32. Verloren
Soundtracks: Dominik Scherrer - Heavy Boots aus dem Ripper Street OST und
Austin Wintory - Family aus dem Assassain's Creed: Syndicate OST
https://youtu.be/pj08BMBn_eE
Beide abspielen ab Anfang.
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Der Regen wisperte auf dem verbogenen Metall, erstickte die letzten Ölfeuer und fand seinen Weg hinein in den schiefen, von geschwärztem Stahl umgebenen Raum. Die Flammen hatten ein fedriges schwarzes Muster an die Wände gemalt. Ein schweres Schott, das einzige Metallteil, das noch seine ursprüngliche Form hatte, lehnte sich wie ein Betrunkener gegen die Außenwand einer ehemaligen Feuerkammer, und ließ einen schmalen Spalt, um in sie hinein zu gelangen. Die Kohlen unter Neshira waren noch warm, doch auch sie wurden langsam ertränkt von den dunklen, schmierigen Fluten.
Sie war gerannt, hatte gehofft, Wasser zu erreichen, in dem sie Anghiske rufen und mit ihm verschwinden konnte, doch überall waren die Vampirlinge gewesen. Schließlich war sie in das Wrack geschlüpft, über scharfkantige Trümmer und bis zur Unkenntlichkeit zerrissene Leichen in grauen Uniformen, vorbei an Steintrümmern, die das abgestürzte Schiff von den Dächern des Palast mit sich genommen hatte, hinein in den am meisten verborgenen Winkel, dort, wo der Geruch von Feuer und Tod den ihrer Angst und Erschöpfung überdeckte.
Ona lag regungslos inmitten des Raumes, dem einzigen Ort, wo keine Tropfen an den zerstörten Metallteilen vorbei krochen. Sie hatte sich nicht bewegt, seit Neshira sie dorthin gelegt hatte, die Arme schmerzend von ihrem Gewicht. Seitdem lehnte Neshira an der erkaltenden Stahlwand und lauschte dem Klimpern von Wasser auf Stahl, unfähig, sich zu bewegen. Ihre letzten Funken Magie hatte sie für Onas Heilung verbraucht. Ihre eigenen Verletzungen hatte sie nur mit Streifen ihrer Hose verbunden. Die Leere in ihr war dunkel wie der Abgrund hinter den Nebeln.
Sie fühlte sich, als würde sie zerbrechen, sobald sie sich rührte. Als wäre ihre Starre das Einzige, das ihren Körper noch zusammenhielt, ihr von Kugeln durchlöchertes Fell, ihr von den Klauen der Seuchenbestie zerfetzter Oberkörper, die unzähligen Prellungen, die sie selbst dann noch spürte, wenn sie regungslos blieb. Jeden langsamen Pulsschlag ließ sie bis ins Mark erzittern. Jeder Muskel schmerzte, jede Wunde, die sie geheilt hatte, schien unter ihrer Haut noch geöffnet zu sein. Einen Arm zu heben, um sich ihre vom Ruß schwarz verfärbten Tränen aus dem Gesicht zu wischen, war, als müsste sie einen Felsbrocken stemmen. Ihr war, als gehörte ihr Körper nicht zu ihr, als wäre er eine unförmige Hülle, aus der sie sich befreien konnte. Doch ihr fehlte die Kraft.
Ona stieß ein leises Keuchen aus, ihre Arme zuckten, Finger krallten sich um die Kohlen unter ihr. Ihre Lider flatterten. „Was..."
„Ich bin hier, Ona", raunte Neshira. Ihre Stimme klang entsetzlich, nach all den Tränen, die sich mit Ruß und Regen vermischt hatten, und die sie schließlich ausgebrannt zurückgelassen hatten. Eisig kroch die Nachtluft in die Kammer und ließ sie frösteln.
„Neshira", flüsterte Ona rau und stemmte sich langsam auf die Knie. Die Seite, auf der sie gelegen hatte, war dunkelgrau verfärbt. Stöhnend fasste sie sich an den Kopf, wo Blut und Kohle sich zu einer schwarzen Schmiere vermischt hatten. „Wo sind wir?"
„Versteckt", antwortete Neshira einsilbig. Ein Schauder schüttelte ihre Schultern, und sie zog die Beine an den Körper, umschlang sie mit den Armen und legten den Kopf auf die Knie.
„Haben wir gewonnen?"
Etwas stieg in Neshira auf, das Gefühl, als würde sie erneut weinen müssen, doch sie kämpfte es nieder. „Müssten wir uns verstecken, wenn dem so wäre?" Sie wollte nicht so resigniert klingen, wie sie war, doch stattdessen klang es beinahe gereizt.
Ona schluckte. „Wo ist Sindrak?"
Neshira sah zur Seite. Ein Riss in der Decke gewährte Blick auf im Licht eines widerspenstigen Feuers schimmernde Blutflecken. Beständig tropfte Wasser durch ihn. „Ich weiß es nicht."
Ihre Schwester musterte sie eingehend. Neshira zwang sich, ihrem Blick standzuhalten. „Was ist geschehen?", fragte sie.
Neshira biss die Zähne zusammen, um nicht laut loszuschreien. Ein Zittern biss in ihren Gliedern, der Wille, die Welt in Stücke zu reißen, Auge um Auge, Stein für Stein, bis nichts mehr übrig war, weder Hexen noch Dämonen noch Götter. Tief atmete sie aus, ballte die Hände zu Fäusten, bis ihre stumpfen Krallen in ihre Handflächen schnitten. „Durenskys Soldaten waren hinter der Dunkelheit. Sie haben das Feuer eröffnet. Sindrak hatte die Bestie, die Eleuthera erschaffen hatte, fast unter Kontrolle. Er hätte sie töten können. Aber stattdessen hat dieser Narr gesehen, wie du durch die Kugeln gefallen bist, und hat die Soldaten angegriffen", berichtete sie, ihre Stimme bebte vor Anstrengung, nicht lauter zu werden. „Die Bestie hat sich mir zugewandt. Und dir. Ruk wollte sie ablenken, um uns die Flucht zu ermöglichen. Und die Bestie hat ihn getötet."
Ona schnappte nach Luft. „Bei den Schellen des Königs. Es... es tut mir so, so leid, Neshira. So leid." Sie kroch auf ihre Schwester zu und schlang die Arme um sie.
Neshira biss sich auf die Lippe und schloss die Augen. Ruk war tot. So lange hatte sie nach ihren Gefährten gesucht, und so leicht hatte sie ihn wieder verloren. Ruk, mit dem sie gekämpft und gescherzt hatte, seit sie sich in einem längst untergegangenen Königreich aufeinander getroffen waren, mit dem sie ihren anderen Gefährten Streiche gespielt hatte, als wären sie Kinder und keine tödlichen Krieger, keine der ernsthaften Ratsgrafen, die ein kleines Reich fernab der großen Städte regierten. Sie hatten gemeinsam gefochten und getrunken, sie hatten sich mit einem Faustkampf den Respekt der Nordmänner verdient, bei dem Ruk den ersten Gegner festgehalten, während sie den anderen verprügelt hatte. Der Tag, an dem sie als der Schatten des Einäugigen Gottes bekannt geworden war. Sie hatten Hexen, Dämonen und Ritter getötet, die Wolkenkathedrale vor dem Ansturm der Noxischen verteidigt. Dann war Ruk gegangen, auf der Suche nach neuen Wegen, um seinen Schwur zu erfüllen. Zu sterben auf eine Art, die einem wahren Helden gebührte.
Und es war ihm gelungen. Er hatte seinen Gegner mit sich genommen, er hatte Neshira die Flucht ermöglicht. Ein würdiger Tod. Er wäre zufrieden gewesen. Der Gedanke tröstete sie ein wenig.
Sie spürte erneut die Tränen in ihren Augen und blinzelte sie hastig fort. Vor Ona wollte sie nicht weinen. Sie war die große Schwester. Sie musste stark sein für sie. Mit einer Hand umschloss sie Onas Arm, die dunkle Schmiere auf ihrer Lederjacke blieb an ihren Finger kleben.
Schließlich löste Ona sich von ihr. „Und nun?", fragte sie zaghaft.
„Ich weiß es nicht", sagte Neshira beherrscht. Sie hasste es, es zugeben zu müssen. Das geschundene Metall stöhnte leise, und das Geräusch ließ sie schaudern. Beinahe klang es, als schleiche eine weitere Seuchenbestie um das Wrack herum. „Vielleicht schaffen wir es, durchzubrechen", murmelte sie, doch daran glauben tat sie nicht. „Dann gehen wir hinunter in die Kanalisation. Dort gibt es Wasser. Ich werde Anghiske rufen, und wir verschwinden von hier."
Ona riss die Augen auf. „Aber Sindrak..."
„Oh, zur Banshee...", fauchte Neshira und unterbrach sich. Langsam atmete sie aus und löste ihre geballten Fäuste. „Zuletzt habe ich ihn gesehen, als Eleuthera ihm ihre Seuche in den Körper gelegt hat", knurrte sie rau. Ona schnappte nach Luft. „Durag hat sie beschossen, und sie werden auch ihn finden, und dann wird er sterben. Dandelo wird sich wieder seiner ehemaligen Herrin zugewandt haben, denn ich habe nichts bemerkt, was er in dem Kampf gegen die Bestie getan haben soll. Es gibt nur noch uns, Ona, niemanden sonst, und wir müssen zusehen, dass wir von hier fliehen."
„Wir können Sindrak nicht im Stich lassen!", hielt Ona verzweifelt dagegen. „Hast du gesehen, dass er gestorben ist?"
„Nein, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn finden", fauchte Neshira. „Es sind Vampire. Sie suchen nicht mit den Augen. Eleuthera hat ihn verflucht, und du hast gesehen, was mit Verfluchten geschieht. Oder hast du vergessen, was im Sumpf mit ihm geschehen ist?"
Ona erhob sich schwankend. „Ich werde ihn nicht den Vampiren überlassen! Ich muss ihn finden. Ich..."
„Und was willst du ihnen entgegensetzen? Deine bösen Blicke?", knurrte Neshira höhnisch. „Sie werden dich töten, bevor du ihnen zu nahe kommen kannst." Ihr Ton wurde weicher. „Bei den Schellen, Ona. Geh nicht. Wir können nichts mehr tun. Wir warten, bis wir das Wasser erreichen können, und dann verschwinden wir."
„Nein." Ona trat auf sie zu und nahm ihre Hände. „Bitte, hilf mir. Du... du hast recht, ich kann nichts gegen die Vampire ausrichten. Aber du kannst es. Bitte."
Neshira zog ihre Hände zurück. „Nein. Ich schlage dich persönlich bewusstlos, wenn es sein muss, aber ich werde nicht zulassen, dass du dich in Gefahr begibst."
Ona starrte sie an, als wollte sie herausfinden, ob sie es ernst meinte. Neshira verzog keine Miene. „Dann wird Sindrak sterben!", hielt sie verzweifelt dagegen. Neshira biss die Zähne zusammen. Ona schnappte nach Luft. „Und es wird deine Schuld sein!"
Neshiras Hand schnellte vor und riss Onas Bein zur Seite. Mit einem leisen Schrei prallte Ona auf die Kohlen. Sofort war Neshira über ihr und drückte sie zu Boden. Ona versuchte, ihre Hände zu bewegen, doch ihr Griff war eisern. „Wer meinte denn, in den Kampf eingreifen zu müssen? Wer hat das Feuer auf Durenskys Soldaten eröffnet, die es natürlich auf den Schützen erwidern, denn worauf sollten sie sonst schießen? Wer wurde danach von Kugeln durchlöchert, musste von mir wieder zum Leben erweckt werden, und weswegen hat dein verfluchter Schatzjäger die Bestie, die er beinahe getötet hätte, laufen gelassen? Weswegen Ruk sterben musste?"
„Du tust mir weh", keuchte Ona.
Neshira ließ von ihr ab und lehnte sich wieder an die Wand. Grimmig beobachtete sie, wie Ona sich wieder erhob. Ihr verletzter Blick brach Neshira das Herz. Sie schämte sich dafür, die Kontrolle verloren zu haben. Unter ihrem Fell brannte es. Sie dachte daran, sich zu entschuldigen, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Draußen knirschten Stiefel auf Kies. Waffen klirrten, grobe Rufe verlangten nach Verstärkung.
Ona wischte sich den Staub von der Jacke, ohne, dass sie davon sauberer wurde. „Ich dachte, du könntest sie besiegen", sagte sie leise. „Ich weiß, dass du der Banshee abgeschworen hast, aber ich dachte, du könntest ihn mit der Hilfe des Königs töten. Wie die Kaiserin es konnte."
„Falsch gedacht", schnappte Neshira barsch. Der Zorn schwand und machte einer erschöpften Leere Platz. In ihrer Kehle ballten sich ihre Tränen mit dem Ruß zu einem schwarzen Klumpen zusammen. „Ich kann ihn nicht rufen, Ona. Ich kann es nicht. Ich habe es so oft versucht, und er ist nie gekommen." Sie hasste es, vor ihr zugeben zu müssen, dass sie nicht die allmächtige Götterbeschwörerin war, für die Ona sie wohl all die Zeit lang gehalten hatte. Die Tränen ließen ihre Stimme schwanken, selbst wenn sie sich bemühte, sie still zu halten. Sie spürte bereits die Nässe auf den Wangen. „Ich habe gehofft, er würde erscheinen, wenn ich ihn im Moment meiner größten Not rufe. Wenn ich keinen anderen Ausweg weiß. Und du siehst, was geschehen ist." Verzweifelt hob sie die Hände und ließ sie wieder sinken. Draußen gellte ein erster Schuss, hell klirrte die Kugel gegen den Stahl des Wracks. Das Geräusch ließ ihre Nerven flattern. „Ich stand inmitten eines brennenden Waldes, ich war schwer verletzt, Durensky, Ibo Lele und Eleuthera haben mich schier in der Luft zerrissen, doch er ist nicht gekommen. Meine Magie ist verbraucht. Ich kann mich nicht einmal mehr selbst heilen. Ich weiß nicht, was ich Eleuthera noch antun kann. Außer die Banshee."
Ratlos ließ Ona sich auf die Kohlen sinken. „Du hast mir immer gesagt, dass die Banshee böse ist."
„Das ist sie auch", seufzte Neshira. „Sie mag ein Teil des König Schellen sein, doch das macht sie nicht weniger schrecklich. Es ist schwieriger, ihr zu widerstehen, als ich dachte. Sie ist immer erschienen, wenn ich sie gerufen habe. Aber ihre Wege sind nicht die, die ich beschreiten möchte. Ich habe geschworen, sie nie wieder zu beschwören, und diesen Schwur werde ich halten." Das Bild einer geköpften Steinvettel erschien vor ihrem inneren Auge, und Neshira biss die Zähne zusammen. „Aber ohne göttliche Hilfe kann ich Eleuthera nicht besiegen. Ich bin ihr nicht gewachsen, und Ruks Tod hat es bewiesen. Tekami hat immer gesagt, dass ich etwas Besonderes bin, die Auserwählte des König Schellen. Aber kommt nicht zu mir. Wenn der König nicht erscheint, was bin ich dann noch?" Nur eine erschöpfte Kitsune, umgeben von Feinden. Sie würde sterben, sobald jemand sie fand, und Ona mit ihr. Müde betrachtete sie die zerrissenen Bänder an ihren Armen. Sie streifte sie ab und warf sie zu Boden. „Ich bin allein."
„Du bist nicht allein. Ich bin hier."
Ein Schuss fauchte, tiefer als das helle Flackern der Maschinengewehre. Jemand schrie eine Warnung, ein zweiter Schuss, und die Worte ertranken in einem feuchten Gurgeln.
Ein hoffnungsvolles Lächeln breitete sich auf Onas Gesicht aus. „Und Durag anscheinend auch."
Neshira erhob sich und versuchte, durch einen der Risse einen besseren Blick zu erhaschen. Vampirlinge duckten sich hinter die Trümmer und versuchten, vor Durags Schüssen in Deckung zu gehen, jemand brüllte Befehle. Ein Mann hechtete hinter dem Kopf eines Wasserspeiers hervor und wurde noch im Sprung von einer Kugel im Kopf getroffen, leblos fiel er in den nassen Sand. Die steinerne Grimasse schien ihn auszulachen. Ein paar feuerten, doch Durags Schüsse verstummten nicht. Ein Mann mit einem Scharfschützengewehr brachte seine Waffe in Stellung und sackte einen Augenblick später über ihr zusammen. Eine Granate flog hinter ein Metallteil und schleuderte die Männer dahinter in die Luft.
„Stürmt den Turm!", bellte ein Mann mit hellen Abzeichen auf seinem vom Regen schwarz verfärbten Mantel. Gewehre bellten, ein einziges, ohrenbetäubendes Rattern. Eine Gruppe Soldaten sprang auf und stürmte davon.
„Durag weiß, dass wir hier sind", sagte Ona aufgeregt. „Vielleicht schaffen wir es mit seiner Hilfe hier heraus."
„Wenn er die Vampirlinge überlebt." Neshiras Hände zitterten. Sie wollte nicht zu früh die Hoffnung finden. Doch vielleicht war Durag eine Ablenkung, mit deren Hilfe sie fliehen konnten. Ihre Gedanken rasten, stolperten übereinander, doch kein narrensicherer Plan wollte ihr einfallen.
„Wir sollten ihm helfen." Ona trat auf einen Spalt zu und schlüpfte hinaus auf das zerklüftete Unterdeck.
„Ona, warte!", zischte Neshira, doch ihre Schwester beachtete sie nicht. Flink griff sie zwei der herrenlosen Maschinengewehre, die bei den zerfetzten Leichen der Besatzung lagen, und kehrte zu ihr zurück.
Mit einem aufgeregten Lächeln drückte Ona ihr die Waffe in die Hand. „Das ist für dich."
Das Gewehr war schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte, ein Brocken kaltes, bedrohlich wirkendes Metall. Als sie das erste Mal eines von Durenskys Luftschiffen gesehen hatte, hatte es die gleiche Aura von Tod und Gier an sich gehabt. Zögerlich schloss sie die Finger um den Griff. Er war glitschig vor Blut. „Ich kann nicht einmal damit umgehen."
Ona hob die Waffe und legte einen Hebel um. „Jeder kann mit ihnen umgehen. Das ist es, was sie so gefährlich macht." Sie lächelte flüchtig und schob den Lauf in eine der Spalten.
Neshira tat es ihr gleich. Das Maschinengewehr widerte sie an, eine Waffe ohne jede Eleganz, für die es nur einen Finger zum Abdrücken brauchte, kein Können und keine Intelligenz. Doch wenn es ihr half, aus dem elenden Palast zu entkommen, würde sie es mit Freuden nutzen. Sie atmete tief durch und zog den Abzug.
Der Rückstoß war ein Schlag gegen ihre Schulter. Die Schüsse ließen ihren Arm erzittern, wollten ihr das Gewehr aus den Händen reißen, und sie umklammerte es fester. Erste Vampirlinge im Hof sackten zusammen, ihre Kameraden wandten sich alarmiert zu dem Wrack um und fielen mit ihnen.
Die Verwirrung der Soldaten wich schnell. Der Offizier bellte Befehle, und die Männer rannten auf das Wrack zu, ohne sich mit Schüssen aufzuhalten. Eine Granate riss ein paar von ihnen in Stücke, doch sie ließen sich nicht beirren. Neshira schoss einen nach dem anderen nieder, doch es kamen immer mehr nach, kletterten über das schiefe Deck, über zerstörte Kanonen und die Leichen ihrer Kameraden hinweg.
Ein Klicken erklang, und das Rattern ihres Gewehrs verstummte. Neshira fluchte, griff nach ihren Messern und warf. Die ersten Soldaten fielen. Onas Gewehr spie Blei und Feuer.
Ein Stampfen erhob sich über die Rufe und Schüsse, ein Grollen wie das eines fernen Gewitters, und die Soldaten hielten inne. Etwas explodierte, Steine regneten in den Hof. Luft fauchte metallisch über Schlote. Lauter und lauter wurde es, bis das Donnern schwerer Maschinen das Wrack erbeben ließ. Neshira kannte die Geräusche. Die Ura hatte ähnlich geklungen.
Die Verstärkung der Vampire war gekommen. Zögernd nahm sie den Finger vom Abzug und blickte zu ihrer Schwester. „Ona, ich..."
Das Brüllen der Kanonen nahm ihr den Atem. Die Fassade auf der anderen Seite des Hofes zerbarst in einem Inferno aus Flammen und fliegendem Gestein. Vampirlinge wurden durch die Luft geschleudert wie Puppen und landeten regungslos in blutgefärbten Pfützen. Wasserspeier erschlugen Fliehende, die steinernen Flügel nutzlos. Neshira spürte den heißen Wind auf ihrem Fell, selbst über die Deckung hinweg. Das Grollen der Maschinen war allumfassend, ein Heulen und Stampfen, rhythmisch wie der Herzschlag eines riesigen Ungeheuers, unbesiegbar, unsterblich. Wieder feuerte das Schiff, die Trümmer, die das Gebäude gegenüber zuvor gewesen waren, flogen auf und trafen als tödlicher Regen im Hof auf. Vampirlinge hetzten umher, suchten nach Deckung.
„Das ist Sindrak", hauchte Ona fassungslos. „Das muss er sein." Sie zwängte sich durch den Spalt aus der Kammer, setzte über verbogenes Metall und schiefe Streben hinweg und stürmte hinaus in den Regen.
„Ona, nein!" Neshira ließ das nutzlose Gewehr fallen und sprang ihr hinterher. Sofort peitschte ihr das Wasser ins Gesicht, brannte in ihren Augen wie Tränen und wollte ihr die Sicht nehmen. Doch wie die Vampirlinge zu Ona herumwirbelten und die Waffen hochrissen, sah sie dennoch. „Ona!"
Ona strauchelte. Die Soldaten drückten ab, doch kein Feuer flackerte. Ona lachte verächtlich auf und schoss. Einer nach dem anderen fielen sie in den Staub.
Neshira holte mit rasendem Herzen zu ihr auf und packte sie am Arm. „Mache so etwas nie wieder."
Ona feuerte auf einen sich erhebenden Vampirling, und er sackte zurück in den Dreck. Mit aufgeregt blitzenden Augen sah sie zu ihrer Schwester hinauf. „Das verspreche ich dir." Neshira spürte ihren hektischen Puls durch die Jacke hindurch.
Wie ein Wachhund schwebte die Fregatte über dem Wrack. Funken stoben von den Schloten in den Regen und tanzten um den Ballon, brennend rot vor dem Dunkelgrau des Nachthimmels. Neshira meinte zu sehen, wie das Wasser an den Geistern brach, schattenhafte Umrisse aus schmieriger Flüssigkeit und unsichtbarem Rauch. Eine Gestalt stand am Achterdeck und ließ ein Schwert in der Hand wirbeln.
„Sin! Sin, du lebst!", schrie Ona über den Lärm der Maschinen hinweg.
Ein Seil fiel von der Reling. Ein Weg aus der Hölle. Weitere Wachen stemmten sich wieder auf die Beine, und wurden von Onas Kugeln und Neshiras Messern empfangen, noch bevor sie nach ihren Gewehren greifen konnten.
Eine Bewegung in Neshiras Augenwinkel ließ sie herumwirbeln, doch es waren Durag, der zweite Gremlin und die Zwergin, die Neshira bereits im Gewächshaus gesehen hatte. Dandelo, erinnerte sie sich an den Namen, den der Scharfschütze genannt hatte. Die Aura einer Vettel wehte durch den Regen, wurde stärker und stärker, und sie umklammerte die Messer fester. Ihr Herz schwankte, allein bei dem Gedanken, erneut gegen eine Hexe kämpfen zu müssen, so ausgelaugt, wie sie war, doch er machte keinerlei Versuche, sie anzugreifen. Eine Entscheidung zwischen Leben und dem Tod, wisperte jemand in ihren Gedanken. Dandelo stolperte beinahe, als er sie sah, doch verlangsamte seinen Schritt nicht.
„Er ist eine Vettel", knurrte sie, kaum, dass die drei sie erreicht hatten.
„Aye, das ist er", keuchte Durag. „Und das ist Elysia, die Hüterin seines Herzens. Im wahrsten Sinne des Wortes, so irrsinnig es klingt. Aber er ist auf unserer Seite, und ist der Grund, warum deine werte Schwester nicht schon wieder von Kugeln durchlöchert wurde." Er schoss einem Soldaten in den Kopf und sah zu Neshira auf. „Können wir diese leidige Streiterei auf den Moment verschieben, wenn wir irgendwo in der Luft zwischen hier und dem Nichts sind?"
„Durenskys Soldaten wissen, dass wir nicht mehr für ihn kämpfen." Dandelo tippte sich grüßend an den Hut. Elysia deutete einen Knicks an. „Ein paar der Vampire, die den Turm gestürmt haben, haben bemerkt, dass ich ihre Gewehre blockiert habe. Sie konnten fliehen und wollen nun die Herrschaften samt Verstärkung holen." Er trat gegen eine der Leichen. „So viel Verschwendung."
Neshira ließ die Messer sinken. Sie wollte die Vetteln auslöschen, doch sie hatte genug gekämpft. Fürs erste. Wahrscheinlich konnte sogar Dandelo sie besiegen, ohne ihre Magie, fern ihres Gottes. In der Nähe klapperten metallbeschlagene Stiefel auf Steinfliesen. „Dann verschwinden wir, bevor..."
Die Vampire stürmten in den Innenhof, Durensky und Eleuthera in ihrer Mitte. Noch bevor sie zum Stehen kamen, hob Durensky einen Revolver. Dandelo stieß einen erstickten Laut aus und machte eine hektische Handbewegung, und die Waffe in der Hand des Vampirfürsten gab nur ein trauriges Klicken von sich. Zugleich bellte Durags Pistole. Durenskys linke Wange zerstob in Fetzen aus Blut und Knochen.
Durensky heulte auf und ließ die Pistole sinken. Wütend blickte er Dandelo entgegen. „Ich denke, du hast oft genug gesehen, was ich mit Verrätern tue", fauchte er.
Dandelo konnte nicht einmal die Hände von seinem Zauber sinken lassen, als der Vampir bereits bei ihm war. Elysia schrie auf, Neshira schlug blind nach ihm, doch traf nur die Schöße seines Mantels. Ein Hieb ließ Neshira zurücktaumeln, ein zweiter schickte Elysia keuchend zu Boden. Durag war nirgends zu sehen, doch ein nächster pfeifender Schuss aus der Deckung des Wracks verriet, wo er war. Kanonen bellten tief auf und legten Donnerschläge unter die Melodie von Onas Maschinengewehr. Feuer brach in den Nachthimmel, zerriss die Soldaten, doch Neshira ahnte, dass Eleuthera in der Zeit, in der sie nicht gekämpft hatte, all die anderen Patienten in ihrem Sanatorium umgebracht hatte. Sie war Herrin ihrer Kräfte. Eine Seuchenvettel, für die eine Breitseite eines Luftschiffes nicht mehr als eine Unannehmlichkeit war. Während sie, Neshira, nichts mehr hatte bis auf eine Handvoll Wurfmesser.
Die Krallen lang und scharf, die Gesichtszüge verzerrt zu der Bestie, die sich unter seiner edlen Uniform verbarg, schnellte Durensky vor und schleuderte Dandelo beiseite. Neshira warf ein Messer nach ihm, doch er wich flink aus, setzte Dandelo nach und schloss wie ein Tier seine Fänge um seine Kehle.
Elysia kreischte Dandelos Namen. Zuckend wand der Gremlin sich unter dem Vampir, schrie ein letztes Mal auf. Dann verstummte er.
Durensky hatte nicht einmal die Zeit, sich zu erheben, als Elysia sich auf ihn stürzte. Heulend prügelte sie auf ihn ein, ein silbernes Messer blitzte auf, und sie versenkte es bis zum Heft in seinem Rücken. Der Vampir wandte sich beinahe beiläufig um und zog ihr seine Krallen durchs Gesicht, doch Elysia wich nicht zurück.
Hektisch blickte Neshira von dem Kampf zu dem Seil in die Sicherheit. Flecken, blutrot vor dem Schwarz des Himmels, näherten sich. Sie könnte einfach fliehen, sie könnte an Bord klettern, mit dem Schiff davonfliegen, und Ona und sie wären in Sicherheit. Was hatte sie zu verlieren? Einen Gremlin mit zweifelhafter Moral, eine Vettel und die Hüterin seines Herzens. Nichts, was ihr etwas bedeutete.
Sie stürmte auf Durensky zu und riss ihn mit sich, weg von Elysia. Krallen schrammten an ihren Rippen vorbei. Sie hieb auf seine Seite ein, wieder und wieder, bannte den Schmerz ihrer Wunden aus ihrem Geist. Es blieben der Vampir und sie, der Widerschein von Kanonenfeuer in seinen Augen, die Hitze und zugleich eisige Kälte auf ihrem Fell. Er schleuderte sie von sich, sie rollte sich ab und prallte schwer gegen Metalltrümmer. Wasser und Steine regneten auf sie nieder, als Sindraks Kanonen die Fassade weiterhin malträtierten, in der Hoffnung, auch die letzten Soldaten, vielleicht auch Eleuthera zu töten, unwissend, dass keine Salve der Seuchenvettel etwas anhaben konnte.
Neshira sprang erneut auf und trat Durensky mit aller Kraft in den Rücken. Elysia hatte das Messer wieder an sich gebracht und schlitzte ihm mit schnellen Bewegungen das Gesicht auf, Blut sprühte in alle Richtungen. Doch Durensky schien nicht im Geringsten beeindruckt von ihren Angriffen. Flink brachte er sie zu Fall, wand ihr das Stilett aus der Hand und rammte es ihr in die Brust. Elysia kreischte auf, doch erschlaffte nicht.
Neshira zog zwei ihrer Messer und stach sie zugleich in Durenskys Hals. Sein Knurren verlief zu einem grässlichen Gurgeln, seine Kraft an Elysias Dolch ließ nach. Neshira stieß ihn von ihr. „Lauf, wenn du kannst!"
Elysia stemmte sich auf die Beine, das Kleid blutverschmiert. Ihre Augen glühten gespenstisch. „Er wird dafür bezahlen, dass..."
Neshira ließ die Zwergin nicht zu Ende reden. „Nicht heute. Nimm Dandelo und lauf. Wir sind ihnen nicht gewachsen."
Elysias Warnruf kam zu spät. Durensky warf sie mit voller Wucht zu Boden, wich geschickt Elysias hastigem Angriff aus und hieb mit seinen Klauen über Neshiras Arm. Hektisch rollte sie sich ab und wich zurück, doch er setzte ihr sofort nach. Wie im Tanz führte er sie über den Hof, ein Schlag nach dem anderen, ein Tanz, wie ihn der Tänzer von Oren Mor ihr nie beigebracht hatte, blutig, hektisch, voller Angst. All ihre Kraft brauchte sie, um seine Angriffe abzuwehren, doch seine Krallen übersäten ihre Arme mit unzähligen kleinen Wunden. Schüsse beutelten seinen Körper, doch sein Grinsen war triumphierend, das Gesicht überströmt von Blut.
Er trieb sie fort von den anderen, begriff sie. Und sie ahnte, wohin.
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