Morgengrauen
Der Gelehrte trat auf den Platz. Seine Haltung war gebückt, sein Atem ging schwer. Blut strömte aus unzähligen seiner Wunden. Mit glitschigen Fingern umklammerte er den Griff seines Schwertes, dessen goldglänzende Klinge im Licht der bereits am Horizont zu sehenden Sonne wie ein Feuersturm funkelte.
Es war die Klinge eines Gelehrten und doch war dieser Mann am Ende. Er hatte die Nacht genutzt, nur für was? In der steten Hoffnung, seine Gabe wieder zu verlieren und in den Tag zurückkehren zu können – doch nun ging die Sonne auf und schon bald würde er dem Ruf der Dunkelheit folgen, wie sie alle. Diese letzte Stunde, bevor der Tag vollends begann war seine letzte Möglichkeit, wieder in sein altes Leben zurückzukehren.
Nur Feyjassan wusste, dass dieser Gelehrte es niemals schaffen würde. Eingesogen von der Finsternis würde er ein ewiges Dasein als Gelehrte fristen müssen, da er in der Nacht, so kurz sie auch gewährt hatte, keines der Mysterien der Stadt Mhernyk gelöst hatte.
Er war dazu verdammt, so zu sein, wie alle anderen vor ihm auch. Und nun lag es an dem Gelehrten, zu entscheiden, ob er seine Gabe endlich akzeptierte oder sie weiterhin von sich stieß.
„Du ..." Die Stimme des Gelehrten war nichts weiter als ein heiseres Röcheln. Zu viel hatte diese Nacht ihm abverlangt, zu viel war geschehen, was seinen einst so starken Geist gebrochen hatte. Wer war er am Tage nur gewesen? Ein stolzer Krieger in der Armee des Königs? Vielleicht sogar ein General? Hatte er Frau und Kinder besessen oder war er gerade dabei gewesen, um die Gunst einer Dame zu buhlen?
Der Gelehrte wusste es nicht mehr. Mit dem Erhalt der Gabe hatte er auch sämtliche Erinnerungen verloren. Er wusste nur, dass er wieder zum Tag zurückkehren wollte. Dass er kein Opfer der alles verschlingenden Nacht sein wollte, nicht zu den bedauernswerten Kreaturen gehören wollte, die Mhernyk in der Nacht unsicher machten.
Und doch war es so.
Wieso fiel es den Gelehrten immer so schwer, ihre Gabe – ihr Schicksal – zu akzeptieren? Warum nahmen sie nicht einfach die Macht, sondern versuchten verzweifelt, das reine Blut zu finden?
Das reine Blut – die einzige Heilung, die es möglich machte, die Gabe wieder aus seinem Körper zu entfernen. Mitsamt des Runentattoos, das diese erst möglich machte.
„Gib mir ... das reine Blut!"
Ein schwerer Hustenanfall machte es beinahe unmöglich, die letzten Worte zu verstehen. Feyjassan stand noch immer unbeweglich auf der Mitte des Platzes, umring von knorrigen Bäumen, die ihre blattlosen Äste in der Nacht Lunaris entgegenstreckten, als wollten sie ihn huldigen. Seine Schwester Luneria war schon seit Mitte der Nacht verschwunden, nachdem sie und er sich zum Machtkuss getroffen hatten. Es war die auftauchende Silhouette von Luneria, die die Nacht einläutete und die schwindende von Lunaris, die sie beendete. Bis die Sonne, Solars, der eifersüchtige Onkel, die beiden überstrahlte und dafür sorgte, dass sie für eine geraume Zeit nicht mehr am Himmel zu sehen waren.
Einst war die Nacht heilig gewesen, so heilig wie die beiden Mondgeschwister. Doch heute galten sie als widerliche Kreaturen, verstoßen vom Sonnenlicht, seit Solars eines Tages aufgetaucht war, um den Menschen ein wärmeres Licht zu schenken.
Doch in dieser Morgendämmerung, da ging es nicht um die beiden Geschwister am Himmel oder deren eifersüchtigen Onkel. Dieser Teil der Geschichte war schon so alt, dass Feyjassan sich nicht mehr darum scherte. In interessierte nur eines – die mächtigsten Runenmonster, die existierten, unter seine Kontrolle zu bekommen. Doch selbst in dieser Nacht hatte er es nicht geschafft, das Monster der ewigen Nacht aufzuspüren. Er brauchte dafür andere Runen, mächtigere als die, die bereits seinen Körper zierten.
Und einen Gelehrten, der bereit war, sich ebenfalls auf die Suche zu machen. Er hatte gehofft, der Mann vor ihm wäre der Richtige – doch er hatte sich geirrt. Statt seine Gabe zu nutzen, hatte er sich nur auf seine Goldklinge verlassen, hatte Runenmonster für Runenmonster gejagt und besiegt um einen Hinweis auf das reine Blut zu erhalten.
Doch vergebens.
Nun war er nichts weiter als eine verlorene Kreatur der Nacht, ein gefürchteter Gelehrter, auf ewig Gefangen in seinem Körper aus Fleisch und Blut, dessen Haut verziert war mit der Krallenspur.
„Ich habe kein reines Blut", erklärte Feyjassan dem Mann. „Die Kirche ist am minimalen Punkt ihrer Macht angekommen. Anstatt nach der Formel des reinen Blutes zu suchen, solltest du lernen, deine Gabe zu nutzen." Er blickte zum Horizont, an dem Solars sich immer weiter erhob. Bald würde die Dunkelheit von Mhernyk rufen um sie vor dem grellen Licht Solars zu beschützen.
Feyjassan holte ein kleines, silbernes Messer hervor.
Gold tötete – Silber bestärkte.
Es war die Entscheidung eines jeden Gelehrten, welche Waffe man nutzte. Feyjassan hatte sich für seine Gabe entschieden – und das würde dem Gelehrten vor ihm beweisen, wie wertvoll und mächtig sie war.
„Die Kirche ..." Der Mann vor ihm ging auf die Knie. Seine blassen Finger krallten sich in die harten, dornigen Grasbüschel, die sich zwischen den Steinen hindurchgeschoben hatten. „... sie muss existieren. Das reine Blut ... ich brauche es."
Eine Nacht konnte lange dauern. Nicht so lang, wie ein Tag es für gewöhnlich tat, dennoch lange genug, um eine hoffnungsvolle Seele verrückt zu machen. Feyjassan stieß einen innerlichen Seufzer aus. Der neue Gelehrte war ihm so vielversprechend vorgekommen. Zu schade, dass sich seine Erwartungen nicht erfüllt hatten.
„Das Einzige, was du brauchst, ist deine Gabe", erklärte Feyjassan ihm und senkte die Augen, um die fein ziselierte Klinge mit einem liebevollen Ausdruck in den Augen zu bewundern. „Wehre dich nicht mehr gegen sie", wisperte er und drehte die Schneide so, dass die Spitze auf ihn selbst zeigte. „Sondern lass dich von ihr leiten. Die Nacht schwindet und deine einzige Möglichkeit, zu überleben, ist es, der Gelehrte zu sein, zu dem du bestimmt wurdest."
Dunkelrotes Blut quoll hervor, als er sich den Dolch in den Oberschenkel rammte. Es plätscherte in dicken Perlen mit makelloser Oberfläche wie bei einem Rubin zu Boden und sammelte sich in einer Lache des Todes. Der Gelehrte vor ihm starrte auf die Substanz mit weit aufgerissenen Augen. Das Weiße der Lederhaut stach besonders hervor, wurde nur geteilt durch die dunkle Iris.
Feyjassan zog den Dolch wieder heraus. Kein Schmerz strömte durch seinen Körper, dafür hatte er sich zu sehr an das berauschende Gefühl gewöhnt. Die Pfütze zu seinen Füßen brodelte – ein heiseres Knurren drang aus ihrer Tiefe. Dann brach ein Arm hervor, der in einer gewaltigen Klaue endete. Die schwarzen Krallen fuhren über den Steinboden, rissen das widerspenstige Gras heraus und verteilten die Erdklumpen. Feyjassan spürte den erwachten Geist des Runenmonsters, der mit seinem verbunden war. Eine Macht, die freigesetzt wurde, während die Rune, verdeckt durch seine lederne, dunkelbraune Hose, anfing, zu brennen. Das Blut sickerte immer weiter hinaus, während sich mehr von der Kreatur aus dem Boden schob, das helle, silberne Fell klebte wie die Haare eines Neugeborenen unter einer Schicht von Blut und Schleim an seinem drahtigen Körper.
Der Gelehrte vor ihm stieß einen Schrei aus und fiel rückwärts zu Boden. Robbte von dem Runenmonster weg, doch es gab kein Entkommen.
Es gab nie ein Entkommen.
Feyjassan setzte die Schneide an seiner linken Handfläche an und beschädigte die dort eintätowierte Rune. Sofort jagte ein Schauer durch seinen Körper, ein wohliges Kribbeln breitete sich aus – und der stetige Blutfluss an seinem Oberschenkel stoppte. Bevor die Wundränder jedoch zusammenwachsen und die dortige Rune wieder zusammenfügen konnten, wechselte Feyjassan den Dolch in die andere Hand und ritzte einen schmalen Schnitt in seinen nun freien Handteller. Die sich dort befindende Rune setzte ihre Wirkung sofort frei. Feyjassan fühlte sich langsamer und schwerer, doch das war nur ein kleiner Nebeneffekt im Gegensatz zu dem, was mit seinem Körper passierte.
Der Heilungsprozess stoppte weitestgehend, doch nicht vollständig. Seine Wunden waren immer noch offen, die Wundränder kräuselten sich wie sich auftürmende, fleischige Wellen, doch kein Blut floss mehr.
Er brauchte auch nicht mehr.
Mit Freude betrachtete er sein Runenmonster, dass sich mittlerweile vollständig aus der Blutpfütze geschoben hatte. Es schüttelte sich – Schleim- und Fleischtropfen fielen auf ihn und den anderen Gelehrten nieder – dann stieß es einen markerschütternden Schrei aus. Es grunzte und fauchte, sein Atem manifestierte sich als eine weiße Wolke vor seiner langen Schnauze. Die Runen auf seiner Haut begannen zu leuchten. Im heller werdenden Licht des Morgengrauens war dieser Effekt nicht so beeindruckend, wie er in der tiefsten Nacht war. Dennoch reichte es aus, um den Gelehrten auch das bisschen Farbe, das in seinem Gesicht Einzug gehalten hatte, zu stehlen. Sein Überlebensinstinkt erwachte, er kam stolpernd auf die Knie und hielt sein Schwert mit dem eingefangenen Flammenmeer auf der Schneide verteidigend vor sich.
Feyjassan trat ein paar Schritte zurück und verstaute seinen Dolch wieder in der Scheide, die an seinem breiten Ledergürtel hing. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und schottete seinen Geist von dem seines Runenmonsters ab.
Er würde den Kampf auch ohne intensive Verbindung genießen können. Ein kaltes Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel, als das Monster sich mit einem ohrenbetäubenden Kreischen auf den Gelehrten stürzte.
Solars stieg immer weiter am Himmel hoch.
Die Nacht währte nicht ewig, wurde in Mhernyk gesagt.
Doch der Tag tat es auch nicht.
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