßen dem König der Zwergenkönige helfen zu können ... ich habe weder das Recht noch die Macht dazu ... bin unwürdig in Entstehung und Geschlecht.
Behutsam ziehe ich den kleinen Holzdrachen aus meiner Tasche und platziere ihn zwischen den anderen Gaben. Er wirkt fremdartig inmitten der ganzen ehemaligen funkelnden Dingen und Geschmeiden, aber er ist mir das Kostbarste, das ich momentan besitze und deshalb hoffe ich, dass Aule ihn dennoch annimmt. Achtsam trete ich einen Schritt zurück, lasse mich nach kurzem Zögern auf die Knie fallen, neige ehrfürchtig den Kopf und lege die gefalteten Hände in meinen Schoß.
„Allmächtiger Aule ... Schöpfer der Gebirge und Zwerge ... Herr über alle Rohstoffe Ardas ... den, den die Zwerge Mahal nennen ... Auch wenn ich nicht zu hoffen wage, dass Ihr mich erhört, denn kein Wesen ist unwürdiger, Euch anzubeten, vertraue ich darauf, dass Ihr Eurem Geschöpf helfen werdet ... denn ich kann es nicht. Spendet Thorin, Sohn Eures geliebten Sprösslings Durin, die Kraft und Stärke, die er benötigt, um diese Krankheit von der er befallen ist zu bezwingen ... Lasst ihn wieder zu dem werden, den ich liebe und achte und bewundere ... Bewahrt ihn und meine Freunde vor dem sinnlosen Tod, der auf sie wartet, wenn er nicht zur Vernunft kommt. Ich flehe Euch an, nehmt ihn mir nicht weg ... lasst mich ihn nicht verlieren ... Auch, wenn ich für dieses Unglück vollumfänglich verantwortlich bin."
Die Worte fließen gedankenlos einfach so aus meinem Mund, als scheinen sie direkt von meinem Herzen gebildet zu werden. „Ich liebe ihn so sehr, dass es mein Dasein fast schon schmerzt ... ich würde für ihn in den Tod gehen, wenn es sein muss, oder es meinen Einfluss mindert." Tränen steigen mir in die Augen, fallen schließlich schwer und nass und unkontrolliert auf meine Hände. Und plötzlich fühle ich, wie etwas meine brennende Wange streift ... federleicht, als wäre es nur ein Windhauch. Erschrocken sehe ich auf ... die Luft vor mir beginnt zu flimmern und etwas unbeschreiblich Machtvolles scheint sich darin zu materialisieren.
Ich spüre die unbändige Kraft und umfassende Bedeutung die von der Erscheinung ausgeht bis in den tiefsten Abgrund meiner Seele und sie nehmen mir fast die Besinnung. Mit einer Ohnmacht kämpfend beuge ich mich nach vorne und stütze meine Hände auf dem schmutzübersäten Fußboden ab. Eine Stimme erklingt in meinem Kopf ... beunruhigend mächtig und achtunggebietend ausdrucksvoll und ich stöhne durch die dumpfen Qualen auf, die sie mir bereitet. Sie spricht in einer alten und in Mittelerde nicht genutzten Sprache zu mir ... Valarin ... die Muttersprache der Valar und Maiar ... aber wie durch ein Wunder, kann ich sie verstehen. „Warum denkst du, dass du unwürdig bist Thorin zu retten?", fragt mich die Stimme ... kraftvoll und erhaben ist ihr Klang und ohne dass sich mein Mund bewegen muss, kann ich ihr antworten, allein durch meine Gedanken. „Ich bin ein Hobbit ... ein Geschöpf ohne Ansehen und Gewalt ... minderwertig im Angesicht seiner Herrschaft und Erhabenheit", erwidere ich verunsichert. „Aber dennoch verbindet euch eine Macht, die größer ist als Rasse, Rang, Stand oder Abstammung ... Warum misst du dieser Hingebung, die durch Eru und die Valar heraufbeschworen wurde, so wenig Bedeutung zu?", fragt sie mich eindringlich und fast belehrend ... aber ich finde darauf keine Antwort. Schwer fallen die Tränen auf den staubbedeckten Boden und verbinden sich mit ihm zu einer klebrigen Masse, als mir klar wird, dass sogar die Götter unsere Verbundenheit erweckt haben und billigen. „Liebe ist übermächtig und allumfassend ... trau ihr zu, dass sie ihn rettet ... geschätztes Kind Ardas ..." Und dann ganz plötzlich, ist die Vision vergangen ... nur die kleinen Staubpartikel schweben wieder durch die unbewegte Luft. Schwerfällig und mich unglaublich schwach fühlend, ziehe ich mich an dem Tisch nach oben. Mein Blick gleitet über die Bittgaben und der kleine Holzdrache unter ihnen ist auf einmal verschwunden.
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