7. Ibo Lele

Dieses Kapitel ist für _Wings und ihre Kurzgeschichte Verwandlungsgier. Ich habe ÜBERHAUPT NICHT bei ihr abgeschaut. Denn in ihre Dschungelbeschreibungen könnte ich mich einfach reinsetzen, und wenn ihr mehr gruseligen Urwald haben wollt, lest dort einmal rein.

Natürlich hier auch mit Soundtrack: Danheim - Framganga und Danheim - Glitnir. Letzteres abspielen, sobald Ibo Attica heilt.

https://youtu.be/E8mGWYRcmec

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Energisch schlug Attica die leblosen Gliedmaßen aus ihrem Weg. Die Leichen hingen an Lianen in den Bäumen, zwischen Schlingpflanzen und den saftig dunkelgrünen Blättern des Waldes. Baumkronen fraßen das Tageslicht und ließen ein stickiges, atemloses Dämmern zurück. Nebel hing wie ein Leichentuch zwischen Bäumen und Unterholz. Orchideenblüten glühten Juwelen gleich in der Dunkelheit des Grüns.

Attica stolperte über einen heimtückisch verborgenen Ast am Boden und stützte sich schwer auf den nächsten umgestürzten, halb verrotteten Baum. Holz krümelte unter ihren Fingern. Ihr Arm schien sich aus ihrem Körper lösen zu wollen. Der Schmerz ließ ihn schier glühen, bei jedem einzelnen Schritt, obwohl Norren ihn in eine Schlinge gelegt hatte.

Fauchend stemmte sie sich auf und hob ihr Schwert auf. Die Steine, die den ausgezehrten, dunkel verfärbten Leichen als Augen dienten, beobachteten sie scharf. Ketten aus Knochen, Holzstücken und anderen Schätzen des Waldes zierten die Toten, Lumpen und Tierfelle hingen von ihren eingefallenen Hüften. Attica meinte, aus dem Augenwinkel zu sehen, wie ihre Finger zuckten, und wie sich ihre Köpfe beinahe unmerklich in ihre Richtung drehten.

Sie wischte wütend den Schmutz von ihren Hosen und setzte ihren Weg fort, gefolgt von Norren, Durag und dem kümmerlichen Rest ihrer Crew. Ihre Schritte und das Rascheln der Stiefel im Laub waren die einzigen Geräusche. Der Nebel und die bläulichen Gewächse schienen jegliches Geräusch mit ihrem Atem zu ersticken, als wandte sich der Regenwald gegen sie. Attica wurde dieses Gefühl nie los, selbst wenn sie wusste, dass sie zumindest geduldet war. Sonst hätten die Leichen sie nie so weit vorstoßen lassen. Geschweige denn, dass sie den Trampelpfad, dem sie folgten, gefunden hätte.

Attica spürte die Angst ihrer Kameraden in ihrem Rücken, hörte ihre schnellen Atemzüge, als schnappten sie nach Luft wie Ertrinkende. Keiner von ihnen hatte sich ihr widersetzt, als sie mit dem hastig in Jithery gestohlenen Handelskutter vor dem einsamen Flecken Regenwald unter den Nebeln, am Grund der nun untergegangenen Welt gelandet war. Eine grüne Oase der Toten zwischen verbrannter, trockener Erde und zu merkwürdig spitzen Felsformationen aufgeworfenen Erdplatten. Merkwürdige, gestaltlose Schatten schlichen zwischen längst vergessenen Wracks und den Überresten von Imperien umher, doch keiner wagte es, einen Schritt in das Labyrinth aus grünem Geifer und schwarzer Haut zu setzen.

Hinter ihr vernahm sie das Klicken von Durags Gewehr, das Klirren der Schwerter, das leise Knirschen, mit dem Norren die Trommel seines uralten Revolvers drehte, wieder und wieder. Die Crew setzte ihre Schritte bedacht, als fürchteten sie Schlangen unter ihren Füßen, wilde Bestien, die ihnen in den Rücken fielen, als glaubten sie, dass der Wald nur Atem holte für ihren Tod. Selbst Norren, der sie bereits hierher begleitet hatte, war seine Angst nie losgeworden. Sie hatte es bei diesem elenden Feigling auch nicht anders erwartet.

Attica begrub das Flattern in ihrer Magengrube unter einer sorgfältigen Schale aus Hass. Seit die Korvette sie vom Himmel geschossen hatte, fragte sie sich, wie Shuriken es gelungen war, einen derart trefflichen Mitstreiter für ihren Ausbruch zu kennen, noch dazu jemanden, der Canwy Roch kannte. Jene Canwy Roch, die ein Luftschiff besaßen. Und wen sie mit ihrem Körper bestochen haben musste, dass sie Attica angriffen. Mehr als das hatte die Kitsune nicht.

Wer sich ihr widersetzte, bekam die Peitsche zu spüren, das wusste jeder in ihrem Bordell. Wer sich zu oft wehrte und als wertlos erachtet wurde, wurde an der Kante von Korvengerstein hingerichtet. Dutzende Leichen junger Frauen und Männer mussten die Gebirge um die schwebende Stadt beflecken. Wer floh, wurde eingefangen und bekam eine Strafe, neben der die Peitsche verblasste. Attica hatte genug Bestrafungen in der noxischen Armee gesehen, dass sie mehr als nur einfallsreich war.

Wer jedoch beschloss, abzuhauen und dabei erfolgreich war, bei dem musste sie zu anderen Mitteln greifen.

Sie schlug die letzten mannshohen Pflanzen beiseite und entblößte die Lichtung dahinter. Die Gehölze hatten sich geradezu angstvoll zurückgezogen, um Platz zu machen für den gewaltigen Stamm des Baumes, der in ihrer Mitte stand. Plattenwurzeln bildeten ein kniehohes Labyrinth, die Rinde ledrig wie die Haut der Toten. Wie ein Schirm spannte sich seine Krone über den mit Tümpeln übersäten Boden, so schwer, dass manche Äste sich bereits mit dem Boden verbunden hatten. Raubtiere, zerfetztes Fell über morschen Knochen, waren zwischen sie gespannt wie Webwerk. Schlingpflanzen der anderen Bäume griffen furchtlos nach seinen Blättern und verwoben sich zu einem undurchdringlichen Dach aus pulsierendem, ertränkendem Blaugrün. Leichen, die Arme von sich gestreckt, als hätte man sie gekreuzigt, hingen an den Ästen. Attica trat voran, bevor das Grauen sie überwältigen konnte, vorbei an den baumelnden Beinen, den klaffenden, mit Zähnen und Metallstücken gespickten Mäulern und den ausgestreckten Krallen, bis sie die Hütte erreichte, die sich in den Schatten des Baumes drückte.

Eine Hand packte sie am Bein, und beinahe hätte sie blind mit dem Schwert danach geschlagen, doch sie beherrschte sich. „Fass mich nicht an", blaffte sie Durag an.

Durag hob scheinheilig die Hände. „Wie du willst. Aber bist du dir sicher, dass du da rein willst?"

„Und wie ich das bin." Attica lächelte ihrem Bruder zu. „Norren, mein liebster Schatz, möchtest du mir mir kommen?"

„Nein."

„Das war ein Befehl."

„Das war eine Bitte, du hirnlose..."

Sie versetzte ihm einen schnellen Stoß, der ihn gegen die Beine der Leiche neben sich taumeln ließ. Norren kreischte wie ein Mädchen, der Schrei fuhr durch die angespannte Stille wie ein Schuss. Die Männer rissen ihre Waffen hoch. Attica lachte gehässig. „Komm, Bruder. Strej, Dunne. Du auch, Slaad. Sieh zu, dass Norren nicht abhaut."

Der Gremlin spannte den Hahn seiner Waffe und blickte herausfordernd zu Norren. Atticas Bruder murmelte Flüche vor sich hin. Sie tat, als höre sie nichts, und nahm sich vor, ihm einen weiteren Zahn auszuschlagen.
Attica klopfte fest gegen die Tür, und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. „Sei gegrüßt, Ibo."

Ibo Lele wandte sich um, die nackte Brust mit den Ketten aus Vogelschädeln und die Arme mit schwarzem Blut verschmiert, dunkler noch als seine Haut. „Attica."

„So ist mein Name." Sie trat ein, schob ein paar stockfleckige Bücher von der Kante eines Tisches und ließ sich dort nieder. Abgestoßen und doch neugierig lugte sie an dem Mann vorbei zu dem, was auf seinem Tisch lag. Schwarze Zähne und zu viele Augen blickten ihr entgegen, und sie beschloss, ihn nicht zu fragen, was genau er nun zu neuem Leben erwecken wollte. „Irgendetwas an dir sagt mir, dass du ein Nekromant bist, aber ich komme nicht darauf, was."

Norren, Durag, Strej und Dunne traten nach ihr ein und sahen sich unbehaglich um. Teile von Tieren, Menschen und anderen Lebewesen übersäten die Wände, hingen dort nebst verrosteten Waffen und merkwürdig gewöhnlich erscheinenden Artefakten. Münzen, die Attica als jene aus Jade erkannte. Militärabzeichen untergegangener Imperien. Der Fetzen einer gauterlemischen Flagge. Und neben all diesen Dingen hingen Puppen, krude genäht, und doch eindeutige Darstellungen bestimmter Personen. Manche hatten die Arme ausgestreckt, wie die Toten draußen in den Bäumen. Ein paar hatten die Form von Raubtieren, eingespannt in Traumfänger. Zähne hingen an den Schnüren. Norren trat einen Schritt zur Seite, seine Schulter streifte eine der Puppen, und er stieß einen erstickten Schrei aus. Attica bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick.

„Pass auf, was dein Schwert berührt." Ibos Tonfall machte klar, dass er es ihr heimzahlen würde, wenn die Waffen auch nur eine einzige seiner geheiligten Artefakte berührte.

Es war nicht das Schwert der Meere, das er meinte. Die Scheide ihrer zweiten Waffe war aus Eisen, so schwer, dass Attica sie immer wieder von einer Seite auf die andere wechseln musste. Von dem Gewicht bekam sie höllische Rückenschmerzen, doch das war es ihr wert. Es war das Einzige, das die Macht der Waffe in Zaum zu halten vermochte.

Herausfordernd schob sie mit dem Daumen die Klinge ein Stück weit hervor, dunkles Metall mit groben Einlegearbeiten aus schwarzen, leicht pulsierenden Korallen. Lastora hatte es dereinst einem verrückten Gremlin abgenommen, und hatte es für ein extravagantes Stück Artificier-Metall gehalten, bis sie begriffen hatte, dass die Klinge Magie erstickte wie Wasser das Feuer. Nur mit ihr war es ihr gelungen, den Karr, strotzend vor dämonischer Macht, zu töten.

Ibo warf Attica einen strengen Blick zu. Gehorsam ließ sie das Schwert in die Scheide zurück gleiten.

Er wischte sich die Hände an einem Tuch ab und zog einen Vorhang vor sein Werk. „Was führt dich hierher?"

Attica zuckte mit den Schultern und betrachtete ihre Krallen. „Das Übliche. Eins meiner Mädchen ist abgehauen, und nun frage ich dich, damit du sie wiederfindest."

„Wen?"

„Eine kleine Kitsune. Wir nennen sie Shuriken. Sie heißt..." Hilfesuchend sah sie zu Norren.

„Ona Canto", ergänzte er.

„Ich habe auch, was du brauchst." Sie nahm ein Büschel roter Haare aus einem Lederbeutel und hielt es ins schummrige Licht der über den Raum verstreuten Kerzen.

Ibo nahm es ihr vorsichtig aus der Hand. „Du weißt, dass ich einen Preis erwarte."

„Aye." Sie zog einen Geldbeutel aus ihrer Tasche. „Und den..."

„Kein Gold."

Sie stutzte. „Nicht? Verdammt, du erwartest doch nicht, dass ich dir wieder einen meiner Männer überlasse!"

Strej wechselte einen erschrockenen Blick mit Dunne. Dunne lächelte schief. „Das hat sie wirklich schon einmal getan, aye."

„Doch ich verlange es nicht." Ibo trat auf Attica zu. „Du musst jemanden für mich zur Strecke bringen."

„Erst einmal muss ich mein Mädchen finden."

„Was mit meiner Hilfe erstaunlich einfach sein wird", entgegnete er ruhig, doch mit einem stählernen Unterton, den sie seit ihren Abenteuern in den Dschungeln Kasiens gehasst und geschätzt hatte.

Sie verdrehte die Augen. „Natürlich. Wen suchst du?"

„Jemand macht Jagd auf den Zirkel. Sie ist eine Kriegerin des König Schellen, und vermag es, die Banshee zu rufen und auf uns zu hetzen." Er berührte das Amulett an seinem Hals, ein Stück Leder mit dreizehn schwarzen, glatten Augen. Bis auf vier waren alle von ihnen geschlossen. „Fast alle von uns sind tot. Nur die Mächtigen sind verblieben. Eleuthera, Lasainte, ich. Und Anathère. Doch wo sie ist, weiß niemand." Er blickte Attica eindringlich an. „Eleuthera fürchtet um ihr Leben, und ich auch."

Attica erwiderte seinen Blick unbeeindruckt. „Ihr seid alle so mächtig. Deine Herrin Eleuthera und deine Hexenschwestern. Warum macht ihr sie nicht einfach selbst nieder?"

„Eleuthera versucht es. Sie und ihr unsterblicher Ehemann hetzen Assassinen und Vertraute auf sie, und sie zerreißt sie in der Luft. Wir sind gebunden an unsere Heimatorte. Ohne sie sind wir keine Herausforderung." Er trat mit dem Haarbüschel in der Hand auf einen zerschrammten Schrank zu und öffnete scheinbar willkürlich Schubladen. Eine Handvoll Heu. Rötliche Stofffetzen. Ein Kompass. Eine dicke Nadel, Segelgarn.

Durag stieß ein freudloses Lachen aus. Seine Worte waren, als hätte er Atticas Gedanken gelesen. „Und du glaubst, dass wir dieser Kriegerin gewachsen sind. Wenn nicht einmal Durenskys Hexenfrau ihr etwas entgegenzusetzen hat."

„Ich habe Vertrauen in dich, Attica. Ich habe gesehen, zu was du imstande bist. Du bist eine Jägerin, die seit Jahren in einem Bordell in Korvengerstein verrottet, und ich weiß, dass du diese Priesterin finden und töten kannst."

„Ich mag es, wenn du mir Komplimente machst." Attica warf sich in die Brust.

„Außerdem brauchte ich eine angemessene Bezahlung für meine Dienste, und wenn du sie mir geben kannst, ist es mehr als nur fair, wenn ich sie von dir verlange."

Es würde schwer werden. Wenn die Priesterin tatsächlich die Banshee an ihrer Seite hatte, würden sie sie überraschen und töten müssen, bevor sie Zeit hatte, die Göttin zu rufen. „Ich denke, ich habe schon Schlimmeres getötet." Nur würde sie dafür ein besseres Schiff brauchen, dessen war sie sich sicher. Ohne vernünftige Kanonen würde sie einer mächtigen Klerikerin nicht gegenüber treten, und ihr unlängst neu errungenes hatte nicht eine einzige Waffe an Bord.

„Und der Name von dieser allmächtigen Dame lautet?", verlangte Durag ungeduldig.

„Neshira Canto."

Norren schnappte nach Luft. „Ist Canto ein häufiger Name in Jade?"

Ibo lächelte dünn. „Es ist der Name eines Adelshauses. Canto von Hanashima."

„Besteht die Möglichkeit, dass zwei Cantos miteinander verwandt sein könnten?", fragte Norren fasziniert.

„In der Tat."

Norren schlug Dunne mit Wucht auf die Schulter. „Dann haben wie ein elendiges Glück."

Attica legte den Kopf schief. „Klärt mich auf", sagte sie schnippisch.

„Warum wundert es mich nicht, dass du nichts begreifst." Norrens Grinsen war wie ranzige Butter.

„Erkläre es mir, oder ich schlage dir einen Zahn nach dem anderen aus, und bitte Ibo, eine Puppe von dir zu basteln", erwiderte sie giftig.

„Canto ist sowohl der Name von deinem Mädchen, Shuriken, als auch der von der Priesterin, nach der er", Durag wies auf Ibo, „sucht. Was nahe legt, dass die beiden verwandt sind und potenziell nacheinander suchen."

„Ich habe gehört, dass sie so etwas einmal erwähnt hat", berichtete Norren aufgeregt. „Wenn sie jemals frei kommt, wollte sie nach ihrer Schwester suchen."

„Dann wird euch das", Ibo wies auf den roten Stoff, „auch zu Neshira Canto führen."

Norren kicherte. Es sollte wohl diabolisch klingen, doch Attica erinnerte es an ein Huhn mit Schluckauf.

Sie beobachte Ibos lange Finger, wie sie rote Stofffetzen zusammennähten und die Hülle mit Heu, Stoffresten und dem Büschel roter Haare füllten, und sann über ihre kommende Jagd nach. Mit dem Wegfinder würde es geradezu lächerlich leicht werden, Shuriken zu finden, und mit ihrer Hilfe würde sie auch diese Neshira Canto finden. Sicherlich wäre sie weniger geneigt, ihre Göttin auf Attica zu hetzen, wenn Attica Shuriken beim ersten Anzeichen einer Beschwörung töten würde.

„Attica, meine Liebe." Ibo wandte sich zu ihr um, seine Stimme klang tiefer als zuvor. In seiner Händen lag eine Puppe in der Form einer Kitsune, mit einem Kompass aus Messing anstelle eines Torsos. „Geh hinters Haus und hol mir, was du dort findest."

Attica hasste diesen Tonfall. „Was ich dort finde, wird es sich wehren?" Die Frage hatte sie sich im Umgang mit ihm angewöhnt.

„Vielleicht."

Sie hielt ihm ihren gebrochenen Arm hin. „Walte deines Amtes, Heiler", schnarrte sie. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Durag eine Augenbraue hob.

Ibo trat anstandslos zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Arm. Seine Finger waren heiß wie die Kerzenflammen. Die Worte, die er murmelte, schienen das Licht verdunkeln zu lassen. Sie spürte ein Ziehen, anschwellend, bis es zu einem Reißen wurde, als zerrte er ihr die gebrochenen Unterarmknochen durch die Haut heraus. Sie brüllte auf vor Schmerz und schlug die Klauen der freien Hand in die Tischkante. Flammen züngelten an ihren Zähnen vorbei, Schwärze an ihren Augen. Sie schwankte, doch fing sich wieder.

Ibo stand vor ihr, ein schwarzes, flackerndes Gebilde auf der offenen Hand. Attica versuchte, es zu fixieren, doch es entzog sich ihrem Blick, änderte ständig seine Form. „Beeil dich", knurrte der Hexer rau.

Atticas Arm pochte, doch es war nunmehr ein Echo des vorherigen Schmerzes. Heftig wandte sie sich um, stieß Norren aus dem Weg und trat aus der Hütte hinaus ins Dämmerlicht. Still hatte sie gehofft, dass die Luft draußen weniger nach Verwesung stank, doch sie wurde enttäuscht.

Sie umrundete die Hütte. Der Gestank nach Toten wurde schlimmer. Der niedrige Verschlag sah aus, als lebten Schweine dort, doch der Geruch sagte ihr, dass dort nichts Lebendiges mehr war. Sie straffte die Schultern, hielt die Luft an und öffnete die Tür.

Fliegen stoben ihr entgegen. Leichen in sämtlichen Stadien der Verwesung starrten ihr entgegen, manche aus leeren, von Tieren leer gefressenen Augenhöhlen, andere aus glasigen Augen. Mit Blut verklebtes Fell lag neben mit Erde und Dreck verschmierter Haut. Sie erkannte die Ausrüstung von Hexenjägern an einer Gruppe von ihnen, die Gildenabzeichen stumpf und kaum zu erkennen unter all dem Schmutz und Grauen.

Attica dachte an das Schlachtfeld von Darham Vol. Ebenso wie jetzt war sie durch das Meer der Toten gewatet, eine Glefe in der einen Hand und ein Jagdmesser in der anderen, auf der Suche nach Überlebenden und jenen, die Wertgegenstände bei sich hatten.

Augen blitzten auf, jene, in denen noch Leben war. Ein Mann in der Uniform der Hexenjäger war neben der Tür angebunden. Ein schmutziger Lappen erstickte seine Hilfeschreie.

Attica zog ihn auf die Beine und stieß ihn grob zum Eingang der Hütte zurück. Der Mann zappelte und versuchte, sich ihrem Griff zu entreißen, doch ihre Hände waren trotz ihres Alters stark wie Eisenschellen.
Ibo blickte ihnen zufrieden entgegen, einen Ritualdolch in der Hand. Noch immer flackerte die Schwärze um seine Hand. Der Teppich war beiseite geräumt worden und entblößten nun das in das Holz der Bodendielen geschnitzte Kreuz, verziert mit Ornamenten und Runen. Fremdartige Artefakte und Kerzen markierten die wichtigsten Punkte des Kreuzes. In der Mitte lag ein Pferdeschädel, umwickelt mit roten Schnüren, Perlen und Glöckchen, daneben die Puppe von Shuriken. Die dumpfen Schreie des Hexenjägers wurden lauter.

„Dunne, halt ihn fest", befahl Attica. Dunne trat zu ihr und umklammerte den anderen Arm des Hexenjägers. Attica trat ihm die Beine weg, und der Jäger fiel auf die Knie. Ibo legte ihm beiläufig die Hand auf den Arm. Das Knacken seines brechenden Knochens klang wie ein Gewehrschuss. Der Jäger brüllte.

Die ersten Worte verließen Ibos Lippen, und Attica meinte, ferne Trommeln zu hören, der Widerhall ihrer aller Herzschläge. Die Kerzenflammen flackerten, als führe ein Windstoß durch die Hütte. Langsam trat Ibo auf den Mann zu, ohne seine Litanei zu unterbrechen. Attica hörte das leise Knirschen von Norrens Revolvertrommel.
Geradezu liebevoll setzte Ibo Lele das Messer an der Kehle des Mannes an und zog es ihm langsam von einem Ohr zum anderen. Blut spritzte auf Atticas Kleidung, auf Ibos Brust, befleckte die Vogelschädel und rann in die Vertiefungen des Kreuzes. Die Schreie verebbten zu einem Gurgeln. Der Mann zuckte in Atticas Griff, sträubte sich mit aller Kraft gegen seinen Tod, doch sein Leben verließ ihn mit jedem Herzschlag.

Ibos Stimme wurde lauter, erstickte die Kerzen zu beinahe unsichtbarer Glut. Schemen schlichen über die Wände, die Schatten der Puppen waren plötzlich groß wie jene an den Ästen. Attica meinte, die Krallen des toten Wesens auf dem Tisch zucken zu sehen. Der Mann in ihren Händen wurde schlaff, doch sie hielt seinen Arm umklammert, als wäre er alles, was sie auf dieser Welt hielt. Nackte Angst stand in Dunnes Blick, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Ibo trat vor und zeichnete mit dem Blut des Hexenjägers das Zeichen von König Schellen und Banshee auf die Stirn des Pferdeschädels.

Eine Gestalt mit rostrotem Fell, gekleidet in ein buntes Hemd, schwebte über der Puppe. Ihr Fell sträubte sich im Wind, Hoffnung stand in ihren Augen. Attica fletschte die Zähne. Die Luft schmeckte plötzlich nach frischen Böen, nach Schmieröl und verbrannter Kohle, nur für einen Moment, dann zerstob der Geruch mit Shurikens Abbild.

Die Kerzen leuchteten auf. Ibo stützte sich schwer auf die Kante des Tisches, seine Schultern hoben und senkten sich schnell. Attica meinte, ledrige Rinde anstelle der Haut seines Rückens zu sehen.

Er wandte sich um, seine Augen noch dunkler als gewöhnlich. Elegant schritt er auf das Kreuz zu, hob die Puppe auf und reichte sie Attica.

Sie drückte Strej den anderen Arm des Toten in die Hand und nahm sie in Empfang. Blut befleckte ihre Hände. Die Nadel des Kompasses drehte sich, zitterte und fand schließlich seinen Pol. Attica drehte sich einmal um sich selbst, doch die Nadel änderte ihre Richtung nicht.

Ein Grinsen breitete sich auf ihren Zügen aus, voller scharfer Zähne. Unter ihrem Brustkorb bebte es, eine gierige, hungrige Vorfreude auf die kommende Jagd. „Zurück zum Schiff. Wir haben einen Kurs."

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Noch so ein Kapitel, auf das ich schrecklich stolz bin.

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