Dort wo alles begann

Mit aller Macht erkämpft sich der Frühling seinen Sieg über den Winter. Die ersten Frühblüher stecken zaghaft ihre Köpfe aus der teilweise noch schneebedeckten Erde und der laue Wind bringt den harzig-frischen Geruch des erwachenden Waldes mit sich. Es ist still an diesem frühen nebligen Morgen. Selbst die Wachen auf der Festungsmauer haben mich nach einem berührten Blick alleine gelassen. Einzig die Banner, die im Wind neben mir wehen und die höhnisch freudig zwitschernden Vögel verursachen ein Geräusch.

Ich lasse meinen Blick über die Ebene gleiten, fixiere Thal, folge mit den Augen den Fluss, bis er in den glitzernden langen See mündet und versuche die Seestadt und den dahinterliegenden Grünwald im aufziehenden Morgendunst zu erkennen. Bekümmert schaue ich auf meine Hände, die die steinernen Zinnen umschließen. Auch ich trage die Zeichen der vielen Lebensjahre an mir, wenn auch weniger ausgeprägt, als es für einen Hobbit in meinem Alter üblich ist. Der Wind weht mir die beinahe ganz ergrauten Haare ins Gesicht, die ich seit Thorins Tod offenhalte, unfähig seine Perlenkette zur Hand zu nehmen. Ich trage keinerlei Schmuck, außer seiner Halskette und noch immer Trauer ... nicht nur von außen, sondern auch von innen.

Es ist nun schon einige Tage her, dass ich einen Entschluss gefasst habe, der mein jetziges Leben, das mir so sinnlos und leer erscheint, grundlegen verändern wird und fast muss ich schmunzeln, als ich mir in Erinnerung rufe, wie sehr es sich schon einmal gewandelt hat ... an dem Tag, an dem ich Thorin das erste Mal sah. „Amad?", höre ich plötzlich eine vertraute Stimme und als ich mich umsehe, erblicke ich meine Tochter ... meine wunderschöne Fís, die ihrem Vater so ähnlich ist. Tonlos strecke ich meine Hand nach ihr aus und sie ergreift sie zärtlich und lässt sich an meine Seite führen. Gemeinsam betrachten wir das, was Thorin in den vielen Lebensjahren geschaffen hat.

„Versprich mir bitte, dass du auf Fili und die Anderen Acht gibst", beginne ich schließlich leise und sie schaut mich verwundert an. „Was soll das Bedeuten, Amad?", möchte sie sofort wissen und als ich zu ihr hinaufschaue, sehe ich die Augen von Thorin ... eisblau und leuchtend wie ein reiner, makelloser Diamant. „Ich werde euch verlassen ... ich gehe zurück ins Auenland", kläre ich sie über meine Pläne auf und augenblicklich perlen erste Tränen über ihre Wangen. „Aber ... das ... das kannst du nicht machen ... wir brauchen dich hier ...", wimmert sie verzweifelt und schließt mich in eine feste Umarmung. Einen Augenblick genieße ich die vertraute und wohltuende Nähe, bevor ich sie sanft von mir schiebe.

„Doch das kann ich mein Kind ...", beginne ich ruhig und trotzig wie ich es mir über all die Jahre angeeignet habe und entferne sanft die nicht enden wollenden Tränen. „Ich habe dort eine neue Aufgabe ... ein Neffe von mir hat seine Eltern bei einem Bootsunglück verloren. Sein Name ist Frodo und ich werde ihn bei mir aufnehmen ... in Beutelsend ... ich habe dir einst von meiner früheren Höhle erzählt und wie wundervoll es dort ist." Fís beginnt zu zittern und schüttelt ihren Kopf, sodass die schwarzen Locken über die Schultern fallen. „Dann begleite ich dich ...", schluchzt sie, aber ich verneine bestimmt.

In diesem Moment tritt Fili auf die Festungsmauer und für einen Wimpernschlag denke ich, dass es Thorin ist, so herrschaftlich und erhaben wie er wirkt, gekleidet in königsblaue Gewänder und mit der Rabenkrone auf dem stolz erhobenen Haupt. „Nein mein Kind ... du musst hierbleiben ... denn dein Platz und deine Aufgaben liegen in diesem Berg", sage ich sanft und bette ihre Hand bedeutungsvoll in die des Königs, nachdem er uns erreicht hat. „Heirate Fili, werde glücklich ... so wie ich es einst war ... herrsche als selbstbewusste und weise Königin unter dem Berge mit ihm über den Erebor und führe das Vermächtnis deines Vaters fort."

Beide sehen mich verwundert und beinahe schuldbewusst an, haben sie die Gefühle, die sie schon so lange Zeit füreinander hegen, doch noch nie jemanden außerhalb ihrer Gemächer gezeigt. Hingegen ich erkannte die anfänglich zart reifende und dann endlich in voller Pracht blühende Liebe zueinander schon vor so erstaunlich vielen Jahren. An den vielsagenden Blicken, den behutsamen Berührungen und nicht zuletzt, an dem kostbaren Diadem aus Mithril und Rosenspat, das neue dunkelblaue und mit Silberfäden durchwirkte Kleid, den Armreif aus Saphir, dass sie alles seit einiger Zeit stolz und zusätzlich mit glücklichem Lächeln geschmückt zur Schau trägt. Sie baten uns nie um Erlaubnis umeinander werben zu können, denn keine Macht, weder weltlich noch geistig, könnte ihnen diese Liebe verbieten. So starrsinnig und selbstsicher sind sie beide. Behutsam nehme ich Filis Hand und gebe ihm den größten Schatz, denn ich jemals besessen habe. Als er zaghaft seine Finger öffnet, treten ihm beim Anblick meines Eheringes die Tränen in die Augen.

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Langsam steige ich die Treppe hinauf ... das spröde Holz der Stufen knarrt unter meinen Füßen und der Handlauf fühlt sich rau an, gezeichnet von den vielen Malen, die ich ihn benutzt habe. Der Garten auf dem hoch gelegenen Plateau befindet sich noch größtenteils im Winterschlaf, die Rosenbüsche sind mit Stoff umwickelt, die Blumen tragen nur vereinzelt Knospen ... einzig der Brunnen verbreitet ein Geräusch, dass sich mit dem des Windes vermischt. Behutsam gehe ich auf ihn zu und stelle mich vor die Eiche, die ich einst zusammen mit Thorin hier pflanzte. Aus der unscheinbaren kleinen Eichel ist ein stattlicher Baum gewachsen ... hoch und stark und majestätisch ... so wie der, an den sie mich erinnern sollte.

Bedeutungsvoll und träumend lasse ich meine Finger über seine raue Rinde fahren, fühle die Stärke und Reinheit dieser Pflanze auf mich übergehen und schließe die Augen ... konzentriere mich ganz auf das Geräusch des plätschernden Wassers und des durch die wenigen Blätter rauschenden Windes. Und plötzlich durchflutet mich eine Wärme, die wohlig mein ganzes Dasein erfasst. Er wird immer bei mir sein ... in Erinnerung und Herz und ich beginne befreit zu lächeln ... das erste Mal seit seinem Tod.

Ich will mich bereits wieder abwenden, als ich etwas auf dem Boden vor mir liegend entdecke. Langsam begebe ich mich auf die Knie und nehme das kleine Etwas an mich, betrachte es lange und einträchtig und lasse es dann in die Tasche des Kleides gleiten.

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Die Hochzeit von Fili und Fís ist seit langer Zeit ein Anlass der Freude in den Hallen des einsamen Berges. Vergnügt und ausgelassen feiern die Gäste ihre Vermählung und die prächtige neue Königin unter dem Berge, so wie einst Thorin und mich. Und im grauen Schatten ihres strahlenden Glücks beschließe ich zu gehen. Allein Balin begleitet mich an das Ausgangstor, an dem Gandalf bereits mit zwei Ponys und einem vollgepackten Wagen auf mich wartet. Ich nehme nicht viel mit aus meinem alten Leben, einzig das, was sich schon immer in meinem Besitz befand, das Mithrilhemd, Stich und zwei kleine Truhen Gold, die mir Balin förmlich aufdrängte.

„Und du willst es dir nicht noch einmal überlegen?", fragt mich der alte Zwerg mit väterlicher Stimme. „Auch nach Thorins Tod wirst du noch immer von allen geachtet und du würdest dem jungen Herrscherpaar helfen können Erebor zu einem noch prächtigeren Ort zu machen." Ich bleibe stehen und sehe ihn an, in die gutmütigen Augen, denen auch die Zeit nichts anhaben konnte. „Nein Balin, meine Aufgabe im Einsamen Berg ist vorüber. Sag den Anderen ‚Lebewohl' und dass ich sie immer in meinem Herzen behalten werde."

Balin lächelt und sieht zum Tor. „Warum sagst du es ihnen nicht selber ..." Denn dort stehen sie ... Dwalin und Dís, Fili und Fís, Kili mit Astâ und Ann mit Valí in den Armen, Bofur, Bifur, Bombur, Oin, Gloin, Gimli, Nori, Dori, Ori, Breda, Bilris und Oeri ... all die wunderbaren Zwerge, die ich kennenlernen und zu meiner Familie und Freunden zählen darf und mir treten unbändige Tränen in die Augen, als sie sich ein letztes Mal ehrfürchtig vor mir verneigen.

„Wenn ihr wieder mal nach Beutelsend kommt ... Tee gibt's um vier ... es ist, wie ihr wisst, genug für alle da ... ihr seid jederzeit willkommen ... und braucht auch nicht anzuklopfen", sage ich und ein Lachen bricht unter den kummervollen Abschiedstränen hervor.

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Auenland ... wie sehr habe ich seine Wiesen und Felder, Wälder und kleinen Anhöhen vermisst ... auch wenn mein Leben mit Freude und Liebe erfüllt war und ich dort wo Thorin war mein Zuhause nannte, so ist es immer noch meine Heimat. Die Sonne ist warm und hell und funkelt durch die Blätter der Bäume hindurch. Hobbitkinder spielen am Ufer des Flusses, lachen ausgelassen und jagen sich durch das hohe Schilf. Der alte Gamdschie bestellt sein Kartoffelfeld und wischt sich den Schweiß von der Stirn, während sein junger Sohn Samweis liebevoll und fast andächtig eine kleine Rose in die Erde des bereits üppig blühenden Gartens setzt.

Es war eigenartig hierher zurückzukommen. Die Einwohner musterten mich argwöhnisch, so wie einst, als ich sie überstürzt verließ, als ich am Mittsommertag die Grenzen von Hobbingen überschritt. Hoch zu Ross, in die edlen und dennoch zweckmäßigen Kleider einer Königin auf Reisen gehüllt, wenigen funkelnden Edelsteinen und Perlen im Haar und um den Hals, einem Schwert und Zauberer an meiner Seite. Obwohl ich um meinen Verbleib der letzten Jahrzehnte ein Geheimnis gemacht habe, sind Gerüchte mir vorausgeeilt ... von Zwergen und Schätzen, Drachen und Königen, Schlachten und Siegen und einer Hobbitkönigin unter dem Berge, Herrscherin über die Zwergenheit Mittelerdes.

Die ersten Tage wurde ich umringt von neugierigen Ohren, aber dass sie mir auch nur einen Bruchteil meiner Geschichte glaubten, denke ich nicht. Zu sehr widerspricht es ihrem kleingeistigen und engstirnigen Leben ... Rhovanion, wo liegt das schon und ein Drache, getötet durch einen Pfeil, und viel absonderlicher noch, ein Zwergenkönig, der eine einfache Hobbitfrau auserwählte an seiner Seite zu herrschen ... Fantastereien, wie der alte Gamdschie sagt ... und ich lasse sie nur allzu gerne in ihrem Glauben.

Andächtig stehe inmitten der Lichtung im Wald und betrachte das kleine Stückchen Land, das ich eben bewässert habe. Noch sieht man nicht einmal einen kleinen Trieb davon, aber eines Tages wird hier eine Eiche stehen ... hoch und kräftig und majestätisch in den Himmel ragend, wie sein Mutterbaum auf den Hängen des Erebor ... dem einsamen Berg. Und sie wird für alle Zeit ein Beweis sein ... für meine Reise, für mein Abenteuer, für mein Leben, das ich so lange an der Seite eines Mannes verbrachte, der mich bedingungslos liebte und verehrte. Für eine Zeit, in der ich als Königin unter dem Berge bekannt war, respektierte Herrscherin an der Seite Thorin Eichenschilds, Sohn von Thráin, Sohn von Thrór.

Langsam lasse ich meine Hand in die Tasche des Kleides wandern und berühre ehrfürchtig den kleinen goldenen Ring darin. Die ganze Zeit, seit dieser Nacht in den Orkstollen des Nebelgebirges, habe ich ihn nicht einmal zur Seite gelegt. Er ist mein ständiger Begleiter ... mehr noch, als die Kette mit dem eisblauen Edelstein um meinem Hals ... mehr noch, als die Perlenkette in meinen Haaren ... mehr noch, als der Siegelring mit der Zwergenrune, die meine Verdienste ehrt.

Behutsam ziehe ich ihn hervor und betrachte ihn im Schein der langsam untergehenden Sonne. Rot und Golden und Blau schimmert der Himmel auf ihm und lässt ihn fast magisch leuchten. Seit dem Tag der Schlacht der fünf Heere, wie sie seitdem in den Annalen der Menschen, Elben und Zwerge genannt wird, habe ich ihn nicht mehr getragen ... es bestand auch kein Grund mehr dazu ... Aber wenn ich ihn so betrachte ... schimmernd und glatt ... spüre ich plötzlich das Verlangen danach ... Langsam streife ich ihn über das erste Gelenk des Fingers ... spüre bereits die Macht und den Nebel auf mich zurasen ... bis ich plötzlich zurückzucke.

„Tante Bil, das Abendessen ist fertig ... kommst du?", höre ich die freudig-hüpfende Stimme meines Neffen Frodo hinter mir. Automatisiert schließe ich die Hand schützend um den Ring, verberge ihn somit vor seinen Augen. „Ja mein Junge, ich komme!", rufe ich zurück und drehe mich zu ihm um. Seine Augen, blau und gutmütig wie die von Fili ... seine Haare schwarz wie die von Thorin und Fís ... sein Verstand, so scharf wie der von Balin und Ori ... sein Charakter, so unbeschwert wie der von Kili ... und sein Mut so groß wie der von Dwalin. Ich habe ihn sofort nach meiner Rückkehr bei mir aufgenommen und für uns beide, war dieser Umstand der größte Glücksfall. Er erfüllt mein nach Thorins Tod leer erschienenes Leben mit neuem Nutzen und unbändiger Freude. Jeden Tag betrachte ich ihn mit Stolz und sehe einen freundlichen, bescheidenen, mutigen und hilfsbereiten jungen Mann aus ihm werden. Und es durchdringt mein kleines Hobbitherz mit Freude.

Ein letztes Mal schaue ich auf den kleinen Hügel aus Erde zu meinen Füßen und dann zu dem sich langsam verdunkelnden Himmel.

Ich werde dich wiedersehen Thorin

... mein Schicksal ... mein König ... meine wahrhaftige Liebe ...

Aber noch habe ich etwas zu erledigen

... hier im Auenland ... Hobbingen ... Beutelsend ... einem Loch im Boden ...

Dort wo alles zwischen und begann

... vor so langer Zeit ... als ich noch eine kleine Hobbitfrau war ... und nicht mehr ...

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