Cecil
„Hier." Der Fremde warf ihm die mit dem Runenmonster-Blut gefüllte Phiole zu. Cecil fing sie ungeschickt auf und hätte das dünne Glas beinahe in seinen Fingern zerbrochen. Er blinzelte irritiert auf das Fläschchen, dann starrte zu seinem Retter.
„Was soll ich damit?"
Dieser blickte hoch zu Luneria, sodass das helle Licht die rosigen Narbenwülste, die sein Gesicht verunstalteten, hervorhob. Cecil zuckte zurück, als sich der Blick der dunklen Augen des Fremden sich wieder auf ihn legte.
„Das ist deine Phiole. Dein Blut. Deine Rune." Er grinste und zeigte zwei Reihen makelloser Zähne. „Ich habe meins bereits in der letzten Nacht erhalten. Ich brauche es nicht." Sein Lächeln verschwand. „Ich habe es nie gebraucht."
„Letzte Nacht ... was?" Cecil schloss zu dem Unbekannten auf, der einfach weitergegangen war. Er führte ihn durch einige schmale Gassen, an denen Efeuranken die Hauswände bedeckten und nur Lücken für die Fenster ließen. Aus einigen drang schummriges Licht zu ihm, hinter den anderen herrschte die Dunkelheit, paarte sich mit der Stille. Eine finstere Verbindung, so unglaublich effektiv, die Atmosphäre von ganz Mhernyk einzufangen. Cecil erschauerte und ging schnellen Schrittes weiter.
„Du bist ein Taggeborener, habe ich recht?" Der Unbekannte blieb erneut stehen, drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und hob eine Hand, um Cecil zum Anhalten zu gebieten. Er gehorchte und beobachtete, wie der Gelehrte vor ihm um die Ecke schielt, eine Hand auf den Griff seines Dolches gelegt.
„Ich ... ja", wisperte Cecil atemlos. Sein Herz schlug im bis zum Hals. Kam ein neues Runenmonster auf sie zu? Würde er bald schon wieder kämpfen müssen? Für eine Nacht hatte Cecil genug gekämpft, fand er. Doch gleichzeitig beschlich ihn die Ahnung, dass es noch lange nicht genug gewesen war. „Woher weißt du das?"
Der Mann winkte ihn weiter und verschwand dann so schnell um die Ecke, dass Cecil gerade mal noch den Zipfel seines wehenden Mantels erhaschen konnte. Schnell folgte er ihm, innerlich nervös und verärgert zugleich – was bildete dieser Fremde sich eigentlich ein, kein ordentliches Gespräch mit ihm zu führen? Immerhin hatte er angefangen mit seinen Waffen, die er zu Cecil heruntergeworfen hatte und der Phiole, die immer noch warm in seiner Hand lag. Kurz blieb Cecil stehen und verstaute das Fläschchen in seiner Manteltasche, dann zog er sich seine Handschuhe wieder über. Verdeckte die Kreisrune auf seiner Haut und fühlte sich sogleich besser, wenn er sich nicht ständig sehen musste.
„Ich war auch einer. In der letzten Nacht zumindest." Die Stimme erklang so nah an seinem Ohr, dass Cecil einen kleinen Schrei ausstieß und einen Schritt zurücksprang. Der Unbekannte schenkte ihm ein Lächeln das dem einer Frau ähnelte, die einen tapsigen Hundewelpen betrachtete. „Ich war wie du. Dein Vorgänger, sozusagen." Er streckte die rechte Hand aus. „Ich habe mir den Namen Jill gegeben. Und du?"
„Cecil." Er beäugte die ihm dargebotene Hand skeptisch und erinnerte sich zu gut an sein Treffen mit am Alten in der Kanalisation. Doch Jill war geduldig und wartete, bis Cecil schlussendlich doch einschlug.
„Freut mich, Cecil." Jill wandte sich ab und ging weiter. Seine Absätze hallten auf den quadratischen Steinplatten wider, die deutlich sauberer aussahen als das, was Cecil vor einigen Seitengassen noch gesehen hatte.
„Du bist also der Neue." Jill lachte leise und vergrub die Hände in den Taschen seines schwarzen, knielangen Mantels. „Ich muss sagen, du hast dich gegen das Odor-Runenmonster wirklich gut geschlagen. Nicht jeder kommt beim ersten Mal auf die Idee, den Schwanz abzuschlagen, um es aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und ..." Er blieb stehen und warf Cecil über die Schulter hinweg einen musternden Blick zu. „Nicht jeder kann sofort mit dem Schwert umgehen wie du es getan hast. Anscheinend bist du eine Art Krieger am Tag gewesen."
Cecil fiel sofort die Ausdrucksweise von Jill auf. Er stellte nicht die Frage Was bist du am Tag gewesen?, wie vielleicht andere es gemacht hätten. Nein. Jill hatte das Gleiche durchgemacht, wie er. Er wusste, dass Cecil keine Erinnerungen mehr an sein altes Leben besaß. Auf eine seltsam-skurrile Art tröstete Cecil genau das. Er war unter Seinesgleichen, ein weiterer Gelehrter, der ihm nicht feindlich gesinnt war. Dennoch blieb er vorsichtig; er konnte nicht wissen, ob Jill ihn nicht doch noch hintergehen würde.
Jills schmale Lippen kräuselten sich. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, doch dank der Narbe, die seine Lippe beinahe genau in der Mitte spaltete, wirkte es mehr wie ein groteskes Grinsen. Cecil fuhr sich mit der Zunge unwillkürlich über die eigene Unterlippe. Jill sah es und stieß einen schnaubenden, lachenden Laut aus.
„Ich wurde angegriffen", erklärte er schließlich und hob eine Hand zum Gesicht, fuhr mit den Fingern seine Narben entlang, als würde er sie selbst durch das Leder seiner Handschuhe hindurch fühlen. Wahrscheinlich wusste er genau, wo jede einzelne Narbe exakt langlief. So eine Verletzung ... die prägte einen. „Von einem Runenmonster."
„Was war das für eines?" Cecil hatte viele Fragen, doch das war die einzige, was den Weg nach draußen fand.
„Ich weiß es nicht." Jill zuckte mit den Schultern. „Ich konnte es nicht töten, weil es vorher verschwand. Seine Rune ist zusammengewachsen und die Seele des Monsters band sich wieder an seinen Gelehrten, dem es einen Eid geschworen hat."
„Eid? Geschworen?", wiederholte Cecil unsicher.
„Ja." Jill wandte den Blick ab und ließ seine Hand wieder sinken. „Es gibt viel zu lernen, wenn du hier überleben möchtest. Du ... willst doch leben, oder?"
„I-ich ..." Die Frage überrumpelte Cecil und er presste sich die Hände gegen die Brust, schluckte gegen den aufkommenden Kloß in seinem Hals an. Seine Knie fühlten sich weich an, als wären sie mit Pudding gefüllt worden. Mehr als vorher fühlte er sich wie eine Puppe, deren Körper er einfach mit seinem Geist in Besitz genommen hatte und er wand sich unter Jills forschendem Blick. „Ich weiß es nicht ... ja?"
„Das klang unsicher." Jill lächelte ihm spöttisch zu. „Du wirst die Antwort irgendwann noch haben. Bis dahin ... solltest du versuchen, eben nicht zu sterben. Sonst gibt es keine Antwort."
„Willst du leben?", fragte Cecil zurück, wollte die Aufmerksamkeit von seiner eigenen Person ablenken. Jills Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war, hinterließ nur eine steinerne Miene.
„Nein", kam die Antwort schlussendlich. „Aber ich wusste, dass du kommen würdest. So, wie ich gekommen bin. Ich hatte Glück, dich so früh in der Nacht gefunden zu haben. Noch befinden wir uns im ersten Drittel, Lunaris ist noch nicht einmal ansatzweise zu sehen. Das ist gut."
„Gut für mich oder gut für dich?", wagte Cecil sich vor.
„Gut für ... such es dir aus." Jill zuckte mit den Schultern und kam ein paar Schritte auf Cecil zu. Er griff nach dessen Handgelenk und brachte es zu dem Knauf des Schwertes, das er mithilfe einer Lederscheide an seinem Gürtel eingehakt hatte. Cecil umklammerte die Stange aus Ermangelung an Alternativen. Sein Atem ging schwer. Jill war ihm nicht geheuer, sein Temperament schien unberechenbar zu sein. War es dieses Schicksal, was auch ihn selbst erwartete? Gezeichnet von Narben und labil im Verstand?
„Du hast das Goldschwert genommen", wisperte Jill ihm zu. Sein Atem streichelte über Cecils Gesicht, brachte den Gestand nach gebratenem Fleisch mit sich. Unwillkürlich erinnerte er sich an den fauligen Atem des Runenmonsters. Cecil würgte.
„Gewöhne dich dran." Jill trat einen Schritt zurück, brachte wieder genug Abstand zu Cecil, dass dieser sich wohler fühlte. „Auchm wenn die Nacht nicht ewig währt ... du wirst dir wünschen, sie würde es tun."
„Werde ich das?" Cecil fühlte sich dumm, wie er alles einfach nachplapperte. Doch Jill schien es nicht im Geringsten zu stören. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging ein paar Schritte vor und zurück, die Nase gen Boden gerichtet.
„Ja, wirst du. Zumindest war das meine Hoffnung, in der letzten Nacht. Du weißt, dass du verdammt bist, bis zu deinem Tod ein Gelehrter zu sein, solltest du das reine Blut nicht bis zum Morgengrauen bekommen?"
Cecil schluckte schwer, dann nickte er.
„Siehst du? Also sollte diese Nacht besser nicht enden, denn du wirst viel Zeit mit der Suche danach verbringen." Erneut zeigte Jill ihm seine perfekten, weißen Zähne. „Ich weiß, wovon ich spreche. Doch im Gegensatz zu mir hast du einen Vorteil."
„Und ... der wäre?" Cecil war sich unsicher, ob er diesen Vorteil überhaupt erfahren wollte.
Jills Lippen verzogen sich zu einem noch breiteren Grinsen, die Narbe an seinen Lippen zog und dehnte sich und Übelkeit erregende Weise. „Mich."
„Dich?"
„Ja, mich", bestätigte Jill und nahm seine Hände wieder nach vorne. „Ich habe die halbe Nacht damit verbracht, herauszufinden, was das Gelehrtendasein eigentlich bedeutet. Aber du ... du erfährst das alles von mir. Und dann hast du mehr Zeit, nach der Heilung zu suchen. Und wenn du sie gefunden hast ..." Nun kam Jill mit großen Schritten wieder auf ihn zu, packte ihm grob am Kragen, drängelte ihn so weit rückwärts, bis Cecil die steinerne Wand in seinem Rücken spürte. Efeu raschelte und blättrige Hände mit hölzernen Fingern legten sich auf seine Schultern, strichen ihm über die Haare. Cecil atmete flach durch den Mund, ertrug den Gestand von Jills Atem nicht.
„Und wenn du die verdammte Heilung gefunden hast, dann sorg dafür, dass das Wissen in ganz Mhernyk herumgetragen wird. Es gibt genug wahnsinnige Gelehrten hier in der Stadt, die darauf aus sind, die Welt auf ewig in den Status der Dunkelheit zu versetzten. Das Monster der Ewigen Nacht. Wenn es gefunden wird ... dann wird es nie wieder einen Tag geben." Jill holte zitternd und tief Luft. „Die Ewignacht ... sie darf nicht kommen."
Cecil wollte sich aus Jills kräftigem Griff lösen, doch er wusste nicht, wie er dies bewerkstelligen sollte, ohne den Gelehrten vor sich zu verärgern. Also hielt er es aus, bis Jills seltsamer Anfall vorbei war.
„Du hast die Goldwaffe gewählt", murmelte Jill weiter und schloss die Augen, ließ den Kopf vornüberfallen und bettete seine Stirn an Cecils Schulter. „Die Goldwaffe. Du ... du bist auf meiner Seite."
Cecil zitterte am ganzen Körper. Wenn er sein neues Leben so betrachtete, dann wünschte er sich nun doch wieder zurück zum Runenmonster. Gegen das hatte er wenigstens einen Plan gehabt, doch Jill ... Jill war offensichtlich seit seiner ersten Nacht in Mhernyk nicht mehr ganz klar im Kopf.
„Ich ... verstehe überhaupt nichts von den Waffen ...", murmelte Cecil. „Ich habe einfach die genommen, die näher lag."
„Ich verstehe." Abrupt ließ Jill ihn los, hob die Hände und spreizte die Finger, als hätte er sich an Cecil verbrannt. „Aber Gold ist Gold, nicht wahr?" Er kicherte und fuhr sich dann mit einem Ärmel über sein narbiges Gesicht. „Entschuldige ... manchmal fällt es mir schwer, meine Gedanken zu ordnen." Er holte erneut ein paar Mal tief Luft. Er schien sich wieder zu fangen. Cecil hielt das für ein gutes Zeichen, dennoch blieb er sicherheitshalber an der Wand stehen. So beängstigend der Stein mit dem Efeu vorhin noch gewesen war, so sicher fühlte er sich jetzt – immerhin konnte Jill im so keinen Dolch in den Rücken rammen.
„Dieser Satz", fing Cecil zögernd an. „Gold tötet, Silber bestärkt ..."
„Das sagt man in Mhernyk so." Jill zog sein eigenes, goldenes Schwert hervor. „Das Gold symbolisiert Solars' Licht. Die Macht des Tages also. Aber es nur selten reines Gold. Das ist zu weich und verformt sich zu schnell, ist nicht geeignet zum Kämpfen. Die meisten Goldwaffen sind Legierungen. Doch je höher der Goldanteil ist, desto effektiver sind sie gegen die Monster. Das Gold ist der einzige Weg, den Runenmonstern tödlichen Schaden zuzufügen. Schneidest du sie hingegen mit Silber" – nun zog Jill aus einer Lederschlaufe um sein Bein einen Dolch mit heller Klinge heraus – „verstärkst du ihre Fähigkeiten nur."
„Ah", machte Cecil und fuhr mit dem Finger seiner rechten Hand über seine linke. „Deswegen hast du mich mit dem Dolch geschnitten? In die Rune?"
„Ja." Jill nickte. „Das ist die Heilerrune und es sollte die erste Rune sein, die sich ein Gelehrter stechen lässt. Abgesehen von der Krallenspur natürlich." Jill ballte seine linke Hand zur Faust und Wut schlich sich in seine Gesichtszüge. Sein Atem kam schnaubend. „Du entscheidest selbst, was für ein Gelehrter du sein willst. Willst du ein Gelehrter des Goldes sein, der die Runenmonster tötet und andere Gelehrte jagt? Oder bist du ein Gelehrter des Silbers, der sich die Macht der Runen zunutze macht? Es gibt nur diese beiden Parteien und einer von ihnen musst du dich anschließen."
„Ich muss?", wiederholte Cecil mit kleinlauter Stimme, doch Jill hörte ihn entweder nicht oder ignorierte ihn vorsätzlich.
„Ich trage keine einzige weitere Rune an meinem Körper. Und selbst die Nutzung der Heilerrune habe ich sehr lange vor mir hingeschoben. Erst, als mich dieses Monster zerfleischt hat, habe ich sie genutzt. Um nicht zu sterben, weil ich genau wusste, dass in der nächsten Nacht ein weiterer armer Tölpel gegen seinen Willen zu einem Gelehrten gemacht wird. Aber ich verlasse mich nicht auf diese Runen, die meinen Verstand benebeln. Ich gehe keine Eide mit Monstern ein, von denen einige mir in ihrer Intelligenz weit überlegen sind. Ich verlasse mich nur auf meine goldenen Waffen und töte die Gelehrten, die nicht auf meiner Seite kämpfen." Jill atmete schwer, dann öffnete er langsam wieder seine Hand. „Und du, Cecil ...", raunte er am Ende seiner kleinen Ansprache. „Du musst entscheiden, auf welcher Seite zu stehen willst." Jill wandte sich von ihm ab, seine Stimme drang nur noch leise an Cecils Ohren, als sie der Gelehrte immer weiter von ihm entfernte. „Und je nachdem, für welche Seite du dich entscheidest hast du andere Feinde in Mhernyk."
Er sagte nichts von Freunden, doch Cecil verstand die unterschwellige Botschaft, die in Jills Worten lauerte auch ohne, dass er das Offensichtliche aussprach.
Es gab keine Freunde in Mhernyk.
Und Jill wahrte nur so lange den Schein, als wäre er einer, bis Cecil sich entschieden hatte. Der frisch erschaffene Gelehrte schluckte schwer, dann stieß er sich von der Wand ab und schlich Jill hinterher. Auch wenn dieser Mann eine Bedrohung sein könnte, er war zumindest bereit, ihm zu helfen.
Und Cecil würde jede Hilfe gebrauchen, wenn er überleben und das reine Blut finden wollte.
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