Hirngespinste
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Die schmerzhaft langen Tage sind grau und kalt. Schnee fällt unaufhörlich und verbirgt immer mehr der einstigen Schrecken der Schlacht unter einer unschuldig-weißen Decke des Vergessens. Und als ob diese sichtbare Verdrängung alles Unguten auch eine Art Erlöschen in den Köpfen der im Berg Unterschlupf Suchenden heraufbeschwört, wird die Stimmung plötzlich gelöster und lebenslustiger. Kinder beginnen wieder zu spielen und entdecken mit großem Interesse die verworrenen Gänge des Berges. Verletzte gesunden, das scheußliche Sterben endet ... Gelächter und Spaß, fröhliche Stimmen und Zukunftsglauben durchfluten anstelle von entsetzlichen Klagerufen und grausamen Tod die einst dunklen, grauen Mauern und erfüllt sie mit neuem Licht.
Aber so beschwingt die aufkommende Hochstimmung durch das Begreifen, dass die Schlacht gewonnen wurde und Frieden herrscht auch ist ... mein Herz erreicht diese dennoch nicht, denn Thorin ist noch immer ohnmächtig. Ab und an öffnet er zwar kurz seine Augen, aber sie starren mich nur leer und glasig an, bevor sie kurze Zeit später wieder in den Nebel der Besinnungslosigkeit verschwinden. Seine Wunden heilen nur langsam und durch die anhaltende Bewusstlosigkeit können wir ihm weder zu essen und nur wenig zu trinken einflößen, sodass sein Körper immer mehr an Stärke verliert. Die Dringlichkeit von Entscheidungen stuft sich zur Entlastung aller herab und sie werden gemeinschaftlich und nicht mehr alleingetragen getroffen, sodass ich mehr Zeit in seinem Krankenzimmer verbringen und ihn pflegen kann, so wie es eigentlich meine einzige Aufgabe sein müsste.
Eines Abends trete ich nach einem langen und beschwerlichen Tag, in dem wir den Wiederaufbau des zerstörten Haupttores besprochen haben, in das Konigsgemach. Zwielichtige Kerzenschattenspiele empfangen mich ... golden-bezauberndes Licht wo gefühlt nur schwarz-enttäuschende Dunkelheit herrscht. Leise gehe ich in das Schlafgemach und halte bewegt inne, als ich erkenne, wer mit dem Rücken zu mir gewandt an Thorins Krankenbett verweilt. Seitdem er als Teil des Trauerzugs den verletzten König in den Berg begleitet hat, habe ich Dwalin nicht mehr gesehen. Er zog sich in die Einsamkeit zurück, eingewebt in einen Kokon aus klebrigen Schuldzuweisungen und abgestumpfter Trauer ob des präsenten Todes seines Freundes, aus dem selbst sein Bruder ihn nicht befreien konnte. Auch wenn der bullige Zwerg mit den vielen sichtbaren Zeichen von Kampf und Leid auf der Haut, dem immer mürrischen Gesichtsausdruck und den wenigen Haaren gefährlich aussieht und man sich in seiner Gegenwart immer klein und schwach fühlt, nicht nur einmal konnte ich erfahren, dass in seinem Inneren eine Seele wohnt, die sanftmütig, ja fast empfindsam, ist.
Ich verweile weiterhin lautlos unter dem Türbogen, als ich gebrochene Worte in Khuzdûl vernehme, von denen ich nur ‚Sturkopf' und ‚sterben' verstehen kann. „Du gehst davon aus, dass Thorin einen viel zu großen Dickschädel hat um unehrenhaft in einem Krankenbett einzuschlafen ... nun, daran glaube auch ich ganz fest", sage ich schließlich und Dwalin zuckt erschrocken ob dem plötzlichen Einsetzen meiner Stimme zusammen. Verunsichert wirkend dreht er sich zu mir um, ganz so, als fürchte er ich könnte ihn schelten, weil er sich so lange seiner Pflichten entzogen hat und jetzt einfach an einem ihm nicht zustehenden Platz auftaucht. Aber als ich die Tränen in seinen Augen und die fahlen, betrübten Gesichtszüge erfasse, die von so viel Kummer und Gram sprechen, verzeihe ich ihm seine Abwesenheit und kann sie sogar nachvollziehen ... wollte ich mich doch auch mehr als einmal in den zurückliegenden Wochen in einer der tiefsten Minen verbergen, um einfach nur zu vergessen.
Langsam gehe ich auf ihn zu und streiche mit der Hand beruhigend über die muskulöse Schulter, spüre mit Sorge die dicken Verbände, von denen ich weiß, dass Oin sie ihm nicht angelegt hat und beschließe, sie bei Gelegenheit zu wechseln, damit sich seine Wunden nicht entzünden. In dem Versuch Trost zu spenden setze ich mich neben ihn und wir beobachten gemeinsam Thorins ruhigen ... zu ruhigen ... Schlaf ... behüten still den besinnungslosen König ... unseren Freund und Geliebten. Einzig das Knistern der herunterbrennenden Kerzendochte durchdringt unaufhörlich die Geräuschlosigkeit der Krankenwache. „Ich schwor seiner Schwester aufrichtig auf ihn aufzupassen und habe dieses Gelübde dennoch schändlich gebrochen", beginnt Dwalin schließlich erstickt und die Schuld und einhergehende Trübseligkeit blitzt in den Augen auf. Das nur allzu deutlich zu sehende verzweifelte Versuchen dennoch standhaft zu bleiben im schrecklichen Angesicht dieser Empfindungen, ist eine unerträgliche Plage für mein Herz. „Ich hätte ihm ungeachtet der Gefahr nachlaufen sollen, bereits als er sich von uns entfernte ... so wie du ... vielleicht, wäre die Situation dann eine andere. Abscheulich ist mein Versagen und wenn er stirbt, ist es wegen dieser entehrenden Pflichtverletzung."
„Rede dir so etwas Dummes bitte nicht ein. Niemand hätte seine Verletzung verhindern können, er wollte sich Azog alleine stellen, um seine Ehre zu rehabilitieren", erwidere ich hoffentlich überzeugend klingend und blende aus, dass ich mich dieser Verstöße ebenfalls bezichtige. „Nein ... ich wollte ihn dir und Dís zurückbringen ... und Fili und Kili, die ihn lieben wie einen Vater ... und seinem Volk, damit er endlich zu dem werden kann, dass seine Bestimmung ist ... aber ich habe alle enttäuscht", entgegnet er dennoch und vergräbt das trotz jeder Beherrschung unlängst tränennasse Gesicht verbergend in den großen, schwieligen Händen, die schon zu viele blutige Schlachten bestreiten mussten. Zögernd beuge ich mich zu ihm hinüber und schließe ihn in eine heilsame Umarmung. Die Sünde die wir uns anlasten, ist erdrückend und zerrt Leib und Verstand auf, aber dieses Gespräch lässt vage die Vermutung entstehen, dass sie unberechtigt ist. Wir haben alle das möglichste umgeben von Blut und Tod und Kampf getan und sich in Hoffnungslosigkeit und Seelennot zu stürzen, hilf Thorin nicht dabei zu uns zurückzukehren.
„Solange ich denken kann, ist es meine Aufgabe gewesen ihm beizustehen ... ihn zu beschützen", schnieft Dwalin unglücklich und es tut mir unsäglich weh ihn so zu erleben. „Das kannst und sollst du auch weiterhin ... Thorin braucht uns jetzt alle um seinen Weg zurück aus Mandos Hallen zu finden", erkläre ich und schiebe ihn von mir. Er sieht so zerrissen aus, nur eine bizarr wirkende Maske des sonst so starken Kriegers skizziert auf den trauernden Gesichtszügen. „Du weißt doch, wie schlecht er sich orientieren kann ... er hat sich bestimmt schon dreimal verlaufen." Die Narretei auf Thorins Kosten schafft es tatsächlich ein kleines Lächeln herbeizuführen und es ist ein Ausdruck, der die frustrierende Dunkelheit um uns herum fast unmerklich aufhellt.
Trotz alledem, es vergehen zwei weitere Tage des ereignislosen Wartens auf Heilung bringende Veränderung und letzte Nacht entwickelte Thorin sogar widererwartend Fieber. Zusammen mit Oin und Gandalf habe ich verzweifelt versucht sein Leben zu retten, aber selbst ihr umfangreiches Wissen über Heilkräuter, die noch helfen könnten, ist nun ausgeschöpft und mit ihr jegliche Hoffnung auf einen guten Ausgang.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden forderte die Erschöpfung und Sorge dennoch ihren Tribut und ich bin schließlich entkräftet an Thorins Seite sitzend eingeschlafen. Es muss bereits auf Mittag zugehen, als ich die Augen wieder öffne und verschlafen aufblicke. Die fahle Wintersonne scheint durch den Lichttunnel in das Gemach und kleine Staubpartikel tanzen glimmend in den hellen Strahlen. Trügerische Ruhe und Schönheit in einer Umgebung, in der nur Seelennot und Unglück existiert. Schlaftrunken und trotzdem noch immer an der Grenze zur totalen Erschöpfung, reibe ich mir die Augen und der plötzlich einsetzende Schmerz an der kaum verheilten Armwunde lässt mich zischend einatmen. Der Rücken straft bei jeder Bewegung die im Schlaf eingenommene krampfhafte Position und die Schnitte am Bauch melden ziehend ihren Unmut über die Belastung. Mein Körper scheint in wenigen Tagen um Jahre gealtert zu sein.
Gebrochen und mutlos betrachte ich Thorins schlafendes Gesicht. Seine Haut ist durch den immensen Blutverlust leichenfahl und die Lippen spröde und aufgesprungen, da es uns nicht möglich ist ihm genügend Flüssigkeit einzuflößen. Ich lasse meine Hand über die trockene Haut der Wange fahren und beuge mich zu ihm hinüber, um einen federleichten Kuss auf seine Stirn zu hauchen. Das Fieber scheint glücklicherweise gesunken zu sein und ich atme erleichtert über diesen wenigstens kleinen Fortschritt vom Rückschritt auf.
In diesem Moment wird die Tür zu den Gemächern zaghaft geöffnet und Fili streckt seinen Kopf durch den entstehenden Spalt hindurch. Auch in seinem Gesicht kann ich die Spuren der seit Tagen bestehenden, unbändigen Sorge um das Leben seines Onkels erkennen und die zusätzliche Belastung als junger, unerfahrener Machthaber Entscheidungen zu treffen, die über Leben und Tod, Aufstieg und Fall bestimmen. Langsam kommt er auf mich zu, als ich ihn sanft anlächele, in der Hand einen gefüllten Teller balancierend, der bedeutungsvoll neben mir auf den Tisch abstellt, wird. „Ich habe dir etwas zu Essen mitgebracht", unterstreicht er seine Geste, aber ich schüttle nur den Kopf und wende mich wieder meinem Geliebten zu. „Danke sehr, aber ich habe keinen Hunger", entgegne ich leise und lasse mich erschöpft tiefer in den Stuhl sinken, mit der Beherrschung ringend, das Gesicht nicht in stechendem Schmerz zu verziehen.
Sofort steht er neben mir und legt unmerklich eine beeinflussende Hand auf die Schulter. „Bil, du musst etwas essen. Gandalf sagte uns, dass du das letzte Mal gestern früh etwas zu dir genommen hast. Du brauchst deine Kräfte ...", erklärt er sanft und dennoch streng und kniet sich neben mich, sodass seine so vertrauten Augen mich direkt ansehen können, „... für Thorin. Ich habe ihm versprochen auf dich aufzupassen, solange er es nicht kann und das werde ich auch." Sein mit den Worten einhergehender flehender Blick eilt in meinem Gesicht umher, die Augen trüb und dunkel umschattet von Müdigkeit. Ich strecke meine Hand aus und streiche ihm liebevoll eine Haarsträhne hinter das Ohr. Er ist in den letzten Monaten so unglaublich erwachsen und verantwortungsbewusst geworden, mehr als es ein Junge in seinem Alter sein sollte. Unser gemeinsamer Trost auf dem Wall hat uns stärker gemacht als jemals zuvor und war eine vertrauensselige Vereinbarung uns gegenseitig Halt und Unterstützung zu geben in Anbetracht der erdrückenden Pflichten und Sorgen. „Also gut ... was gibt es denn Schönes und sag bitte, Bombur hat es gekocht?", resigniere ich schließlich vor seiner eindringlichen Bitte und es stiehlt sich sogar ein kleines gelöstes Lächeln auf unsere Lippen.
„Ist Dáin bereits wieder in die Eisenberge gezogen?", frage ich Fili mir gegenüber schließlich, während ich langsam meine Suppe löffle. Die warme Flüssigkeit rinnt wohltuend die Kehle hinab und weckt neue Lebensgeister. Es war gut, dass er mich dazu überredet hat. „Ja, er hat uns aber etwa hundert Mann hiergelassen, mit denen wir bereits das Tor restaurieren konnten", antwortet er mir sofort und ich atme erleichtert aus. Auch wenn Dáins Unterstützung uns sehr geholfen hat, ich bin froh, dass kein neuerlicher Zwist zwischen den Zwergen ausbrach, solange er hier war. Gold und Edelsteine in schier unendlichen Massen, jenseits jeder Vorstellungskraft und vergiftet durch Drachenatem ist ein schlechter Beistand bei Verhandlungen um Entschädigung. „Anschließend werden wir die Gemeinschaftsräume und Unterkünfte von dem Dreck und Schutt der letzten Jahre befreien. Smaug hat viel verwüstet und es wird eine lange Zeit in Anspruch nehmen, damit der Erebor wieder im neuen Glanz erstrahlen kann", berichtet er weiter und ich sehe Aufregung und Stolz über das bereits geleistete und noch geplante in seinen Augen aufglimmen. Wunderschöne, hoffnungsfreudige Lichtpunkte in der Schwärze der Besorgnis. „Wer hat die Aufsicht?", möchte ich leicht lächelnd wissen, bereits ahnend, wie die Antwort lautet. „Oh, Balin, Kili und ich haben diese Aufgabe übernommen. Ich empfinde es als meine Pflicht, während der Abwesenheit des Königspaares für den Wiederaufbau ... der hoffentlich ganz in ihrem Sinne ist ... die Verantwortung zu übernehmen", sagt er selbstsicher und bestätigt damit meine Vermutung. Ich lächle ihn zustimmend sanft an, „du wirst einmal ein guter König werden, Fili", erwidere ich achtungsvoll und drücke somit die unermessliche Bewunderung für seine ehrenwerten Taten aus.
Irgendwann in den frühen Abendstunden bin ich schließlich erneut eingeschlafen und verbringe den unruhigen Zustand mit wirren, unheilvollen und ängstigenden Träumen, die sich seit einigen Nächten in das Bewusstsein schieben. Ich erlebe die Schrecken der Schlacht in den Albträumen erneut ... mit kleinen Abweichungen und Hirngespinsten im Ausmaß, aber niemals erhabener als sie in Wirklichkeit waren. Gläserne Augen verfolgen jede meiner Bewegungen ... ausgeweidete Leichen erheben sich ... Feinde gewinnen die Überhand und siegen über das Gute ... und oft verbrenne ich lebendig-qualvoll in den Feuern der Scheiterhaufen.
Aber die gegenwärtige Illusion ist die Bitterste von allen und sucht mich oft mehrmals pro Nacht heim. Ich sehe Azog und Thorin vor mir, auf der Eisfläche kämpfend und ich kann meinem Geliebten nicht helfen. Eine unsichtbare und übermächtige Kraft hält mich zurück, lähmt Glieder und Geist. Zum Nichtstun verdammt, muss ich mit ansehen, wie Azog Thorin sein Schwert in die Brust rammt und das Leben aus den geliebten eisblauen Augen entschwindet. Der verzweifelt-herzzerreißende Schrei, den ich daraufhin ausstoße, bringt mich schließlich zuckend zurück in die Welt des Wachseins. Dennoch halte ich meine Augen noch einen Moment geschlossen, denn die Wirklichkeit ist genauso schmerzlich wie Trauer und Kummer im Traum.
Erst als ich dämmerig wahrnehme, dass jemand mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht, hebe ich die brennenden Augenlider und sofort stockt der flache Atem. Thorins schimmernde Augen betrachten mich aufmerksam, sie strahlen klar und rein und sind voller herrlichem Leben. Langsam richte ich mich fassungslos auf und blinzle mehrmals, um mich zu vergewissern, dass ich nicht noch immer träume ... einen schönen und hoffnungsvollen Traum dieses Mal ... aber dennoch einen illusionierenden Unsinn ... ein Wunschdenken, geboren aus Verzweiflung. Aber ... bei allen Göttern ... nein ... er hat tatsächlich und zweifellos seine Augen geöffnet und starrt mich überrascht an. Seine Haut hat wieder eine lebenskräftige Farbe angenommen und auch in die Gesichtszüge ist der so lange vermisste Lebensfunke zurückgekehrt. Und ich höre Mandos endlich kapitulierend vor unserem unbezwingbaren Willen und der niemals aufgegebenen Hoffnung die Räumlichkeiten verlassen und nach Valinor in seine Hallen zurückkehren ...
Unbändige Nässe tritt unablässig in meine Augen, während ich noch immer erschrocken und ungläubig seinen Namen flüstere. Er streckt eine Hand nach mir aus und lässt die bebenden und schmelzofenwarmen Fingerspitzen wie einen Hauch so zart über die Haut der Wange fahren ... und augenblicklich umfängt mich das größte Glücksgefühl auf Erden, als ich begreife, dass er tatsächlich, wahrhaftig, unzweifelhaft zu mir zurückgekehrt ist. Schluchzend lasse ich mich auf seine Brust sinken. Fließende Tränen durchnässen den Stoff des Unterhemdes, in das ich mich besitzergreifend klammere, so als ob ich befürchte, er würde im nächsten Moment wieder von mir gehen. „Mahal hab Dank ... du bist wieder bei mir", weine ich aufgewühlt und merke, wie durch das Geräusch aufgeschreckt, nun auch Fili erwacht und seinen Onkel überglücklich umarmt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top