Im Schatten der Gedanken

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Kaum habe ich meinen Willen fest bekundet, erhebt sich Mandos. Schwarz und unheilvoll ist seine Erscheinung, mächtig die dunkle Aura, die von ihm ausgeht und sein Eintreffen auf dem einstigen Schlachtfeld kommt mir in Erinnerung. Begleitet von Todeshauch und Eiseskälte, finster und ungerührt von dem Flehen und Bitten der in Trauer Zurückbleibenden und Sterbenden, wenn er ihre Seelen in seinen Mantel aufnimmt um sie in seine Hallen zu begleiten, die noch nie ein lebender Sterblicher betreten hat.

Nur ein einziges Mal ließ er Gnade walten. Wurde von Mitleid ergriffen, als Luthien dereinst voller Trauer um ihren Geliebten Beren das schönste Lied für ihn sang, dass er jemals hörte, gebildet aus Leid und Kummer und der wahrhaftigen Liebe, die sie für ihn empfand. Ich senke Ehre erbietend und ängstlich Haupt und Augen nieder, als er vor mich tritt. Langsam hebt er die knöcherne Hand und sie kommt kalt, oh so eisig wie Gletscherkälte, auf meinem Kopf zum Erliegen. Und kaum, dass sie mich berührt, beginnt sich die Erstarrung des Todes in meinem Körper auszubreiten. Kriecht in jeden Muskel, jedes Blutgefäß, jeden Winkel des Daseins und lässt das Denken gefrieren. Einzig der kleine Drache in meiner Hand spendet Wärme ... das glühende Feuer der Hoffnung.

Als die Kälte so schnell wie sie sich ausdehnte verschwunden ist und ich die Augen wieder öffne, befinde ich mich zumindest gefühlt nicht länger in der Halle, in der der Ring des Schicksals einberufen wurde. Denn Dunkelheit umschließt mich. Undurchdringlich und still und plötzlich steigen entsetzliche Ängste in mir auf. Eine schauderhafte Furcht, die ich seit der Schlacht der fünf Heere nicht mehr empfinden musste. Bilder von tobenden Flammenmeeren, verstümmelten toten Leibern und qualvoll sterbenden Kriegern jeder Rasse materialisieren sich jählings in der Schwärze. Gläserne Augen, die starr und stumm die Ankunft der eigenen Seele in den Ewigen Hallen erblicken. Schreie und Wehklagen dröhnen in den Ohren und vermischen sich mit dem unerträglichen Flehen um Gnade.

Aber da ist auch Schönheit, wenn auch wenig. Nur ein reiner Funke in der verkommenen Abscheulichkeit des Leidens. Friedvoll verstorbene Wesen, schlafend erscheinend, wenn nicht das Fehlen der Atembewegung wäre. Fast idyllische letzte Momente eines langen erfüllten Daseins, die sich so essenziell von denen des grausamen Herausreißens aus mitunter erst wenigen vergangenen Lebensjahren unterscheiden.

Und das Leid, das Mandos über all die Zeitalter in sich aufnehmen musste, ist grässlich und erbarmungslos und damit kaum zu ertragen. Ich breche weinend zusammen, niedergedrückt von dem grausamen und unerbittlichen Tod, der mich umgibt. „Warum zeigt Ihr mir das?", jammere ich und versuche die Ohren vor dem Wehklagen zu verschließen, meine Seele zu schützen, die unter der Last der schrecklich-schönen Trauer zu zergehen droht. „Damit Ihr versteht, warum Mitgefühl eine Schwäche ist, die ich mir im Gegensatz zu meinen Brüdern und Schwestern im Geiste nicht erlauben kann. Jegliche Anteilnahme an dem Leid der Sterbenden würde mich zerstören, so wie sie Euch bereits nach wenigen Momenten zerrüttet."

Ich spüre seine kalte Hand an meiner Wange und augenblicklich verstummen Klagen und Schreie. „Aber dennoch vermochten Eure Worte Mitleid in mir zu Erwecken. Ich war es, der Euch die Chance auf die Erfüllung Eures Wunsches ermöglichte. Manwe ist weise und einflussreich, aber auch er besitzt nicht die Kraft über Leben, Tod und die Rückkehr zu entscheiden. Meine Hallen und die Verfügung über die darin Verweilenden sind ihm verwehrt ... schon immer ... ohne Ausnahme. Nehmt diese Möglichkeit als Anerkennung der Unverzagtheit und Stärke und wahrhaftigen Liebe, mit denen Ihr mir dereinst entgegentratet. Eine Belohnung dafür, dass Ihr die Aufnahme so vieler bereits zum Fallen verurteilter Seelen verhindert habt. Dass Ihr ihnen ermöglichte ein Leben voller Glück und Freude zu erleben. Denn das Sterben auf dem Schlachtfeld war nicht nur Thorin, sondern auch Fili und Kili von Eru vorbestimmt und wurde nur durch Euer Eingreifen verhindert ... das endgültige Erlöschen von Durins Linie wurde abgewendet ... durch Euch."

Seine Worte graben sich tief in meine Seele und treiben die Tränen in die Augen. „Wie viele Leben wären nicht entstanden, wenn Ihr nicht den Mut gefunden hättet die Hoffnung niemals aufzugeben. Vertraut auf diese Unerschrockenheit, wenn Ihr durch meine Hallen wandelt und den Euren sucht", rät er mir abschließend und dann plötzlich ist die kalte Hand verschwunden.

Schwankend erheb ich mich wieder, ignoriere mit aller Macht Gedankenkälte, Schwindel und Übelkeit, die der Tod in mir heraufbeschwor und nachdem ich endlich die Entschlossenheit gefunden habe wieder aufzublicken, ist es nicht mehr allein Dunkelheit, die mich umfängt. Ich stehe in einer riesigen Halle. Schwarz bis rötlich glitzern Wände und Boden, bestehend aus einem noch nie gesehenen Gestein, dass sich bei näherer Betrachtung diese Bezeichnung noch nicht einmal geben lässt. Denn unzählige kleine Diamanten, eingeschlossen in so etwas wie Glas, lassen sich erkennen. Das wenige Kerzenlicht bricht sich in ihnen und dadurch erscheint es nur als würden sie aus festem rötlich-schwarzen Material bestehen. Banner durchbrechen das handwerkliche Wunder, zeigen mir Abbildungen der zwei Bäume des Lichts, Telperion in Silber und Laurelin in Gold glänzend. Auch die Symbole der Stämme Mittelerdes finden hier Ehre, indem sie inmitten denen der Valar hängen. Und als mein Blick auf das Banner Durins fällt, dass ich schon so lange nicht mehr gesehen habe, überkommt mich Heimatgefühl und Schwermut gleichermaßen.

Langsam setzte ich mich in Bewegung. Die Schritte verursachen allerdings keinerlei Geräusche, selbst für mich als leiser Hobbit ungewohnt und beklemmend. Kein Schall hallt von den Wänden wider. Sogar das leise Rufen, das ich mir schließlich zutraue, scheint unerbittlich vom Zwielicht verschluckt zu werden. Ängstlich wandern die Augen durch die Weitläufigkeit allein dieser Ankunftshalle. Wie bei Mahals Willen soll ich hier nur Thorin finden?! Und dann erklingt Estes und Mandos Rat in meinem Kopf. Ich muss auf mein Herz vertrauen, dass mir den Weg zu seinem fehlenden Teil weisen wird ... Nun denn ... Tief atme ich ein, versuche jegliches rationale Denken durch Fühlen zu tauschen, das ich mit dem Bild Thorins in meinem Inneren heraufbeschwöre und setze plötzlich beinahe mechanisiert einen Fuß vor den anderen.

Mein vom Herz geleiteter Weg führt durch Hallen, so hoch und endlos wie keine vergleichbaren in Erebors Tiefen. An ihren Wänden sitzend, auf den Böden kauernd oder in der Luft schwebend verweilen die Geistwesen von Menschen und Elben. Vaires Kunstwerke schmücken die Mauern, erzählen formvollendet von den Großtaten der hier verweilenden Seelen. Ihre Gedanken und Erinnerungen tanzen in wabernden Blasen über ihnen. Schöne, die mir die Tränen der Rührung in die Augen treiben und Schreckliche, deren darin erlebter Schmerz beinahe greifbar ist und mich erschaudern lässt. Geschehnisse aus allen Zeitaltern ziehen an mir vorbei. Begebenheiten die ich bislang nur aus Geschichtsbücher oder heroisierten Erzählungen kannte. Brutale Schlachten, Erbauung und Fall prachtvoller Städte, Krönungen erhabener Herrscher, die die Geschichte Mittelerdes beeinflussten, Mord, Geburten, Hochzeiten, Liebesnächte, Lachen und Weinen ... Erinnerungen so vieler verronnener Leben.

Schließlich gelange ich in eine Halle die kleiner ist als die Vorhergehenden aber dennoch gewaltig und die Macht, die in ihr herrscht, pocht dumpf in dem schmerzenden Kopf. Elbenseelen verweilen sitzend auf prächtigen Sesseln an den Wänden und die Wandteppiche und Gedanken über ihnen offenbaren mir, dass es sich um Fürsten dieser Rasse handelt. Helden und Könige, anerkannt und noch immer geschätzt, selbst Jahrhunderte nach ihrem oft grausamen Fall.

Celebrimbor, Schmied der Ringe der Macht.

Ereinion Gil-galad, Letzter hohe König der Noldor und ein Krieger, dessen Tapferkeit und Stärke noch immer Grundlagen vieler Legenden ist.

Turgon, Erbauer und dann König von Gondolin, der einst schönsten und prächtigsten Stadt Mittelerdes.

Ehrfürchtig verbeuge ich mich vor ihnen, ihren Taten und Leistungen, bevor ich weitergehe und in den angrenzenden etwas größeren Saal trete, in denen mich die Menschen erwarten, die sich mit ihren Verdiensten zu Lebzeiten ebenfalls einen Ehrenplatz in den Ewigen Hallen des Todes erworben haben.

Isildur, hoher König von Arnor und Gondor, der Sauron den Einen Ring vom Finger schlug.

Théoden, siebzehnter König der Mark, ruhmreich gefallen auf dem Schlachtfeld des Pelennors im größten Gefecht des dritten Zeitalters.

Bard, Drachentöter und erster König Thals, bei dessen Anblick ich in stille Tränen ausbreche, den einige Erinnerungen in dessen Schatten er verweilt, betreffen auch Thorin und mich.

Die Ehrerbietung die ich ihnen schenke, ist nicht weniger ehrlich und tief, als die für die Elbenherrscher empfundene. Aber besonders Bards Anblick entfacht in mir die Erkenntnis, dass ich, sollte ich die Kammern der Zwerge wirklich finden, mit den Geistwesen einiger bereits gefallenen Seelen die mir sehr viel bedeuteten haben, konfrontiert werde. Und allein der Gedanke daran ist so schmerzlich, dass er mich jetzt bereits innerlich zerreißt.

Langsam gehe ich weiter. Gelange schließlich an eine breite, in völliger Dunkelheit liegende Treppe, die nach unten führt. Der obere Absatz wird flankiert von zwei Kriegerstatuen. Nicht eindeutig zwergischer Machart zuzuordnen, denn die Runen und Symbole, die die Rüstungen zieren, kommen mir nicht bekannt vor, besser gesagt, kann ich sie in der Finsternis auch kaum entziffern. Die Zwerge glauben zwar, dass ihre Seelen ebenfalls in den Ewigen Hallen empfangen werden, aber als nur angenommene Kinder Ilúvatars weniger respektvoll als die von Elben und Menschen. Dennoch wird mir beim Anblick des bodenlosen Treppenschachtes klar, dass der Ort ihres Wartens nur anders, aber nicht weniger ehrerbietig ist. Denn Zwerge leben nicht in gewaltigen Schlössern, lichtdurchfluteten Gartenhäusern oder Gebäuden mit kleinen Wohnbereichen, die wie die Räumlichkeiten die ich bislang durchschritten habe über der Erde liegen. Wie ich nur allzu gut weiß, bevorzugen sie ihre Wohnstätten gut verborgen und geschützt in den Tiefen eines Berges anzulegen, verbunden mit verwirrenden Gängen die weitverzweigt bis in das Erdinnere hinabreichen. Warum also sollte Mandos auf Geheiß Aules ihnen diese vertraute Heimeligkeit nicht auch bis in alle Ewigkeit bereiten.

Vorsichtig betrete ich die Treppe, nehme mich an dem hohen Geländer orientierend eine Stufe nach der anderen, bis ich nach unendlich erscheinenden Momenten letztendlich an ihrem Fuße angelangt bin und in einem breiten Quergang stehe. Und obwohl mein Herz mir sagt, dass ich den Gesuchten endlich finde, wenn ich mich nach rechts wende, zieht mich eine andere Macht vorerst in die entgegensetze Richtung.

Die Tür die ich schließlich erreiche, ist erschreckend vertraut ... grün, rund, mit einem Messingknopf in der Mitte. Ich schluchze gerührt auf. Hobbits, deren Abstammung ungewiss ist, verweilen ebenfalls zusammen mit den Kindern Ilúvatars und Aules an einem Ort bis das Ende kommt und sie alle gemeinsam eine neue, bessere, da von allem Bösen und Verdorbenen unbeeinflusste Welt erbauen ... wie wundervoll und tröstend.

Ich hebe bereits die Hand und will sie um den Knauf schließen, als ein Gedanke mich zurückzucken lässt. Soll ich diese Kammer wirklich betreten? Will ich für immer verloren geglaubte Familie und Freunde wirklich sehen und den Schmerz ihres Verlustes noch einmal ertragen? Aber vielleicht ist es auch eine Vorbereitung auf das, was mich noch erwarten wird und eine Chance, erneut Abschied zu nehmen, Worte zu sagen, die ich damals nicht fand. Wem bietet sich eine solche Möglichkeit schon?

Geräuschlos wie alles in Mandos Hallen öffnet sich die Tür und der Anblick, der mich empfängt, ist furchtbar und dennoch herrlich. Wie als hätten sie bereits meine Ankunft erwartet, sitzen meine Eltern, flankiert von den geliebten Großeltern, Freuden, Tanten, Onkeln, Vettern und Basen vor mir, deutlich losgelöst von den anderen, zwar teilweise bekannten Hobbits, die an den Wänden verweilen. Meine Mutter ist jung, so jung wie sie anscheinend während der Tage war, an denen sie das einzige Mal in ihrem Leben so etwas wie Glück empfand. Langsam gehe ich auf sie zu, betrachte mit tränenschwimmendem Blick ihr friedliches Gesicht, das so ganz anders aussieht als in dem Moment ihres Todes ... freudestrahlend und ... verliebt. Die Schatten der Erinnerung, in der sie gerade verweilt, zeigt mir auch den Grund ... Thorin ... Auch er ist so jung, wie ich ihn nicht kannte, aber scheint genauso glücklich wie in miteinander verbrachten Tagen.

Ich breche lachend in Tränen aus und lasse mich vor ihr auf die Knie sinken. „Mama, es bringt meiner Seele so viel Beruhigung dich hier zu sehen, frohgemut und zufrieden", beginne ich mit zitternder Stimme zu sprechen und erschreckend zum ersten Mal, hallend die Geräusche dumpf von den glitzernden Wänden wider. „Ich weiß, dass du mich nicht hören wirst, aber lass mich dennoch erzählen, von dem Segen, der mir zuteilwurde. Thorin, dein geliebter Thorin, er erwählte mich nach einem gemeinsamen Abenteuer, von dem du dein ganzes Leben geträumt hast, zu seiner Gemahlin. Mit mir fand er das Glück, dass er sich so sehr ersehnte. Wir haben eine Tochter ... Fís ... vielleicht triffst du sie eines Tages hier. Sie ist eine wundervolle mittlerweile Frau. Mir ist so viel Gutes widerfahren und mein Leben war glanzvoll, erfüllt mit wahrhaftiger Liebe und ehrlicher Freundschaft. Das Gedenken an dich und deine letzten Worte haben mich dennoch nie verlassen. Ich bin dir so dankbar für alle gemeinsam verbrachten Jahre, für die Weisheiten und formenden Lebenserfahrungen ... für die Liebe, die du mir geschenkt hast." Ich komme mir weder dumm noch naiv vor so mit ihr zu reden, ihr alles zu offenbaren, was mir widerfahren ist, obwohl sie noch immer still und stumm als Geistwesen vor mir verweilt, ohne Gefühlsregung oder auch nur angedeuteten Hauch einer Reaktion auf meine Worte. Aber dennoch spüre ich tief in meinem Herzen ... oder glaube ganz fest daran, es zu spüren ... dass sie mich wahrnimmt und sich an den Erzählungen erfreut.

Lange verweile ich kniend vor ihr. Betrachte mit Wehmut die Geister meiner Liebsten und verabschiede mich von jeden Einzelnen erneut. Und als ich mich wieder erhebe, fühlt sich meine Seele plötzlich so befreit und heil an, wie die keines Wesens sonst, denn jegliche Trauer eines Verlustes, die eine kleine Narbe in ihr hinterließ, ist verheilt. Außer eine, die zudem die Größte ist. Aber nun bin ich gestärkt und entschlossener als zuvor, diese ebenfalls für immer verschwinden zu lassen.

Als sich das schwere Steintor mit den Runen, die von Schicksal, Macht und der Entstehungsgeschichte der Zwerge erzählen, letztendlich öffnet, erstarre ich. Wie in der Kammer der Hobbits empfangen mich die verstorbenen Freunde. Allerdings, der Schmerz des Anblicks geht tiefer, denn die Umstände ihres Todes sind es, die mich noch immer erschaudern lassen, obwohl ich von ihrer brutalen Grausamkeit nur aus vermuteten Erzählungen weiß.

Balin, Bart und Haar weiß, das Gesicht ernst und dennoch väterlich wie ich ihn kannte. Nur die intelligente Ausstrahlung eines Beraters wird nun durch die stolze eines Herrschers ergänzt. Oin, der gutmütige Heiler und Freund. Ori ... mein kleiner Ori ... und Breda, die roten Haare und das Antlitz noch immer wunderschön und ihr gemeinsamer Sohn. Beim Willen Mahals, warum nur mussten sie mit so vielen anderen nach Moria gehen um diese unheilvollen Höhlen erneut zu besiedeln.

Ich breche weinend vor Schuld vor ihnen zusammen. Balin besuchte mich mit Gandalf kurz bevor er die Mission anführte, und ich Törin ermutigte ihn auch noch dazu das alte Zwergenreich unter dem Nebelgebirge zurückzuerobern. Hätte ich es ihm doch nur ausgeredet, denn auch wenn ich nicht mehr seine Königin war, schätzte er noch immer meinen Rat. Das Grauen in diesen Höhlen, eine Macht so dunkel wie Traurigkeit und boshaft wie Feuer, ermöglicht den Kreaturen des Schreckens allzeit dort über allem Guten habhaft zu werden, das hätte ich wissen und ihm mit auf dem Weg geben müssen. Aber bei allen Selbstvorwürfen, auch von ihnen verabschiede ich mich in dem Schatten ihrer und meiner Erinnerungen an die gemeinsame glückliche Zeit unter Tränen und Lachen und Bitten um Verzeihung.

Ich erhebe mich, schwanke gefährlich unter der Heilung weitere Narben des Verlustes und gehe dennoch gestärkt an Willen und Zuversicht es zu schaffen endlich die letzten Schritte zu dem Zwerg, wegen dem ich hier bin. Thorin zu finden ich nun nicht mehr schwer, denn auch die ruhmreichen Herrscher und Helden seines Volkes erhalten einen Ehrenplatz in ihrem Teil der Ewigen Hallen ... und es sind derer viele. Allerdings Nichts von alldem das ich bislang gesehen, gehört und gefühlt habe hat mich auf den Schock seines vertrauten und geliebten Anblicks vorbereitet, den ich so lange für immer verloren glaubte.

Die schwarzen Haare nur vereinzelt durchzogen von den silbrig-grauen Zeugnissen des von Verderben reichen Lebens. Der Bart gepflegt kurz, wie er ihn beharrlich entgegen der Bezeichnung seines Volkes hielt, um an die unzähligen gefallenen Krieger seiner Zeit zu erinnern, die er in die Hallen entschwinden sehen musste, in denen er jetzt ebenfalls verweilt. Die Haltung so majestätisch und ehrerbietend wie in dem erhabenen Moment, als ich ihn das erste Mal sah und an den ich mich noch so genau erinnern kann, als wäre es erst gestern gewesen.

Er sitzt unter einem kunstvoll gewebten Banner, der mir wie das Meisterwerk Vaires erscheint, denn er ist auserlesen herrlich und fein gearbeitet und so prachtvoll verziert mit Gold- und Silberfäden wie kein anderer den ich bisher sah. Ich erkenne die Flucht vor dem Drachen. Die Schlacht um Azanulbizar, der Moment porträtiert, indem er Azog den Arm nahm, der Beinamen gebende Eichenschild gut zu erkennen. Die Besiedlung der Ered Luin und das mühevolle und verlustreiche Errichten eines neuen sicheren Zuhauses für sein Volk. Der Kampf gegen den Drachen und der Sieg über die Goldkrankheit und Azog. Der Wiederaufbau der verlorenen Heimat und die Freundschaft der Völker unter seiner Herrschaft ... Ein ruhmreiches Leben verewigt für die Ewigkeit ...

Die Schatten der Erinnerungen sind hell und es erfreut mein bei diesem Anblick so erneut schmerzlich trauerndes kleines Hobbitherz, dass sie sich um alles Gute drehen, dass wir teilweise gemeinsam erlebten.

Der glühende Stolz in den Augen seines Vaters, als er ihm zum zehnten Geburtstag das erste Schwert überreichte.

Wie er mit Bruder und kleiner Schwester über die Wiese vor den Toren tobt, noch kindlich unbeschwert von Kummer und Sorgen.

Die faltigen Hände seiner Großmutter, während sie in ihrem Lieblingssessel saß, Handarbeit tätigte und den Kindern schaurig-schöne Geschichten erzählte.

Das erste Mal, als er einen makellosen Opal sah ... sein erstes Schwert schmiedete und dafür Lob von seinem Meister erhielt ...

Die erste Zwergin küsste, heimlich unter einem Felsvorsprung in den Ered Luin, während Dwalin Wache schob, da es eine einfache aber umso hübschere Dienstmagd war.

Das freudige Lachen meiner Mutter, während sie ihn mit einem Blumenkranz krönt.

Und immer wieder Fili ... Kili ... Fís ... und ich ...

Schwer sinke ich auch vor ihm auf die Knie und schluchze haltlos. Ich bin tatsächlich am Ziel angekommen. Bin durch die gewaltigen Ewigen Hallen gewandelt und habe ihn letztendlich mit der Kraft meines Herzens und der darin noch immer grenzenlosen wahrhaftigen Liebe zu ihm gefunden. Aber dennoch steht mir die Schwerste aller Prüfungen meines Lebens noch bevor. Seine Gedanken erschließen und beeinflussen ... bei Mahal, wie soll ich das nur schaffen. Den ganzen Weg über hatte ich mir bereits darüber den Kopf zerbrochen, bin aber zu keiner Lösung gekommen. Aber dann flammt eine Eingebung auf ... Einst schenkte er mir zu meinem Geburtstag noch unbekannterweise die Erzählung von Beren und Luthien, in denen vor allem gesungene Worte Wunder bewirken, sei es nun die Überwindung von Erschöpfung und Trauer, das Bekämpfen von schrecklichen Feinden, oder die Beeinflussung des Todes.

Langsam erhebe ich die Stimme ... stimme ein Lied an, dass von Liebe und dem Schmerz handelt, denn ich wegen seines Verlustes erlitt. Von den unzähligen Dingen, die mich danach dennoch fröhlich stimmten. Vom gemeinsamem Glück Fìs' und Filis und ihren drei Kindern, die ich selbst nur einige Male sah ... Von Frodo und seiner gefährlichen Reise ... Von der Eiche auf der kleinen Lichtung im Wald und wie schmerzlich und freudig die Erinnerungen an ihn waren, während ich so oft in ihrem Schatten verweilte ...

Er liebte es dereinst, wenn ich für ihn sang, auch wenn ich es nur selten tat. Aber jedes Mal stahl sich dann dieser Ausdruck völliger Entspannung auf die Gesichtszüge und ich merkte, wie sich sein Geist von allen Verpflichtungen und Sorgen erlöste, sich in den gesungenen Worten verlor, beinahe davon schwebte. Nachbetrachtet bereue ich es nun, dass ich nicht öfters tat.

Ich blicke auf und bemerke mit bangem Herzen, dass sich die Schatten seiner Gedanken verändern. Sie scheinen zur angestimmten Melodie zu tanzen, werden größer, wabern durch den Raum, umweben sein fahles Geistwesen schließlich gänzlich, fließen über den schimmernden Boden, der durch die reflektierenden Diamanten die hellen Farben der Erinnerungen annimmt. Und als sie mich schließlich erfassen, stockt der Atem und eine eisige Kälte kriecht durch jede Ader, jeden Muskel und jeden Gedankengang ...

Ich schwebe gewichtig in dem körperlichen Zustand zwischen hier und jetzt, im Lichtschatten der Erinnerungen eines längst Verstorbenen. Und als ich schließlich mit einem Rück erneuert in meinem Körper ankomme und um Luft ringe, die mir endlich wieder gewährt wird, blendet mich hell und klar und warm die Sommersonne Rhovanions. Nur langsam gewöhnen sich die tränenden Augen an die nach der zwielichtigen Dunkelheit der Hallen ungewohnte Leuchtkraft und schließlich materialisiert sich der See unweit des Erebors, an dem wir so oft verweilten. Mitunter die glücklichsten und von allen Verpflichtungen losgelöstesten Momente meines Herrscherseins. Ich höre das Plätschern der seichten Wellen, die an das sandige Ufer schlagen, Vögel die melodisch singen. Rieche Gras, Hortensien, Flieder, Päonien, Mohn ... warme, frühlingsregennasse Steine und feuchte Erde ... und schrecke auf. Dieser Geruch ... so vertraut ... so geliebt ... so lange so schmerzlich vermisst ...

Langsam drehe ich mich um und würde ich nicht in einem Universum verweilen, indem keine Besinnungslosigkeit existiert, gnadenlos würde diese über mich hinwegrollen ... denn er steht vor mir, erhaben und lächelnd und wunderschön.

„Thorin ...", flüstere ich. Meine Stimme nicht mehr als eine Nuance abgesetzt von dem Geräusch des seichten Windes, der plötzlich aufkommt und zart-rosa-schwerelose Kirschblüten zu uns weht. Er lächelt herzlicher, dieses wundervolle sanftmütige Lächeln das ich so sehr an ihm liebe, denn es gilt nur mir. Bedächtig hebt Thorin die Hand, schmiegt sie an meine Wange und das Gefühl seiner wohligen Berührung beschwört schließlich die Tränen herauf. Zeugnis von Freud und Leid gleichermaßen. „Ghivashel ... meine Bil ... meine Königin", flüstert auch er und senkt die Lippen auf meine.

Aber kaum haben sie mich berührt, verschwindet das Gebilde des wiedererrungenen wohlig-warmen Glücks und erneut durchdringt mich Kälte und Erstarrung des unerbittlichen Todes. Und ich schreie aus Leibeskräften und dennoch stimmlos ... vor Schmerzen und Trauer und Unmut über das Herausreißen aus dieser Erfüllung aller meiner Träume ... aber es nützt nichts ...

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