4. Der Tänzer von Oren Mor

Soundtrack: Marcin Przybylowicz - In the Giant's Shadow aus dem Witcher 3: Wild Hunt Soundtrack

https://youtu.be/XnSZPHhGeP0

und Chinese Man - Shikantaza. Letzteres abspielen, sobald Neshira den Tempel betritt.

https://youtu.be/biNqld6BCI4

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Ein halbes Jahr zuvor


Neshira hatte den Namen in den Morgennebel gesprochen, und wusste, dass Anghiske kommen würde. Der du die Ahnungslosen in die Tiefen reißt, Ross der Ertrunkenen, Schatten der Sümpfe, Fluch der Ahnungslosen, Verlockung der erschöpften Reisenden. Knietief stand sie im schlammigen Wasser. Sie konnte keine zwanzig Schritte weit sehen, bevor alles verschwamm, zwischen Schilf und bläulichem Dunst, durchschnitten durch die ersten Strahlen der Morgensonne. Frösche quakten, Wasservögel trillerten ihr erstes Lied. Das Schilf flüsterte Geheimnisse.

Noch immer schmerzte ihre Schulter, als hätte man Säure hineingegossen. Sie hatte das Sumpfwasser gesegnet und darüber geträufelt, zusammen mit den Kräutern, von denen es hieß, dass sie gegen Hexenzauber halfen, doch die Pein wollte nicht verfliegen. Still hoffte sie, der Tänzer würde mehr darüber wissen.

Sie wusste, dass sie die Augen schließen musste, damit Anghiske kam. Doch sie wagte es nicht. Sie war noch immer im Revier der Hexe. Überall auf ihrer atemlosen Flucht durch den Wald und den Sumpf hatte sie die toten Vögel, die Knochen unzähliger Lebewesen und die ausgehungerten Moorwölfe gesehen, die den Vettelsumpf zu bewachen schienen. Sie war gerannt und gerannt, hatte sich versteckt zwischen Schilf und verrottenden Bäumen, bis die Schritte der Hexe verstummt waren. Bis sich die ersten Sonnenstrahlen durch Blätter und Nebel kämpften.

In der Nacht, verletzt und müde, wie sie gewesen war, hatte sie es für lebensmüde erachtet, Anghiske gegenüberzutreten. Ebenso, wie sie nachts nicht mit geschlossenen Augen durch den verfluchten Bruch hatte rennen wollen.

Neshira atmete tief durch, sog die frische Luft in ihre Lungen, und versuchte, den Geschmack nach Moder und Ertrunkenen zu ignorieren. Wasserpflanzen kitzelten an ihren Füßen, ihre Hosen schmiegten sich nass und widerlich an ihre Beine wie Anghiskes Fell. Ihre acht Schweife schwammen auf dem Wasser, ihr einstmals dunkelroter Pelz beinahe schwarz.

Angestrengt lauschte sie, nach dem Knacken von Schritten im Unterholz, nach dem Schmatzen von Füßen im Matsch, nach dem Lecken von dunklem Wasser an Beinen. Doch sie hörte nichts, bis auf die Frösche und die Vögel und ihren eigenen rauen Atem.

Sie nahm das Totem aus ihrer Gürteltasche, ein Pentagramm aus Schilfzweigen. Eine schwarze Locke fettiger Haare, zusammen mit einem krummen Horn, so lang wie ein kleiner Finger, und vertrocknete Blättern mit roten Beeren waren daran gebunden, mit einem roten Band mit weißen Perlen und einem angelaufenen goldenen Glöckchen. Es klingelte silberhell, und Neshira zuckte beinahe zusammen.

Sofort schalt sie sich dafür. Sie hatte Ruhe zu bewahren. Sie durfte keine Angst vor einem der Banshee untertänigen Wassergeist zeigen.
Ein letztes Mal schnappte sie nach Luft, dann legte sie das Totem aufs Wasser und schloss die Augen. „Anghiske."

Ihre Hand schwebte über dem Totem, das Horn war kalt und rau. Der Sumpf leckte an ihrer Hand. Jede Faser ihres Körpers war angespannt, ihre Ohren lauschten auf Wölfe und Hexen, beinahe erwartete sie das vertraute Zischen der Hexenmagie.

Plötzlich verstummten die Vögel und Frösche, als hätte man sie erschlagen. Sie hörte das leise Plätschern von Wasser. Etwas streifte ihr Bein, und Neshira dachte an scharfe, schwarzbraune Zähne, an feuchte Augen, an eine verlotterte, beinahe knöchellange Mähne, an kleine Hörner, wie jenes, das nun beinahe verlangend an ihrer Handfläche kratzte. Der Geruch nach Moder nahm zu. Glöckchen schellten leise, beinahe ertränkt im Wasser.

Etwas wölbte sich unter ihrer Handfläche. Flink griff sie zu, spürte Seile und Bänder, die glatten Erhebungen der Perlen und Schellen, ließ sie nicht aus ihren Händen gleiten. Glattes, nach Ertrunkenen stinkendes Fell floss unter ihren Fingern vorbei, darunter Muskeln und scharfe Knochen. Neshira öffnete die Augen.

Anghiske war gekommen, aufgetaucht aus Schlamm und Sumpfwasser. Seine Nüstern weiteten sich prustend. Groß und finster stand der Wassergeist vor ihr, die Ohren eng an den Hals angelegt. Schwarze Augen musterten sie voller Zorn.

Nasses Fell spannte sich über seine Rippen, seine Mähne, strähnig und verfilzt, hing bis zu seinen Sprunggelenken hinab, sein Schweif verlor sich zwischen Schilf und sterbenden Seerosen. Seine Nüstern weiteten sich prustend, sein Knurren klang nach purem, mooreskaltem Hass.
Rote Schnüre mit Glöckchen und Perlen wanden sich um seinen Körper, zwangen seinen Kopf auf die Brust, so fest, dass er sie niemals von allein lösen könnte. Tief schnitten sie in sein Fell, verschwanden zwischen seinen Lefzen wie eine Trense, wickelten sich um seine dürren Beine und lagen zwischen seinen zu knorrigen Hörnern verwachsenen Halswirbeln.

Neshira erwiderte seinen Blick mit einem schmalen Lächeln. Zu oft hatte sie ihn bereits gerufen, als dass der Hass, den er verströmte wie den Gestank nach verrottenden Leichen, sie noch schrecken konnte.

Elegant schwang Neshira sich auf seinen Rücken und umklammerte die Schnüre mit ihrer freien Hand. Anghiske stieß ein tiefes Fauchen aus. Nur einmal hatte er versucht, sie abzuwerfen, erbittert und böse, wenige Sekunden, bevor sie ihm mit blutigen Händen die Schnüre des König Schellen um den Kopf band. Danach hatte er ihr stets gehorcht wie ein Schoßhund, wie es sein Fluch verlangte. Ein Schoßhund, der nur darauf wartete, dass er sich aus seinen Fesseln befreien konnte, um sie zu töten.

Langsam durchnässte die Feuchtigkeit seines Fells ihre Hosen, und sie versuchte es nach Kräften zu ignorieren. Still wie eine Statue stand er im Morgennebel, selbst seine Flanken hoben und senkten sich nicht. Die ersten Sonnenstrahlen schnitten durch den Dunst, doch keine Wärme erreichte Dämon und Reiterin.

Neshira stieß ihm die Hacken in die Seiten und lenkte ihn zwischen das Schilf. Tote Vögel streiften ihre Beine, die Totenstille nur unterbrochen durch das Klatschen von Anghiskes Hufen im Sumpf.

Ein Schauder durchlief Anghiskes knochige Schultern, als er nach Luft schnappte, ein merkwürdig menschlich anmutendes Geräusch. Schritt für Schritt schien er im Moor zu versinken, schwarzes Wasser schwappte über Neshiras Beine, Hüften, Brust, Schultern. Ohne zu Zögern trat der Hengst weiter vor, und sie sah, wie seine Augen sich unter Wasser weiteten, spürte seine Kraft an ihren Oberschenkeln, seine Mähne war ein Schleier aus Algen. Bräunliches Licht kreuzte die Schatten des Schilfs.

Neshira schloss die Augen erneut und trieb Anghiske an. Das Wasser zerrte an ihr, als wollte es sie vom Rücken ihres Rosses reißen. Eisige Kälte umfing sie. Etwas Raues streifte ihre Finger, doch sie ließ die Augen fest geschlossen.

Ein Ruck lief durch Anghiskes Körper, seine Muskeln spannten sich, und das Wasserpferd sprang an Land. Knirschend kamen seine Hufe auf Steinfliesen auf. Neshira öffnete prustend die Augen. Bei jeder Reise mit Anghiske fürchtete sie, dass er sie ertränken würde, selbst, wenn sein Fluch ihn daran hinderte, selbst, wenn sie ihn bereits seit Jahren gebunden hatte.

Neshira rutschte von Anghiskes Rücken. Seerosen klatschten zu Boden, als er sich das Wasser aus der Mähne schüttelte. Sie griff nach der Magie des König Schellen, doch das vertraute Flüstern göttlicher Magie blieb aus. Alles, was sie hatte, hatte sie an die Hexe verbraucht. Innerlich fluchend wischte sie sich das Wasser aus dem Fell. Sie würde nass vor den Tänzer von Oren Mor treten müssen.

Neshira tätschelte Anghiskes Flanke. „Wir bleiben nicht lange", versprach sie ihm mit einem Blick auf den wohl vormals kunstvoll angelegten Teich. Reste zerrissener Seerosen trieben in dem aufgewühlten Wasser. Kois suchten panisch nach Deckung.

Der Wassergeist funkelte sie zwischen den Strähnen seiner Mähne an. Sein Knurren ließ die Fliesen unter ihren Pfoten vibrieren.

Neshira erwiderte seinen Blick. „Du darfst jeden fressen, der dir zu nahe kommt", meinte sie, wandte sich um und trat zu der hölzernen Schiebetür, der die Pagode vom Rest des Tempels trennte.

Musik sang ihr entgegen, noch bevor sie die Tür geöffnet hatte. Rhythmische Klänge, ruhig und doch so, dass ein jeder seine Schritte dazu zu setzen wusste, wogten durch den Raum wie der Duft der Räucherstäbchen und dem schweren Geruch des Opiums, der darunter lauerte. Oren Mor war eine Höhle, wie Neshira sie nie betreten hätte, wenn sie es nicht gemusst hätte.

Nasse Pfotenabdrücke markierten jeden ihrer Schritte. Zügig und doch elegant ging sie durch die langen, mit edlen Wandgemälden verzierten Flure. Alkoven öffneten sich, manche vor Blicken verschlossen durch Vorhänge, andere entblößten die sich zwischen Kissen und Rauchwolken verborgenen Menschen, Anima und jene, die den alten Völkern angehörten. Sie spürte die Blicke und das Geflüster, sah die schlecht verhohlenen Fingerzeige. Aus dem Augenwinkel sah sie einen Karr mit goldblonder Mähne, groß und schlank, einen Feyling mit lavendelfarbenen Flügeln, eine Laute in den Händen, einen Tarnaruc, bedeckt mit glühenden Tätowierungen, eine Gruppe Kitsune mit dem gleichen hellen Fuchsfell wie sie selbst, doch sie würdigte sie keines Blickes. Oren Mor war ein Ort des Verlangens, der unerfüllten Wünsche, der Seuche des Sehnens, die die Krallen in die Herzen schlug. Viele blieben, in der Hoffnung, zu finden, was sie suchten. Doch finden würden sie es nie. Alles war fort, wenn man genauer dorthin sah.

Sie hielt den Blick fest auf die Fliesen vor sich gerichtet und bahnte sich zielstrebig einen Weg zum Hauptraum des Palastes. Einst war es wohl ein Kloster des König Schellen gewesen, mit seiner merkwürdigen Mischung aus Pagodendächern und hohen, schmalen Spitzbögen, wie sie die Kathedralen des Einäugigen zu eigen hatten. Doch nun klangen Trommeln und Gitarren, Pfeifen und Geigen durch die Flure, schlichen die Schwaden von Rauschmitteln um die Tanzenden, nun war es ein Ort der Banshee.

Der Steinboden war glatt poliert, das Zeichen des einäugigen Gottes und der Drachendämonin, die seine Erzfeindin war, prangte als riesige perlmuttene Intarsie zwischen dunklem Marmor. Rocksäume wischten darüber hinweg, Schuhe, Stiefel, Pfoten verdeckten und enthüllten die Steine abwechselnd. Ein Tanz, folgend strengen Regeln, die niemand je ausgesprochen hatte, und selbst Neshira spürte, wie er sie in seine Reihen lockte.

Bei ihrem ersten Besuch in Oren Mor war sie geradewegs auf den Herrn von Oren Mor zugestürmt, göttliches Glühen um die Spitze ihres Speers, in der festen Absicht, ihre Zeit nicht mit den exzentrischen Bräuchen eines Mannes mit zwei Herzen in der Brust zu verschwenden. Noch heute brannten die Narben seiner Klauen, die Spuren, die Zähne, lang wie Dolche, geschlagen hatten. Nun wusste sie, wie sie sich zu verhalten hatte.

Sie folgte seinem Ruf, glich ihre Bewegungen dem Rhythmus an, mischte die Tanzschritte mit den Figuren, Schlägen und Tritten des unbewaffneten Kampfes, dessen Meister die Shinaru waren. Mit halb geschlossenen Augen wirbelte sie durch den Raum, ließ zu, dass die Musik sie mit sich riss und sie in den Abgrund von Oren Mor zu rufen schien. Ihre acht Schweife waren eine Schleppe aus trocknendem Fell.
Ein sanfter Griff stoppte ihren kraftvollen Handkantenschlag. Die Berührung weckte sie aus ihrer Trance, und beinahe hätte sie den Mann vor sich mit einem schnellen Fausthieb zu Fall gebracht. Bernsteinfarbene Augen blickten zu ihr auf.

„Neshira. Du bist zurück", sagte der Mann leise. Seine Haut schimmerte golden. Nicht einmal Neshiras angedrohter Schlag hatte ihn aus dem Takt gebracht. „Du tanzt wie die Kriegerin, die du bist."

Die Kitsune bemühte sich, ihre Schritte den seinen anzupassen. „Anders habe ich es nie gelernt."

Er musterte sie, seine Finger streiften die schwarze Wunde an ihrer Schulter, die Verbrennungen, die die Hexe hinterlassen hatte. „Wer war das?"

„Wer wohl", knurrte Neshira.

„Maraiza." Seine Stimme klang wie Honig auf den Saiten einer Geige.
„Wenn das der Name diese von der Banshee verfluchten Sumpfhexe ist, dann ist sie schuld daran." Zorn wallte in ihr auf, auf die Hexe, auf den Mann vor sich und auf sich selbst. „Du hast behauptet, ich sei bereit für sie."

Seine langen Finger strichen über den Bernstein an ihrer Kette. „Konnte sie dich nicht retten?"

Neshira schlug seine Hand beiseite, fester als beabsichtigt. Sie sah den überraschten Schmerz in seinen Augen. „Die Banshee ist kein Hund, den man nach Belieben auf seine Gegner hetzen kann. Sie würde alles tun, nur für einen Tod und einen Hauch dieser Welt auf ihren Lefzen, doch jeder davon bringt ihr mehr Macht. Man darf sie nicht leichtfertig einsetzen."

Der Tänzer blickte zur Seite. „Ich verstehe."

„Wenn ich dem Tode nahe bin, wenn nichts, außer einem göttlichen Wunder", die Worte schmeckten nach Funken und Asche, „mich retten kann, dann rufe ich sie. So wie bei dem Kampf gegen diese verfluchte Hexe. Doch sie kam nicht."

„Wie kann das sein?"

„Jemand anders muss sie beschworen haben."

„Wer sollte so etwas tun?"

„Viele beschwören Dämonen. Seit der Zweiten Katastrophe ist es leicht wie nie zuvor." Ihre Muskeln brannten bei der Erinnerung an all die bösen Geister, an die Hexen und die wahnsinnigen Beschwörer, die sie besiegt hatte, um die dräuende Herrschaft der Dunklen aufzuhalten. „Doch niemand sollte die Banshee beschwören. Sie ist mächtiger als je zuvor. Nur wenige wissen, wie man sie wieder bannt, und wenn es einem nicht gelingt, können schreckliche Dinge geschehen."

Der Tänzer nickte langsam, ohne aus dem Takt zu geraten. „Was wirst du nun tun?"

„Ich muss denjenigen finden, der sie beschworen hat. Und ihn vor sich selbst retten. Ihn und alle um ihn herum."

„Dein Wasserpferd wird dich zu ihr führen, nicht wahr?"

„Das wird er." Pferde kehrten stets zu ihren Herrn zurück, wenn man ihnen die Zügel ließ. Selbst, wenn man es nur vorgab, und sie dennoch fest an der Kandare hielt.

„Was wirst du mit dem Beschwörer tun?"

„Das weiß ich noch nicht", gab Neshira zu. Das Ritual, mit dem man die Banshee entließ, war gefährlich. Ein letztes Leben würde sie mit sich nehmen, egal, wie lange sie auf dieser Welt geweilt hatte, als makabren Dank für ihre Zeit außerhalb ihrer Fesseln. „Ich werde die Banshee entlassen und versuchen, die Seele zu retten, die sie beschworen hat."

„Unterschätze sie nicht." Er musterte sie besorgt, seine Augen waren Seen aus Gold. „Beinahe bin ich froh, dass du die Banshee nicht beschwören kannst."

Neshira stutzte. „Warum?", schnappte sie.

„Du bist viel zu unbesorgt, wenn du sie in der Hinterhand hast. Du hast keinen Respekt vor deinen Gegnern. Als könnte sich dir nichts und niemand entgegenstellen."

„Wenn die Banshee wieder in ihren Fesseln ist, kann sich mir nichts und niemand mehr entgegenstellen", versetzte sie.

Er blickte traurig zu ihr auf. „Du vergisst, wem du wirklich huldigst, Neshira Canto", raunte er. Seine Finger berührten das Glöckchen um ihren Hals.

Neshira holte Luft für eine wütende Antwort, doch überlegte es sich anders. Sie senkte den Blick. „Ich weiß", flüsterte sie rau. „Doch ich kann ihn nicht rufen. Nicht so wie sie."

„Vielleicht, weil du ihr zu nahe stehst? Du reitest einen ihrer Diener. Du rufst sie, um deine Schlachten zu schlagen. Du bist ihr näher, als du ihm jemals warst."

Neshira schwieg, ihr Zorn war ein brennender schwarzer Vogel unter ihrer Brust. Sein wütendes Krächzen kratzte an ihrer Kehle. „Ich weiß", fauchte sie, heftiger als sie beabsichtigt hatte. „Ich muss mir von dir nicht erklären lassen, wie mein Glaube funktioniert."

Der Tänzer mied ihren Blick, als schäme er sich, sie verärgert zu haben. „Das vermag ich auch nicht."

Neshira lächelte schwach. Sie für ihren Teil schämte sich, ihn angefahren zu haben. „Ich weiß nicht, warum ich den König nicht rufen kann. Er kommt zu jenen, die ihn wirklich brauchen, jene, die wahrlich an ihn glauben, doch als ich versuchte, ihn im Kampf zu rufen, erschien er nicht. Die Gefahr war zu groß. Ich war dem Tod nahe."

„Und du hast die Banshee gerufen."

Neshira schwieg.

Er nahm ihre Hände. „Ich kann dir nicht helfen, deinen Gott zu finden", sagte er voller Bedauern, ohne jede Spur des Spotts. „Doch du musst ihn finden. Du musst."

„Warum?" Das Wort rutschte zwischen ihren Lippen hervor, bevor sie es verhindern konnte.

„Du musst die Hexen mit ihm an deiner Seite besiegen. Nicht mit der Fürstin der Lockenden Laternen. Bevor er sich gänzlich von dir abwendet."

Sie fragte sich, woher er das wusste. Doch es war die Wahrheit, das spürte sie. Sie musste das Böse mit dem Guten bekämpfen, nicht mit einer noch böseren Macht. Einfach wäre es, ja. Doch nicht der rechte Weg. Mit jedem Befehl, den sie der Banshee gab, mit jedem Tod würde sie mehr Macht erlangen, bis sie auch ihre Fesseln in der Anderwelt zerreißen konnte. Was dann geschah, vermochte Neshira sich nicht auszumalen.

Es sollte einfach sein, den König zu rufen, für sie, die ihm huldigte, seit sie denken konnte. Die den Shinaru beigetreten war, um den Weg des Einäugigen zu betreten. Die von der Banshee wieder und wieder gerufen worden war, die versucht hatte, die Göttin im Alleingang zu töten, als sie noch keine sechzehn Jahre alt war. Die ausgezogen war, um den König Schellen zu finden, und nun, nach dem Untergang der Welt, den Dienern der Banshee nachjagte.

Die die Banshee schließlich beschwor, als sie das Vertrauen in sich und den Einäugigen verlor. Der Weg vom Heiligen zum Sünder war kurz.
Neshira seufzte und sah zu Boden. Weiße und schwarze Flecken zogen an ihr vorbei. „Sind alle verbliebenen Hexen so stark wie Maraiza?", fragte sie tonlos.

„Nein", sang der Tänzer. Sein Blick schweifte in die Ferne. „Sieben Hexen hast du bereits getötet. Sechs verbleiben dir. Eine Hexe des Waldes. Eine des Sees. Eines des Steins. Sie sind die Schwächeren. Mit ihnen kannst du beginnen." Er legte ihr eine Kette mit zwei Talismanen in die Hand, eine Bärenkralle und ein Wolf aus Silber. „Für Evá habe ich keinen Wegfinder. Sie hält sich bedeckt. Manchmal heißt es, sie sei eine Feindin meiner Mutter."

„Und doch hat sie Menschen, Anima und Alte Völker getötet, für ein wenig mehr Macht", knurrte Neshira voller Verachtung.

„Das hat sie", flüsterte der Tänzer, die Stimme weich wie Samt. „So wie du auch."

Neshira zuckte zurück, der schwarze Vogel in ihrer Brust regte sich. „Ich habe nur mein Leben verteidigt."

„Und jemanden getötet, jedes Mal, wenn du sie entlassen hast."

„Räuber und Mörder. Sie hatten es verdient." Sie straffte die Schultern. Immer wieder brachte er sie in die Unsicherheit, und sie hasste es. „Die Hexe wird sie ebenso sterben wie die anderen auch."

„Sie sind stark und nicht zu unterschätzen, doch du wirst sie besiegen können. Doch die letzten drei sind jene, gegen die du die Hilfe deines Gottes wahrlich brauchen wirst." Er sah ihr fest in die Augen. „Eine des Sumpfes."

„Maraiza." Der Name der Hexe schmeckte nach süßlichem Sumpfwasser.

„Einer des Regenwaldes." Sein Lächeln wurde sanft und wehmütig. „Und eine der Seuchen."

Neshira biss die Zähne zusammen. „Eleuthera Catherine."

„Du weißt, was du davor tun musst. Wenn du die Hexen besiegt hast und Eleuthera auf dich wartet."

Neshira wusste es genau, und sie fürchtete den Moment, in dem sie es tun musste. „Du wirst dich wehren. Und ich habe gemerkt, dass ich dir nicht gewachsen bin."

Seine langen Finger strichen über ihre Unterarme, dort, wo seine Fänge in ihrem Fleisch versunken waren. „Du wirst es können. Ich vertraue dir."

Es würde schmerzen, ihn zu töten. Ihn, den Mann mit zwei Herzen in der Brust, seinem eigenen und dem seiner verkommenen Hexenmutter, deren Seele in ihn fahren würde, sobald sie starb. Sein lockeres Hemd verbarg nicht gänzlich die Narbe, die von dem Vettelherz unter seinen Rippen zeugte. So lange half er ihr nun, den Zirkel auszurotten, und er würde den Tod seiner Mutter, den letzten Sieg, nie erleben.

„Ich vertraue mir nicht", sagte Neshira, ein nervöses Flattern in der Stimme.

„Bis es soweit ist, wirst du es."


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Dies ist eines dieser Kapitel, auf die ich in Sachen Atmo dezent stolz bin. *selbstlob intensifies* Und Anghiske ist einer meiner geheimen Lieblinge.

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