31. Eine letzte Rettung
Soundtracks: Max Richter - Zilpha aus dem Taboo OST. Abspielen ab Anfang.
Und Daniel Licht - Epilogue Karnaca High Chaos aus dem Dishonored 2 OST. Abspielen, sobald sie den Turm verlassen.
[Hier müsste ein GIF oder Video sein. Aktualisiere jetzt die App, um es zu sehen.]
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Ich schleppte mich die Wendeltreppe hinauf, und begriff, dass ich mich verlaufen hatte. Runde um Runde führten die steinernen Stufen in die Höhe, schmale Fenster mit dicken Scheiben ließen die Aussicht auf die Stadt zu schwarzen und feuerfarbenen Schlieren verschwimmen.
Jeder schwere Atemzug schmerzte in meinen Lungen, als hätte Eleuthera Nesseln in ihnen gesät. Die stinkenden Wunden an meinen Armen brannten. Ich spürte, wie Blut und Eiter und Schweiß langsam mein Hemd durchnässten und in die Innenseite meiner Rüstung sickerten. Meine Schritte waren mehr ein Schlurfen, jede Stufe war so schwer, als müsste ich erneut die Außenseite der Ura entlang klettern. Mir war, als müsste ich mich ans Atmen erinnern, um nicht einfach damit aufzuhören, als müsste ich meinem Körper jede Handlung, die er normalerweise von selbst tat, befehlen. Mein Herz raste, und dennoch hatte ich das Gefühl, als würde mein Blut nirgends ankommen.
Ein eisiger Windzug wehte mir plötzlich entgegen, und ich tastete fahrig nach meinem Schwert, doch statt einem Zauber war es nur ein zerbrochenes Fenster. Müde ließ ich mich auf den Stufen nieder, lehnte mich an den kalten Stein und hoffte, dass der Wind mein Fieber kühlte. Unten, in den Höfen des Palastes und in den Straßen Cinderports, brannten die Wracks der Luftschiffe. Noch immer heulten Sirenen durch die nachtverhangene Stadt. Die Böen trieben schmierigen Regen zu mir hinein, und er brachte Erinnerungen an eine Göttin, behangen mit Laternen an roten Bändern, an lange Krallen, an eine wallende Mähne, an triumphierende, markerschütternde Schreie. Als ich die Banshee besiegt, nein, beschäftigt hatte, bis Valentina einen Weg gefunden hatte, sie zu bannen, hatte der Sturm über Cinderport ebenfalls nach verbranntem Öl und schwarzem Regen gerochen. Weitere Luftschiffe kreuzten über den Himmel, schlichen um die Festung wie stählerne Wachhunde.
Mir kam es vor, als wäre der Kampf gegen die Banshee bereits Jahrtausende her. So viel war geschehen. Ich hatte Valentinas Sieg als den meinen ausgegeben, und die Geschichte hatte mir mehr Freigetränke eingebracht, als ich zählen konnte. Plötzlich hätte ich alles für einen Schluck Gin gegeben. Selbst Durags stinkenden Whiskey hätte ich mit Freuden angenommen. Dann hatte ich einmal zu oft angegeben, und Ona hatte mich als fähig erachtet, ihre Schwester zu finden. Und es war uns gelungen. Sie hatte Neshira gefunden. Ich hatte sie gefunden. Und Valentina hatte den Tod gefunden.
Ich musste Ona finden, bevor sie ihr folgte. Daran zu denken, dass sie nicht bereits tot war, wagte ich nicht. Zuletzt hatte ich sie gesehen, wie sie leblos neben Neshira lag, Schusswunden hatten ihre Fell verunziert, und ich hatte es den Schützen heimgezahlt. Einer nach dem anderen war unter meinen Schwertern gestorben, bevor sie ihre Waffen abfeuern konnten, ich hatte Durensky die Kehle aufgeschlitzt, doch Eleutheras Blick, voller Zorn, war mir entgegengeschlagen wie eine Welle aus Finsternis. Für einen Moment war ich unfähig gewesen, mich zu bewegen, trotz des Hex, trotz all meinem Zorn. Dann hatte ich bereits ihre Hand auf meinem Gesicht gespürt, und der Schmerz, der darauf folgte, hatte meinen Geist zerrissen wie Papier.
Einer von Durags Schüssen hatte ihren Griff um mich erlöschen lassen, ich hatte einen Moment zum Atmen gehabt, lange genug, um zu sehen, wie die Bestie Ruk tötete. Der Moment, in dem ich begriff, dass wir nicht siegen konnten. Eine Schneise hatte sich vor mir geöffnet, gesäumt mit toten Soldaten, und ich hatte meine Chance genutzt. Ich war gerannt, blind in die Festung hinein, ohne jeden Gedanken. Der Schmerz wollte mich zu Boden ringen, doch ich hatte nicht nachgegeben.
Erst jetzt brach die Sorge um Ona an die Oberfläche, und meine Angst um sie wollte mein Herz schier erdrosseln. Ich hatte mein Versprechen erneut nicht gehalten. Sie war schwer verletzt gewesen, wenn nicht sogar tot, und ich hatte sie im Stich gelassen. Bilder sprangen mich an, die Zähne der Vampire an ihrem Hals, Eleutheras Seuche zerfraß ihr Fell, ihre Augen blickten leblos flehend in den leeren Himmel, und mein Magen krampfte sich zusammen, schmerzhafter als all meine Wunden zugleich. Stumm flehte ich alle Unheiligen an, dass sie noch lebte. Ich würde alles dafür geben.
Doch ich konnte nichts tun. Sobald ich mich aus meinem Versteck wagte, würden die Vampire mich töten. Ich wäre keine Herausforderung für sie, verletzt, verflucht, krank.
Ich griff nach einem Heiltrank, dem letzten, den ich hatte, und leerte ihn in einem Zug. Das Antidot brannte auf meiner Zunge. Unter meiner Kleidung schlossen sich einige der Wunden, die Eleutheras Berührung geschaffen hatte, doch die schwere Verderbtheit der Krankheit blieb. Ich wollte losstürmen, suchen nach Ona, sie finden und retten, doch ich konnte nicht. Die Seuche drückte mich auf die Steine unter mir.
Das dumpfe Scharren von Stiefeln auf Stein klang zu mir hinauf, und ich biss die Zähne zusammen. Ich wollte nicht mehr kämpfen. Doch Aufgeben kam nicht infrage. Ich brauchte nur einen Moment, um mich auszuruhen, um mich zu sammeln, redete ich mir ein. Danach könnte ich Ona suchen. Ich erhob mich und zog mein Schwert. Schwärze tanzte vor meinen Augen.
Ich schlug zu, noch bevor die Gestalt richtig zu sehen war. Krachend schlug es gegen etwas Festes. Unnatürlich blaue Augen blickten zu mir auf, rote Haare wallten um in ein sündhaft teures Kleid gekleidete Schultern. Mühelos warf Elysia mich zurück, ich stolperte über eine der Stufen und fiel hart auf die Steine. Sofort versuchte ich, wieder auf die Beine zu kommen.
„Bleib ruhig liegen, Sindrak", unterbrach Dandelo mich resigniert und trat hinter seiner Frau hervor.
„Warum, damit du mich in Ruhe zu Eleuthera bringen kannst?", fauchte ich und zog meine Donnerbüchse. „Du solltest die Gewehre blockieren!"
„Aye, das habe ich ebenfalls erwartet", meldete sich Durags knarrende Stimme zu Wort. Den Revolver erhoben, trat er aus der Dunkelheit. „Wirklich hilfreich warst du nicht."
„Nun, Sindrak, dann verrate mir, warum dich niemand erschossen hat, als du Eleuthera und Misha angegriffen hast", erwiderte Dandelo schnippisch. „Warum du nicht von Kugeln durchsiebt wurdest, als du in die Soldaten gerannt bist wie ein ausgemachter Idiot!"
„Wegen des Hex", erwiderte ich verdutzt. „Ich konnte ihnen ausweichen."
Dandelo schnaubte schrill. „Ich habe das Hex gebaut! Es macht dich schnell, aber Kugeln bleiben eine Gefahr. Wie du wahrscheinlich oft genug miterleben konntest. Nein, ich habe dir dein Leben gerettet, und dafür wäre ein wenig Dankbarkeit angebracht."
„Wenn du Gewehre blockieren kannst, warum hast du dann nicht verhindert, dass Ona verletzt wurde?", fauchte ich, und allein ihr Name in meinem Mund drehte mir das Herz um.
„Auch ich brauche meine Zeit, um meine Zauber zu wirken, und ich sage dir, Vettelmagie ist nicht einfach", schlug Dandelo zurück. „Als ich die Waffen blockieren konnte, hatten sie ihre erste Salve schon abgefeuert. Repetierende Gewehre sind eine Erfindung der Höllenschmieden."
„Repetierende Gewehre sind eine Erfindung von den Maschinengöttern persönlich", murmelte Durag versonnen.
„Das ist das netteste, was du je zu mir gesagt hast, Durag." Dandelo grinste zufrieden. „Wenn ich alle Gewehre zugleich blockiert hätte, dann hätte Eleuthera gewusst, dass ich etwas damit zu tun habe. Und dann hätte sie mich umgebracht, so wie sie es bei dir versucht hat."
„Dass sie es nicht geschafft hat, dafür kannst du mir dankbar sein", warf Durag zufrieden ein.
„Danke", blaffte ich.
„Gern geschehen. Dann erkläre mir doch bitte kurz, warum du von dieser verfluchten Bestie abgelassen hast, um ein paar nichtsnutzige Gewehrschützen umzubringen. Du hast dieses Schwert", er wies auf die mit schwarzen Kristallen besetzte Waffe, „und du saßt auf einem Wesen, das nur von Magie zusammengehalten wurde. Du hättest sie töten können."
Vielleicht wäre Ruk dann noch am Leben. Die Schuld traf mich wie ein Fausthieb. Ich hatte nicht nachgedacht, nur gesehen, dass das Mädchen, das mir mehr bedeutete als alles andere, unter Kugeln fiel, und ich hatte den Schützen gezeigt, dass man sich nicht ungestraft an ihr vergriff. Doch wenn ich auch nur einen Moment nachgedacht hätte, wenn ich die Kreatur umgebracht hätte, dann hätten Neshira, Ruk, ich und die Gremlins gegen Eleuthera gestanden. Vielleicht hätten wir dann noch eine Chance gehabt. Ich biss die Zähne zusammen und senkte den Blick.
„Es war unendlich dumm von deinem Liebchen, blind auf diesen Nebel zu schießen", fügte Durag hinzu. „Aber es war noch dümmer von dir, zu glauben, du könntest es mit Eleuthera aufnehmen. Wir haben wohl getan, was wir tun konnten, ich für meinen Teil zumindest, um dir zu helfen, aber sie ist eine Vettel. Ich habe gesehen, was die letzte elende Hexe, der du begegnet bist, dir angetan hast. Und du dachtest wirklich, dass du es mit Eleuthera und dem mächtigsten Vampir auf dieser Welt aufnehmen kannst?"
„Ich hätte sie töten können", murmelte ich dumpf, als würde das all meine Fehler ungeschehen machen. „Wenn..."
„Wenn sie sich nicht verteidigt hätte. Das tun Leute, wenn sie merken, dass sie angegriffen werden. Du hast diesem Umhang." Er zupfte an dem alten Leder, das blutverschmiert um meine Schultern hing. „Er lässt dich mit den Schatten verschmelzen. Du hättest dich anschleichen und sie von hinten ermorden können. Wie ich es mit diesem moorigen Miststück getan in diesem elenden Sumpf getan habe. Aber nein, du musstest für dein Mädchen den Helden spielen und..."
„Was willst du von mir hören?", schrie ich. Die drei zischten mich an, und ich senkte meine Stimme. „Du hast sie auch nicht erschossen."
„Schutzzauber. Sie hat dazugelernt."
„Was soll ich jetzt dazu sagen? Schön, es ist meine Schuld. Und nun? Was ändert es?" Schwärze tanzte vor meinen Augen, und ich ließ mich auf die Stufen fallen. Fahrig strich ich mir die Mähne nach hinten.
Durag lächelte kurz selbstzufrieden, doch beließ es dabei. Ich war froh darüber. Noch ein Wort von ihm, und ich hätte ihm mein Schwert in den Hals gerammt. Zumindest hätte ich es versucht. Er hätte abgedrückt, bevor ich die Klinge heben konnte.
„Es ändert nichts", sagte Dandelo und lehnte sich an die Mittelsäule der Treppe. „Eleuthera hat gesiegt. Das einzige, was ich noch für euch tun kann, ist euch hier herauszubringen. So wenig ich euch leiden kann, den Tod durch eine wütende Vettel habt ihr nicht verdient. Glaubt mir, ich habe oft genug gesehen, wie die Herrschaften Durensky mit ihren Feinden umgehen, und das will ich euch ersparen. Ich kenne einen Geheimgang, der hinunter in die Stadt führt."
„Ich kann nicht einfach gehen", hielt ich dagegen. „Ich muss Ona finden."
„Sie und Neshira sind so gut wie tot."
„Hast du ihre Leiche gesehen?" Meine Stimme schwankte.
„Nein, aber..."
Ich wollte nicht erleichtert sein. Ona konnte überall sein, irgendwo, wo Dandelo nicht vorbei gekommen war, doch mein Herz stolperte dennoch. Eine dünne Hoffnung, zerbrechlich wie Glas. „Dann kann sie noch am Leben sein. Ich werde sie nicht im Stich lassen."
Durag verdrehte die Augen. „Er gibt uns eine Möglichkeit, abzuhauen, und du willst Fuchsgeistern nachjagen?"
Eine Hand legte sich mir auf die Schulter. Blaue Augen funkelten zu mir auf. „Die Liebe ist mächtig", sang Elysia silbern. „Du würdest alles für sie tun, nicht wahr?"
„Aye", sagte ich rau.
„Vor allem Dinge, die uns alle in Gefahr bringen", schnarrte Durag.
Elysia warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Dann werde ich dir helfen."
Dandelo seufzte. „Wir werden dir helfen. Es gibt eine schwindend kleine Möglichkeit, dass sie noch am Leben ist, und dann kann ich euch helfen, zu entkommen."
„Neshira wird dort sein", warnte Durag. „Sie könnte dich töten."
„Dann werde ich hoffen, dass sie nicht allzu sehr auf das Etikett des geschenkten Whiskeys schaut und einfach damit zufrieden ist, aus der Festung ihrer Erzfeindin zu verschwinden", erwiderte Dandelo.
„Und wie wollt ihr sie finden? Wenn sie nicht schon längst verschwunden ist mit ihrem Wasserpferd?", wollte Durag wissen. „Wir sollten einfach zusehen, dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden, bevor diese elenden Vampire auftauchen."
„Bist du feige geworden, Durag?", spottete ich.
„Ich bin vernünftig geblieben, anders als du, der die Bestie der Seuchenvettel hat laufenlassen", schoss Durag giftig zurück.
„Wir müssen sie nicht finden", sagte Elysia plötzlich. Sie stand am Fenster und blickte hinunter in die Burghöfe. „Die Vampire haben sie für uns entdeckt."
Die Vampire. Ich stieß die Zwergin beiseite und sah ebenfalls hinab.
Das Wrack des zweiten Zerstörers, der Iertare, wie Dandelo das Schwesterschiff der Ura genannt hatte, lag zerschmettert im Hof, der Ballon bedeckte das angrenzende Gebäude wie eine riesige, zerfetzte Decke. Seine Seite war aufgerissen von den Schüssen der Ura, der Bug war nur noch eine Masse aus verbogenem Metall und in den Regen ragenden Metallstreben. Leichen, wohl bei dem Aufprall hinausgeschleudert, befleckten den umgepflügten Boden. Dazwischen standen die Vampirlinge, die Gewehre im Anschlag. Grobe Rufe schallten zu uns hinauf, mehr und mehr Männer drangen aus den Eingängen und sammelten sich mit erhobenen Waffen um den Kadaver des Schiffes.
Ich musste Ona retten. Wenn ich es nicht tat, würde sie den Sonnenaufgang nicht mehr erleben. „Sie werden sie doch sicher gefangennehmen wollen, oder?", fragte ich wenig hoffnungsvoll.
„Durensky hat den Befehl gegeben, jeden von euch auf Sicht zu erschießen. Er ist nicht sentimental, was seine Feinde angeht." Dandelo begutachtete sein metallenes Bein.
„Das bringt ihm einen gewaltigen Vorteil gegenüber uns allen", bemerkte Durag missmutig.
„Anders wäre er kaum der mächtigste Mann von Hivens Ark geworden."
„Wir müssen Neshira und Ona dort herausholen", sagte ich fest.
„Wie möchtest du das schaffen? Du bist verflucht. Die Vampire töten dich, wenn du dich ihnen nur näherst." Durag stützte sich auf sein Gewehr.
Er hatte recht. Doch zu meinem unermesslichen Glück hatte ich einem alten Drachenblut ein mächtiges und nützliches Schwert abgeknöpft. „Dandelo", wandte ich mich an die Maschinenvettel, „ich brauche ein Luftschiff."
Dandelo hob die Augenbrauen. „Oh, ein Luftschiff. Ein wenig bescheidener ist dir nicht möglich?"
„Wenn ich damit", ich hob meine Donnerbüchse, „die Vampire beschießen soll oder mit einer Breitseite Kanonen, fällt es mir doch sehr leicht, nicht bescheiden zu sein."
„Wie, bei allen Göttern, willst du es fliegen? Die Crew wird..."
„Ich habe meine eigene Crew mitgebracht."
„Keiner von uns kann Luftschiffe fliegen."
Ich verdrehte die Augen. „Nicht ihr. Ihr bleibt hier und beschäftigt die Vampirlinge. Ihr müsst mir nur sagen, wo ich ein Luftschiff finden und betreten kann."
Elysia lächelte zu mir auf. „Ich führe dich."
„Wenn wir alle sterben, ist es deine Schuld", sagte Durag mürrisch, doch nahm bereits das Gewehr von seiner Schulter.
„Wenn wir alle tot sind, werde ich damit leben können." Ich nickte ihm aufmunternd zu und folgte Elysia die Stufen hinab. Sie waren kaum außer Sichtweite, als bereits der erste Schuss fauchte.
„Hier entlang." Elysia zog einen Schlüsselbund hervor und öffnete eine schwere Eisentür, an der ich zuvor wohl vorbeigetaumelt war.
Kreischend schwang sie auf, so laut, dass ich zusammenzuckte, und gab den Blick frei auf das von kleinen Spitzen gekrönte Dach. Weit in der Ferne, hinter weiteren Türmen, Spitzbögen und langen, offenen Dächern, hatte ein Luftschiff angelegt, klein wie Spielzeug. Von oben hatte das Schloss lange nicht so riesig gewirkt, doch nun erahnte ich seine wahren Ausmaße.
Die Zwergin lächelte listig. Es erinnerte mich an Ona, und mein Herz schwankte. „Komm!"
Sie stürmte voran, schneller, als ich einer kleinen Frau in einem langen Kleid mit sicherlich zahllosen schweren Unterröcken zugetraut hätte. Ich ließ mich nicht lange bitten. Mit einem Sprung landete ich auf den unter meinen Stiefeln knirschenden Schindeln und rannte ihr nach, geduckt hinter die Zinnen auf dem Rücken des Daches. Der Regen prasselte auf meine Fliegerbrille ein, verklebte mein Fell und verwandelte die Steine unter uns in glitschige Verräter, allzeit lauernd, um uns in die Tiefen stürzen zu lassen. Der Burghof neben dem Dach war plötzlich unergründlich wie der Abgrund hinter den Nebeln. Aus der Ferne hörte ich das Gellen von Schüssen, Gebrüll, das Poltern von Stiefelabsätzen auf Pflastersteinen. Mir war, als verfolgte es mich, als wären die Vampire auch uns bereits auf der Spur.
Elysia führte mich unbeirrt über die Höhen des Schlosses, hinauf auf die mit Kreuzblumen verzierten Spitzbögen, kaum breiter als meine Pfote, über ein steiles Vordach, die glatte, abweisende Fassade eines Turmes entlang. Wasserspeier und Heilige beobachteten uns aus von Regen und Rauch geschwärzten Augen. Noch immer spürte ich Eleutheras Seuche unter meinem Fell, schüttelte mich mit Schaudern und ließ meine Finger zittern. Ich war müde, so schrecklich müde. Bei jedem Sprung fürchtete ich, nicht genug Kraft hineingelegt zu haben und in die Tiefe zu fallen, bei jedem Griff meinte ich, den rauen Stein unter meinen Fingern zu verlieren. Jedes Mal, wenn ich auf dem nächsten Dach aufkam, knickten meine Beine unter mir ein. Meine Gliedmaßen schmerzten entsetzlich. Ich wollte mich verstecken, irgendwo in einer der dunklen Nischen zwischen Steinfiguren und schmiedeeisernen Zinnen, und einfach schlafen, doch der Gedanke an Ona trieb mich voran. Fest hielt ich den Blick auf Elysias Röcke geheftet und setzte einen Fuß vor den anderen.
Das Schiff war eine glatte schwarze Fläche in einem aufgepeitschten Meer aus scharfen, hohen Speerspitzen und den Stacheln eines schlafenden Ungetüms. Eine Fregatte, weder so groß noch so schwer bewaffnet wie die Ura, doch ich wusste, dass die Kanonen nicht weniger vernichtend sein würden. Funken stoben aus den Schornsteinen und ließen den Ballon in einem unheilvollen Dunkelrot erglühen, ein Flecken aus Blut in einer Welt ohne Farben. Die Flagge Durenskys wehte in der Takelage, als würde die weißgekleidete Frau mit den blutigen Händen tanzen.
Ein paar letzte Schritte, und Elysia und ich duckten uns hinter die filigran wirkenden Steinzinnen des Dachfirstes. Schlanke Türme ragten neben uns auf und bildeten eine abweisende Stirnseite. Tief unter uns flutete Licht aus dem Inneren des Gebäudes auf den Balkon. Vampirlinge stürmten über die Gangway auf den Balkon und hinein ins Innere des Schlosses, wohl, um ihren Brüdern bei der Jagd auf die Shinaru beizustehen. Wer auch immer das Schiff in die Schlucht zwischen den Türmen gelenkt hatte, sodass es an dem Balkon hatte anlegen können, verstand das Handwerk eines Steuermanns. Nur wenige Schritte trennten die Bordwände von dem nächsten Dach, der Kiel schrammte beinahe gegen die Zinnen des nächsten Bogens unter dem Schiff. Das Stampfen der Maschinen legte einen dumpfen Rhythmus unter meinen rasenden Herzschlag.
„Das ist die Adevar", stellte Elysia die Bestie aus Stahl vor. Sie wies auf einen vorspringenden Turm am Ende des Daches. „Von dort kannst du auf das Achterdeck springen."
„Kommst du nicht mit?", fragte ich.
„Nein. Ich gehe zu Dandelo zurück." Sie lächelte flüchtig.
Ich blickte das Dach hinunter. Es war nicht weit. Nur noch ein paar wenige Schritte, ein Sprung, ein Ritual, und ich hatte erneut ein Kriegsschiff unter mir. Ich konnte es kaum erwarten. Und doch musste ich sie etwas fragen. „Warum hast du eingewilligt, mir zu helfen? Nachdem ich sagte, dass ich Ona..." Ich schluckte. „Du weißt, was ich meine."
Elysia lächelte beinahe gütig, ein merkwürdiger Anblick auf ihrem puppenartigen Gesicht. „Die Liebe ist einer der stärksten Kräfte auf dieser Welt."
Nun, da die Ura zerstört war, stimmte es wahrscheinlich sogar. Doch ich verkniff mir meinen Kommentar.
„Ich war tot, und Dandelo hat mein Gehirn behalten. Er wollte mich stets wieder zum Leben erwecken, und nun, da es ihm gelungen ist, ist sein einziges Ziel, mich am Leben zu erhalten. Er hat dafür fremde Seelen an die Dämonen verkauft, er seine Seele an die Hexen gegeben, er hat für Durensky gearbeitet, nur, damit ich leben kann. So sehr liebt er mich. Nur der Liebe wegen stehe ich nun hier und kann dir davon berichten. Deswegen kämpfe ich dafür. Jeder hat es verdient, jemanden zu finden, den er von den Toten zurückholen würde, nur um wieder mit ihm vereint zu sein. Auch du. Deswegen möchte ich, dass du Ona findest und mit ihr leben kannst. Denn nicht jeder kann den Tod betrügen. Und wer es tut, muss einen hohen Preis zahlen."
Ich blickte sie verständnislos an.
Sie grinste. „Schau nicht zu sehr auf das Etikett des geschenkten Whiskeys. Stiehl das Schiff. Rette Ona und Neshira. Und dann verschwindet von hier, so schnell ihr könnt." Sie erhob sich und nickte mir zu. „Viel Glück."
Kurz sah ich ihr nach, wie sie die Zinnen entlang kletterte, dorthin zurück, woher wir gekommen waren. Vollends glaubte ich ihr nicht. Dieses Gerede von wahrer Liebe war zwar durchaus herzzerreißend, doch zugleich schrecklich vage. Die alte Freundschaft zu Dandelo war nichts, worauf ich bauen würde. Elysia und Dandelo waren noch immer unter dem Befehl der Vettel, so sehr sie es abstritten. Sie waren bereit, Eleuthera zu verraten, doch es würde ebenso wenig brauchen, dass sie uns der Hexe in die Fänge trieben.
Doch uns blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu vertrauen. Dandelo war der Einzige, der mir mit dem Schwert des Caligár gefährlich werden konnte. Die Schiffe waren sein Habitat. Ich wollte nicht wissen, was geschah, wenn er die Adevar gegen mich wandte.
Ich scheuchte die düsteren Gedanken aus meinem Kopf und rutschte langsam das steile Dach entlang auf dessen Kante zu, dort, wo ein weiterer Spitzbogen zu dem Turm führte, immer in den Schatten hinter den Steinzinnen. Der Hof, der sich neben den rutschigen Schindeln öffnete, versprach einen langen Fall, endend in einem zerschmetterten Tod. Vorsichtig drückte ich mich an einem Wasserspeier vorbei und betrat mit rasendem Herzen den Spitzbogen. Schwärze tanzte vor meinen Augen, ich schwankte, doch rettete mich mit einem letzten Schritt an den Turm. Keuchend drückte ich mich gegen das kalte Gestein und wünschte mir still, es wäre Ona. Der Regen kühlte mein Fieber. Es würde noch dauern, bis der Fluch verflog. Als die Sumpfhexe mich verzaubert hatte, war ich mit ihrer Magie unter meiner Haut durch das Moor geirrt, ich hatte die Ura gefunden, und Attica hatte die Lamente vom Himmel geschossen. Erst, als sich die Tür meiner Zelle hinter mir geschlossen hatte, hatte ich gemerkt, dass die Schwere in meinen Gliedern langsam wich.
Stück für Stück tastete ich mich einen schmalen Vorsprung entlang. Das Achterdeck war glatt und leer, einige Schritte unter mir. Kisten mit Ausrüstung standen in den Ecken, nebst Haufen aus Segeltuch und einer einzelnen Laterne. Eine einzelne Wache blickte hinaus in den Regen, das Haar vom Wasser an den Kopf geklebt, der Mantel aus Ölzeug, normalerweise wohl grau wie alle Uniformen Durenskys, schien schwarz.
Lautlos zog ich das Schwert des Caligár. Das Plätschern des Regens wurde zum Tosen der See, der Wind roch nach Salz und dem Unbekannten unter der Oberfläche. Nach brechendem Holz und vergossenem Blut und brennendem Pulver, nach toten Göttern und vom Meer verschlungenen Seelen. Das Flüstern, das mich stets begleitete, wenn ich das Schwert bei mir hatte, wurde lauter und füllte meine Gliedmaßen mit einer bebenden Vorfreude, gemischt mit einem unterschwelligen Gefühl, vor etwas fliehen zu müssen. Ich atmete tief durch. Dann sprang ich.
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