Kapitel 1
Jedes Mal, wenn er in den Sternenhimmel blickte, das Mondlicht dabei beobachtete, wie es die Dunkelheit brach, dachte er an jene Nacht zurück, die vor fast genau drei Jahren alles verändert hatte. Ob zum Guten oder Schlechten, diese Frage stellte er sich mittlerweile nicht mehr. Dennoch betrachtete er im hellen Schein des Vollmondes immer wieder seine Hände, sah das Blut, das tröpfchenweise seine Fingerkuppen verließ, während die grellen Schreie zweier Menschen durch die Luft zuckten. Sie bedeuteten den Beginn neuen Lebens, genau wie sie auch das Ende eines anderen einläuteten.
Jonathan richtete seinen Oberkörper auf, wobei er seine Hände in den kalten, trockenen Boden stemmte. Er klopfte sich den verbliebenen Sand von der Kleidung, griff in seine Hosentasche und zog das kleine Bild heraus. Immer wenn er es zwischen seinen Fingern hielt, dieses verblichene Abbild einer Frau, strich er über das kleine Stück Fotopapier, als sei es ihre Wange, die er gerade berührte. Es war bei Weitem kein schönes Bild mehr, zu verstaubt und verkommen sah es mittlerweile aus. Doch es war Cathy. Seine Cathy.
*
„Papa, Papa, du musst aufstehen", quietschte es von der Seite, während ihre Finger, die kaum breiter waren als ein Strohhalm, sich in seinem Unterarm verhakten und unaufhörlich versuchten, ihn aus seinem Bett zu ziehen. „Heute ist doch mein Geburtstag."
„Lara, kommst du mal her?", sagte eine ihm bekannte Stimme im Hintergrund. „Der Papa ist gestern erst sehr spät schlafen gegangen, aber wenn du ihm einen Kaffee bringst, ist er bestimmt bald wach."
Er vernahm nur noch ein leises Tuscheln, bevor er die tapsigen Schritte von Lara näherkommen hörte. Als sie vor ihm zum Stehen kam, tastete sie sich mit den Händen voran, erst die Schulter, dann der Hals und die Wange, bis sie schließlich mitten auf seine Nase drückte. Danach stieg der Duft von frischem Kaffee hinauf; es schien so, als halte sie den Becher direkt vor sein Gesicht, damit ihm der Geruch auch bloß nicht entgehen konnte. Auch wenn seine Lider mit dem Gewicht der Müdigkeit, seine Augen mit den Strahlen der Morgensonne kämpften, rappelte er sich hoch und setzte sich auf die Kante seines Klappbettes.
„Guten Morgen, meine Kleine, alles Gute zum Geburtstag", sagte er und versuchte dabei, seine Müdigkeit wegzulächeln. Er hob sie auf seinen Schoß und küsste sie auf die Stirn, zeitgleich streckte sie ihm den Becher Kaffee entgegen. Lara strampelte aufgeregt mit ihren Beinen hin und her.
„Papa, Oma May hat dir Kaffee gekocht. Den musst du jetzt trinken, damit du ganz schnell wach wirst."
„Na, wenn das so ist, werde ich mich wohl mal mit dem Trinken beeilen." Er schmunzelte und blickte zu May. Sie war eigentlich nicht die Großmutter von Lara, kümmerte sich jedoch schon seit ihrer Geburt um sie und half Jonathan, wo auch immer er Hilfe benötigte. Die meisten Menschen hatten in ihrem Alter bereits „ausgedient", wie die Regierung der Westlichen Union es nannte. Wahrscheinlich hätte sie schon vor Jahren ein ähnliches Schicksal getroffen, wenn sie nicht in das kleine Dorf gekommen wäre, in dem Cathy auch Lara zur Welt gebracht hatte. Es war jedoch nicht einzigartig, sondern eines von vielen Dörfern, die weit außerhalb der riesigen Metropolen gegründet wurden, nachdem Maya Smith das Amt der Präsidentin in der Westlichen Union übernommen hatte.
„Danke, May, du hast einen gut bei mir." Sie stellte den Teller, den sie zuvor abgewaschen hatte, in den Geschirrhalter neben der provisorischen Spüle. Letztendlich war diese nicht viel mehr als ein angerostetes Spülbecken, das man regelmäßig mit einem Eimer befüllen musste, da fließendes Wasser in kaum einem der Dörfer vorhanden war.
Ihre Knie knackten, als sie sich neben ihn auf die Bettkante setzte und starr aus dem Eingang des kleinen Bungalows hinausblickte, den sie selbst mit ihrem Mann gebaut hatte. Er hatte zwar nur einen einzigen Raum, dennoch hatte sie keine Sekunde gezögert, als Jonathan mit der neugeborenen Lara im Arm nach einem Dach über dem Kopf suchte.
„Ich habe nicht viel, mein Junge, aber für Lara und dich habe ich immer eine Grosche übrig", sagte sie. „Oder aber, wie in diesem Fall, habe ich für dich, liebe Lara, etwas ganz Besonderes." Sie kramte in ihrer Tasche herum, bis sie ein kleines Päckchen, das sie mit Paketband umschnürt hatte, hervorholte. „Mach mal die Hand auf", flüsterte sie und überreichte es ihr.
„Oma May, ist das wirklich für mich?", fragte sie gespannt.
„Nur für dich, meine Kleine", antwortete sie flüsternd, „aber beschütze das vor deinem Vater. Der mag das bestimmt auch gern."
Nun wurde auch Jonathans Neugier geweckt, sodass er das in Zeitungspapier verpackte Geschenk genau musterte. Es war gerade so groß, dass es genau in Laras Hände passte, die Schnur war verknotet und mit einer kleinen Schlaufe versehen worden. Zuerst ließ er sie selbst versuchen, den Knoten zu öffnen, doch nach mehreren erfolglosen Anläufen half er etwas nach. Eifrig entfaltete Lara das Papier, bis sich ein süßlicher Duft verbreitete; Jonathan konnte es kaum glauben, als er das bräunliche, viereckige Stück, das zweifellos für den lieblichen Geruch verantwortlich war, vor seinen Augen sah.
„Sie ist schon etwas geschmolzen, also sollte sie sie schnell essen", wendete May ein.
„Was sollte ich schnell essen?" Laras Augenbrauen krümmten sich, als sie Jonathan fragend ansah.
„Lass dich überraschen, mach einfach ‚Aa', okay?", flüsterte er ihr zu. Er nahm daraufhin das kleine Stück und steckte es ihr in den bereits weit geöffneten Mund. Zwar zögerte er kurz, doch dann leckte er den angeschmolzenen Rest, der noch an seinen Fingern klebte, von seinen Kuppen ab.
Es war das erste Mal seit Ewigkeiten, dass er den Geschmack von Schokolade auf der Zunge verspürte. Ein Geschmack, den er schon fast vergessen hatte.
*
„Bitte, noch ein letztes Mal, Papa, bitte, bitte", bettelte Lara Jonathan an, während sie sich an sein rechtes Bein klammerte.
„Gut, ein letztes Mal noch, weil du heute Geburtstag hast - aber dann ist Schlafenszeit. Die Sonne geht schon unter." Sie grinste ihn an. Als er sie dabei so ansah, wurde ihm klar, dass sie ganz genau wusste, dass sie ihn doch wieder herumgekriegt hatte. Es war dieses Grinsen, das er schon von Cathy kannte, wenn sie doch wieder mal ihren Willen hatte durchsetzen können. Bei ihrer ersten gemeinsamen Wohnung hatte er noch versucht zu kämpfen, bei der Auswahl des Autos hatte es nur noch zu einem Murren gereicht, bis er bei der zweiten Wohnung gänzlich aufgegeben und sich an die Rolle des liebnickenden Ehemannes gewöhnt hatte.
„Aber, Papa, du fängst mich auch wirklich wieder auf - versprochen?"
„Ich werde dich immer auffangen, ich verspreche es dir, meine Kleine", erwiderte er, während er ihr über die Wange strich.
Und so packte er sie plötzlich unter den Armen, hob sie ruckartig hoch und schmiss sie in die Höhe. Ihr Kreischen, das ihm sogar noch lauter vorkam als die Male zuvor, weckte Lucky, ein eigentlich halbtauber Dackel, aus seinem sonst so festen Schlaf. Für ein kurzes Jaulen reichte es, bevor er sich bloß ein paar Meter von den beiden entfernt wieder in sich zusammenrollte.
„So, Schluss für heute. Ab ins Bett", machte er ihr klar. Er nahm sie auf den Arm und trug sie in den Bungalow. May hatte das Bett der beiden bereits hergerichtet, sodass Jonathan nur noch die Decke umschlagen und Lara danach zudecken musste.
„Gute Nacht, schlaf gut", wisperte er.
„Du auch, Papa."
Er wollte sich gerade vor das Bett setzen, als er bemerkte, dass sie bereits eingeschlafen war. Durchaus erstaunt blickte er auf sie hinab, denn normalerweise dauerte es seine Zeit, bis sie schlief; jedoch schien ihm der für sie sehr lange und aufregende Tag die plausibelste Erklärung für ihre plötzliche Müdigkeit zu sein.
Als er aus dem Bungalow trat, war die Nacht bereits angebrochen. Er folgte dem Knistern und Knacken des lodernden Lagerfeuers, um das May und zwei weitere Dorfbewohner herumsaßen.
„Setz dich", sagte May und deutete auf den leeren Platz neben ihr. „Hatte Lara einen schönen Tag?"
„Ich hoffe es, sie schien mir sehr glücklich zu sein." Er lächelte bei diesem Gedanken, May hingegen kramte währenddessen neben sich und reichte ihm schließlich einen Trinkbeutel. „Was ist das?"
„Ein 23 Jahre alter Brandy mit sanften Aromen von Vanille, Orange und Sherry." Sie blickte ihn mit großen Augen an, bevor sie das Lachen nicht mehr zurückhalten konnte. „Du sollst trinken und keine blöden Fragen stellen."
Er nahm einen beherzten Schluck, versuchte dabei, die tausend Nadelstiche, die auf seine Zunge einprasselten, zu überspielen. Und doch hustete er auf einmal los, während das Gelächter sich seinen Weg durch seinen Gehörgang bahnte.
„Dein selbstgebranntes Teufelszeug werde ich wohl niemals anständig herunterkriegen", keuchte er.
„Es soll ja auch kein Genuss sein, sondern wirken", witzelte sie, bevor ihre Mundwinkel plötzlich gen Boden sanken. „Aber jetzt mal Spaß beiseite. Du weißt, wie gerne ich euch bei mir habe -"
„Aber? Ist was passiert?", unterbrach er sie.
„Wir wollten es dir nicht schon heute Morgen erzählen, denn die Kleine sollte einen unbeschwerten Tag verbringen können." Sie rang nach Luft, das Feuer spiegelte sich in ihren zunehmend glasig werdenden Augen. „Das wird der letzte Geburtstag gewesen sein, den Lara hier -" Bevor sie den Satz vollenden konnte, begann sie zu schluchzen.
„Was May sagen möchte", fuhr Robert, der ihm gegenübersaß, fort, „ist, dass Smiths Säuberungspatrouille gestern Abend das nächstgelegene Dorf überfallen und vollkommen niedergebrannt hat."
May packte ihn an den Schultern und blickte ihm direkt in die Augen. Die Tränen flossen über ihr Gesicht, als sie anfing, wie wild seinen Oberkörper zu rütteln. „Hör mir genau zu, Jonathan: Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sie uns finden. Ihr müsst verschwinden - so schnell ihr könnt."
***
So, liebe Leute,
wir haben es jetzt 4:06h in der Früh und ich habe nach meiner ersten Nachtschicht den Prolog und das erste Kapitel hochladen können. Ob es nur noch ein weiteres Kapitel + Epilog geben wird oder ob es doch zwei weitere Kapitel + Epilog werden, weiß ich noch nicht genau. Das hängt zum einen von der Wortzahl und zum anderen einfach davon ab, wie sich die Geschichte während des Schreibens in meinem Kopf entwickelt. Es wird also - wie fast immer bei mir - eine recht spontane statt durchgeplante Sache.
Wie gefällt es Euch bis jetzt denn so bzw. könnt Ihr überhaupt schon was damit anfangen? Keine Angst, es kommt auf jeden Fall noch ein bisschen World-Building, um alles besser verstehen zu können. In dem Prolog und dem ersten Kapitel ging es vor allem erstmal darum, die wichtigsten Personen einzuführen. Mein Ziel ist es, in den kommenden Kapiteln die Welt etwas detaillierter zu beschreiben und die Charakterzeichnungen voranzubringen - wie das geschieht, darüber mache ich mir nachher Gedanken. Denn ich gehe jetzt erstmal pennen.
Liebe Grüße
Euer Jojo1505
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