Alvadee
Alvadee öffnete die Haustür mit einem alten Schlüssel, von dem sie kupferne Farbe bereits abblätterte und die schmucklose, graue Oberfläche des Eisens zum Vorschein brachte. Der Riegel des Schlosses glitt mit einem schaurigen Quietschen nur schwerfällig zurück und als Alvadee die Finger vom Schlüssel nahm, waren diese gerötet und leuchteten in dem dämmerigen Licht der Nacht wie ein Warnsignal auf.
Vielleicht sollte sie diese Warnung ernst nehmen.
Bleib Zuhause und sorge dafür, dass du am Leben bleibst.
Die Begegnung mit dem Gelehrten hatte ihr einen Schrecken versetzt, einen, den sie nicht so leicht vergessen würde. Sie senkte den Kopf, sodass ihr ihre blonden Haare über die Wangen fielen und öffnete die Haustür. Das Knarzen der Angeln begrüßte sie, dicht gefolgt von einem mädchenhaften Schrei. Füße trappelten über den ausgetretenen Teppichboden, der einst wunderschöne Farben besessen hatte, die nun jedoch von einem grauen Staubschleier verdeckt wurden. Alvadee hatte in der Nacht keine Zeit, um sauberzumachen, doch zum Glück störte es Ethel nicht.
Alvadee war kaum über die Türschwelle getreten, da schlangen sich auch schon die kurzen Kinderarme um ihre Hüfte und der Kopf mit den roten Korkenzieherlocken drückte sich gegen ihren Schritt.
„Du bist da!", quietschte Ethel vergnügt. „Du bist wieder da! Heißt das, du bist für diese Nacht fertig?" Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte mit ihren grauen Augen, deren Pupillen von einem jadegrünen Rand umgeben waren, zu ihr auf. Alvadee legte eine Hand auf die Lockenpracht des Mädchens. Fühlte das weiche Haar, von denen einige Strähnen zwischen ihren Fingern hervorquollen und dabei an Tentakel von Monstern erinnerten. Sie schauderte und nahm ihre Hand schnell wieder weg, widerstand dem Drang, sie an ihrem wollenden Mantel abzuputzen.
„Ja, ich bin wieder da", bestätigte Alvadee und schob Ethel mit einer sanften Geste von sich, um den Flur entlangzugehen. Ihre Schritte klangen dumpf auf dem Boden, doch das dunkle Holz unter dem Teppich knarzte besorgniserregend. Irgendwann würde sie Ethel einen neuen Wohnort besorgen müssen, doch für diese Nacht sollte ihr altes Haus noch ausreichen. „Aber ich muss gleich wieder los. Ich wollte dir nur etwas zum Essen bringen."
Sie wuchtete ihre Tasche auf den kleinen, weiß angemalten, metallenen, runden Tisch auf der Küche, die nur durch einen Türrahmen und einen fleckigen und löchrigen Vorhang vom Hausflur abgetrennt war. Ethels Nasenflügel blähten sich sichtlich, als sie Alvadee hinterherkam und sich auf die Zehenspitze stellte, ihre blassen Finger um den Rand des Tisches bog.
„Das riecht lecker", meinte sie und ihre Zungenspitze erschien frech in ihrem rechten Mundwinkel. Alvadee lächelte sie an und öffnete die Schnalle. Papier knisterte verführerisch in dem Innern und sie holte die verschieden großen Packen heraus.
„Ich war nur kurz auf dem Markt und habe das genommen, was gerade frisch geschlachtet worden ist", erklärte sie, während Ethel sich brav einen Stuhl heranholte und auf das dünne Sitzkissen kletterte. „Ich hoffe, der Geschmack von Schwarzfederhühnchen wird dir nicht langweilig."
„Überhaupt nicht." Ethel wartete, bis Alvadee ihr eine Serviette um den Hals gebunden hatte. Dann hopste sie auf ihrem Sitz auf und ab und sah ungeduldig dabei zu, wie Alvadee das Fleisch auf die vollgestellte Anrichte legte, auspackte und mit einem scharfen Messer auf einem hölzernen Brettchen in mundgerechte Stücke schnitt.
„Möchtest du nichts essen?", fragte Ethel irgendwann. „Du hast gar nichts für dich mitgebracht."
„Ich esse später", beruhigte Alvadee das junge Mädchen. „Ich wollte nur erst ein paar Runen erneuern und dir etwas zu Essen besorgen. Das waren die wichtigsten Aufgaben."
Ethel runzelte die Stirn. „Ich bin nicht so wichtig", meinte sie. „Ich bin doch noch klein."
Alvadee schenkte ihr ein zartes Lächeln. Sie und Ethel waren nicht wirklich miteinander verwandt, doch ihr Vater hatte das kleine Mädchen von seiner letzten Arbeitsnacht mit nach Hause gebracht und Alvadee das Versprechen abgenommen, sich um sie zu kümmern. Sie versuchte, nicht allzu oft an Ethel zu denken, denn das Kind war ihr selbst ein bisschen unheimlich. Sie war noch so jung, doch Alvadee konnte sich mit ihr wie mit einer Erwachsenen unterhalten.
„Du bist sogar sehr wichtig, Ethel." Alvadee holte eine silberne Gabel aus der Schublade, stieß diese mit einem lockeren Schwung ihrer Hüfte wieder zu und stellte dann das rohe und blutige Fleisch vor Ethel hin. In den grauen Augen des Mädchens leuchtete Gier auf, doch anstatt sich auf ihre Mahlzeit zu stürzen, streckte sie die Hand nach der Gabel aus. Alvadee reichte sie ihr und wandte sich dann ab.
Sie musste nicht dabei zusehen, wie Ethel aß, außerdem hatte sie nicht so viel Zeit.
„Ich muss dann auch wieder los", meinte sie und verschloss ihre Tasche wieder, um sie zu schultern.
„Geh nicht", bat Ethel zwischen zwei Bissen. Roter Fleischsaft lief an ihrem Kinn herunter. Ethel öffnete den Mund und leckte ihn mit ihrer viel zu spitzen Zunge ab. „Bleib bei mir. Was ist, wenn man mich findet?"
Alvadee ging noch einmal zu ihr, um ihr erneut über die Locken zu streicheln. „Sie werden dich nicht finden, dafür sorge ich", versprach sie.
„Heißt das, du erneuerst die Runen?" Ethels Gesicht verdüsterte sich. „Ich mag sie nicht. Wenn sie da sind, kann ich das Haus nicht verlassen."
Früher hatte Ethel nicht so geredet. Aber da war sie auch noch kleiner gewesen und hatte den Großteil der Nacht verschlafen. Jetzt war sie wach und Alvadee hoffte, dass sie das kleine Mädchen in Zukunft noch gebändigt kriegen würde. Vielleicht würde sie für den Anfang mehr Fleisch besorgen. Von besserer Qualität. Vielleicht exotischere Sorten. Doch dafür musste sie in die wirklich dunklen Gassen von Mhernyk hinabsteigen und sie wusste nicht, ob sie dies tatsächlich bewerkstelligen konnte.
„Aber du musst das Haus doch auch gar nicht verlassen!" Alvadee deutete auf den Vorhang, der sich leicht aufgrund eines schwachen Luftzuges in dem undichten Haus, hin und her bewegte. „Im Wohnzimmer gibt es noch viele Bücher, die du noch nicht gelesen hast. Damit beschäftigst du dich ein paar Glockenschläge lang und dann komme ich schon wieder und bringe dir erneut eine Mahlzeit."
Ethel zog einen Schmollmund und steckte sich eine weitere Gabel voller rohen Fleisches zwischen die Lippen. Sie kaute mit zusammengezogenen Augenbrauen. Alvadee hörte das Schmatzen überdeutlich, auch wenn Ethel sich Mühe gab, es so gut wie möglich zu verbergen. Ihre Manieren hatten sich seit letzter Nacht wirklich gut gebessert. Alvadees Erziehungsmethoden schienen zu funktionieren.
Ich bin selber noch fast ein Kind, schoss es der jungen Kerkermeisterin durch den Kopf. Und nun erziehe ich eines. Die Welt ist verrückt.
Ethel schluckte geräuschvoll und Alvadee konnte beobachten, wie sich der Fleischklumpen seinen Weg durch ihre Speiseröhre nach unten bahnte. Sie unterdrückte ein Würgen und überprüfte, ob sie noch genug Goldmünzen in ihrer Tasche hatte.
„In Ordnung", meinte das Mädchen schließlich und leckte sich über die Lippen, während es die vier Zinken der Gabel in ein weiteres Stück Fleisch bohrte. Seit sie da war, ernährte Alvadee sich nur noch von Gemüse und Früchten, da Ethels ihr den Appetit auf Fleisch verdorben hatte. Allerdings, und das hatte ihr Vater ihr erzählt, ging es vielen Kerkermeistern so. Viele der Runenmonster stanken nach verfaultem oder verbranntem Fleisch und keiner von ihnen war erpicht darauf, an diesen bei einer Mahlzeit erinnert zu werden.
Vielleicht fand Alvadee unterwegs einen Stand, der Dämmeräpfel verkaufte. Die würden ihren Hunger für einige Stunden stoppen.
„Aber ich möchte bald mit dir rausgehen", bestimmte Ethel nach ihrer Zustimmung. Alvadees Herz machte einen besorgniserregenden Satz, dann schien es tatsächlich einige Millimeter nach unten zu rutschen.
„Bitte was?", fragte sie verdutzt und drehte sich erneut zu der Speisenden um. „Das ... Ethel, das hatten wir doch schon besprochen. Du kannst nicht raus auf die Straßen."
„Wegen den Gelehrten." Ethel nickte wissend. Alvadee schaffte es nicht, das Verhalten des Mädchen richtig zu interpretieren. Was ging in ihrem hübschen Lockenköpfchen nur vor sich? Ethel zeigte mit ihrer glänzenden Gabel auf Alvadee.
Es ist nur Zufall, dass die Zinken direkt auf mein Herz zeigen, redete diese sich ein. Eine Schweißperle formte sich an ihrer Schläfe und glitt über ihre Haut. Nur ein Zufall. Ich war immer gut zu Ethel.
Doch in Wahrheit wagte sie sich alle paar Stunden in ein Nest und das war es, was Kerkermeister eigentlich vermeiden sollten.
Wieso hast du sie mitgebracht, Vater?
Die Antwort war einfach, doch Alvadee wünschte sich manchmal, sie wäre komplizierter. Kerkermeister hatten die Aufgabe, Monster vor den Gelehrten zu verstecken. Das reichte als Motivation für Alvadee, dem gruseligen Mädchen immer wieder neue Nahrung zu bringen. Sie hoffte nur, dass Ethel nicht eines Nachts der Meinung sein würde, Alvadee würde eine bessere Mahlzeit darstellen.
„Genau." Alvadee ging zu der Spüle und suchte sich ein Glas heraus. Sie drehte den Wasserhahn an und hörte das Gurgeln und Spucken der Flüssigkeit in den alten Rohren. Zuerst regte sich nicht, dann spritzte der Strahl mit so einer Wucht heraus, dass er Alvadees Gesicht mit dicken Tropfen benetzte. „Die Gelehrten sind nicht lieb zu dir, Ethel. Deswegen musst du dich verstecken."
„Aber ... ich könnte helfen", sagte Ethel hinter ihrem Rücken. Klang ihre Stimme näher als vorhin? Vielleicht sogar bösartiger? Alvadee vertrieb die schlechten Gedanken aus ihrem Kopf und beobachtete das vom Rost verfärbte Wasser, bis es sich aufklarte. Dann erst hielt sie ihr Glas darunter, das vom häufigen Spülen bereits weiße Schlieren davongetragen hatte. Das kühle Nass würde ihr guttun.
„Wie möchtest du denn helfen, Ethel?", fragte Alvadee und trank ein paar Schlucke.
„Ich könnte Gelehrte ablenken, während du arbeitest. Das wäre doch etwas."
„Das ist zu gefährlich." Alvadee stellte das Glas ab und drehte sich um. Zuckte zurück, traf das gläserne Gefäß mit ihrem Ellenbogen und schleuderte er es auf den Boden. Es zerbrach zu tausenden kleinen und funkelnden Splittern, die inmitten einer sich immer weiter ausbreitenden Wasserlache schwammen. Alvadee hatte noch nie einen See oder gar das Meer gesehen, doch sie schätzte, dass es bei Nacht ähnlich aussehen musste – wenn nicht sogar noch schöner.
Ethel stand direkt vor ihr und griff nach ihren Händen. Sie war sehr stark für ihr Alter, doch es war klar, dass der Körper des kleinen Mädchens nur eine Hülle war. Alvadee schluckte und starrte auf ihre ineinander verflochtenen Finger herab. Lange würde sie sich nicht mehr einreden können, dass Ethel ein ganz normales Mädchen war. Wie schafften das andere Familien nur? Oder waren die Monster dort anpassungsfähiger, weil sie nicht wollten, dass sie erkannt wurden? Benahm sich Ethel nur so, weil Alvadee ihre wahre Identität wusste? Oder steckte etwas Anderes dahinter?
„Alvadee." Ethel sprach ihren Namen langgezogen aus, dass es sich beinahe grotesk anhörte. „Du hast mir über die letzten Nächte geholfen und in den zukünftigen kann ich dir helfen. Ich kann das. Mir wird nichts passieren."
Alvadee räusperte sich. Obwohl sie gerade etwas getrunken hatte, fühlte ihr Hals sich trocken und rau an, als hätte sie die ganze Zeit geschrien.
„Ich weiß das, Ethel. Aber ich mache das gerne und außerdem ... du kennst die Gelehrten nicht." Sie wand eine ihrer Hände aus Ethels starkem Griff und strich dem Mädchen eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Lag es an der gekippten Stimmung oder fühlten sich die Strähnen wirklich wie borstiges Fell an?
„Dann sollte ich sie kennenlernen", erwiderte Ethel mit selbstbewusster Stimme. Waren ihre Augen dunkler geworden? „Ich kann das, Alvadee."
„Dessen bin ich mir sicher." Alvadee lächelte und wäre am liebsten weggerückt, doch die Küchentheke stemmte sich mit aller Macht gegen ihre Hüfte und nach rechts oder links ausweichen konnte sie schlecht, ohne Ethel grob von sich zu stoßen. „Wir warten noch ein bisschen, ja? Wenn du größer bist, dann ... vielleicht." Alvadee wollte Ethel nichts versprechen. Es war nie gut, einem Monster ein bindendes Versprechen zu geben, denn diese nahmen es damit sehr genau. Es waren Eide, an die sie sich hielten, bis dieser gebrochen wurde. Alvadee wusste nur wenig darüber, denn das war eher das Metier der Gelehrten und weniger der Kerkermeister. Doch gehörten die Eidrunen-Monster zu denen, die sie dringend verstecken musste. Je mehr Monster ein Gelehrter mit einem Eid an sich gebunden hatte, desto mächtiger wurde er – jedoch auch unberechenbarer. Es gab viele Geschichten über Gelehrte, die ihren Verstand verloren hatten, da sie einen Eid mit einem falschen Runenmonster eingegangen waren, denn nicht alle von ihnen waren blutrünstige Bestien. Einige Runenmonster waren gewieft und ihre Intelligenz überstieg die der Menschen bei Weitem. Das waren die besonders Gefährlichen und Alvadee musste dafür sorgen, dass sie unentdeckt blieben.
„Vielleicht." Ethel lächelte und zeigte ihre spitz zulaufenden Zähne. Sie ließ Alvadees Hände los, trat einen Schritt zurück und legte den Kopf schief. Schloss den Mund wieder und nahm die Hände hinter den Rücken, wippte auf den Fußballen auf und ab.
Unschuldige, süße Ethel.
Ein Monster.
„Ich muss jetzt wirklich los, Ethel. Ich komme später noch einmal", sagte Alvadee und drückte sich an dem Mädchen vorbei, legte dabei eine Hand auf ihr wertvolles Medaillon.
„In Ordnung", sagte Ethel. Alvadee hörte, wie die Stuhlbeine über den gekachelten Boden – himmelblau und weiß – schabten. Eine Gänsehaut überfiel ihren Körper, weil es sich anhörte wie die Laute eines Runenmonsters. „Ich esse noch zu Ende und lese dann ein wenig."
„Mach das."
Alvadee war versucht, im Wohnzimmer nachzusehen, ob Ethel die Bücher der Kirche des reinen Blutes schon gefunden hatte. Dabei hatte sie sie gut versteckt, die alten Schätze ihres Vaters, von denen sie nicht einmal wusste, woher er sie eigentlich hatte.
Die Kirche und die Kerkermeister waren keine Freunde. Eigentlich waren sie sogar Feinde, wie mit den Gelehrten. Doch der Spruch Mein Feindes Feind ist mein Freund galt in Mhernyk nicht, denn auch die Gelehrten und die Kirche waren nicht gut aufeinander zu sprechen. Alvadee konnte nicht sagen, wieso ihr Vater diese Bücher gerettet hatte, wo doch die wenigen Verstreuten der Kirche verbissen nach ihnen suchten und die Gelehrten es ebenfalls taten, um das Wissen endgültig zu zerstören. Es musste noch mehr Bücher geben, unter anderen in der Kirche selbst, gut beschützt und verborgen vor neugierigen Augen. Doch dieser Zustand konnte nicht ewig anhalten.
Es gab in Mhernyk mehrere Parteien und jede einzelne arbeitete für sich und auf die eigenen Ziele hinaus. Und Alvadee war nicht die Einzige, die sich fragte, welche der vielen Seiten schlussendlich den Sieg für sich beanspruchen wird.
In der Küche hörte sie Ethel wieder schmatze und widerstand dem Drang, nachzusehen. Sie hatte die Bücher sehr gut versteckt und das Mädchen würde sie nicht finden können, vor allem, da Alvadee sie auch mit Runen zusätzlich geschützt hatte. Sie musste darauf vertrauen, dass diese Runen noch eine Weile halten würde, ehe sie gezwungen war, sie zu erneuern.
„Tschüss, Ethel!", rief sie, ging den Hausflur entlang, trat durch die Tür, zog sie hinter sich zu und schloss mit dem Schlüssel wieder ab. Alvadee hatte kein wörtliches Versprechen gegeben, doch das Knacken des Schlosses schien eines zu sein.
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