26. Eleutheras Reich

Soundtracks: Rupert Gregson-Williams - The Alienist Main Theme (ratet mal woher), Daniel Licht - Streets of Karnaca (Suspense) aus dem Dishonored 2 OST

https://youtu.be/dnYcDkHLshI

und Rupert Gregson-Williams - Eyes and Tongue aus dem The Alienist OST. Letzteres auf Youtube wieder nicht zu finden. Abspielen der Reihenfolge nach ab Anfang. 

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Die Hexe war ein regungsloser Umriss vor dem Seegrün der Wasseroberfläche. Dunkelheit fing sich zwischen ihren Rippen, umspielte ihre schlanken Glieder und sammelte sich in ihren Haaren, langsam wogend wie die Mähne der Banshee. Sie hatte die Arme von sich gestreckt. Einzig leichte Bewegungen ihrer Hände, als suchte sie nach Strömungen im Wasser, verrieten, dass sie nicht tot war.

Neshira blickte zu ihr hinauf und drückte sich tiefer in die Schatten am Grund des Beckens. Durch das Wasser konnte sie gläserne Lampen in der Form von Muscheln erkennen, die das grünliche Licht verströmten, kupferne Wasserhähne, beinahe unsichtbare Handtücher und Kleidungsstücke an Haken an den Wänden und die dunkel gefliesten Wände, wabernd und verzogen durch die leichten Wellen. Das Badesalz duftete nach Lilien. In der Ferne stampfte eine Maschine, die wohl das Wasser anwärmte.

Neben ihr knurrte Anghiske so tief, dass ihre Knochen erzitterten. Das Geräusch jagte ihr einen Schauder übers Fell, als wäre das Bad so eisig wie sein Blut. Sie lockerte den Griff um die roten Schnüre um seinen Kopf und wies leicht auf die Hexe.

Anghiske schnellte auf sie zu. Krachend schlossen sich seine Kiefer um ihren Hals, und er riss sie mit sich in die Tiefe. Neshira erhaschte einen Blick auf weit aufgerissene gelbe Augen, Luftblasen stiegen an die aufgewühlte Oberfläche, Krallen versuchten, das schwarze Fell zu zerkratzen. Blut mischte sich mit dem brodelnden Wasser. Ihr Schrei war kaum zu hören unter dem Tosen.

Jäh brach er ab. Anghiske riss den Kopf zurück, dunkle Schlieren folgten dem Brocken zwischen seinen Zähnen. Die Hexe klemmte leblos zwischen seinen Hufen und den hellen Fliesen des Beckengrundes.

Neshira strich ihm zufrieden über den Hals. Er fletschte die Zähne, Blut zog rötliche Fäden durch das Wasser. Vorsichtig stieß sie sich vom Boden ab und schwamm an die Oberfläche. Ruk und Durag folgten ihr.

Die Luft war beinahe so warm wie das Wasser, dampfig wie in einem Dschungel. Der Geruch nach Lilien stach in ihrer Nase. Angestrengt lauschte Neshira, doch bis auf die Tropfen, die von ihren Ohrenspitzen fielen und mit leisem Plätschern auf der Wasseroberfläche aufkamen, und die ferne Maschine hörte sie nichts.

Langsam kletterte sie aus dem Becken und trocknete sich mit einem Zauber. Durag zog seine in Öltuch eingewickelten Waffen an den Beckenrand, wrang seinen Mantel und seinen Hut aus und bedachte Neshira mit einem neidischen Blick. Ruk prüfte die Klinge seiner Axt.

Neshira flüsterte das Wort, das Anghiske entließ. Kurz färbte sich das Wasser beinahe schwarz. Der Geruch nach Moorwasser breitete sich aus, ein eisiger Hauch in der feuchten Wärme, dann verlief die Dunkelheit wie Farbe im Wasserglas eines Künstlers. Die Hexe lag auf dem Grund des Beckens, ihre Augen blickten anklagend ins grünliche Licht, kaum zu erkennen hinter den Schlieren ihres Blutes.

Die Shinaru hob das Totem des Wassergeistes auf und steckte es in ihre Gürteltasche. Eine blau geflieste Treppe war der einzige Weg aus dem Badehaus. „Gehen wir."

Leise wie der Tod schlichen sie voran. Die Stille blieb, breitete sich aus. Kein fremdes Geräusch war zu hören.

Die Treppe spie sie in einen hohen, kalten Flur. Das Licht des Mondes fiel durch schmale Fenster hinein, wie die einer Kirche, und beleuchtete offen stehende Türen, leere, tadellos gemachte Betten auf den Fluren und keusche Wildblumensträuße auf den Fensterbänken. Neshira fragte sich, woher man an diesem Ort Blumen bekam, in einer Stadt, eingeklemmt zwischen Vulkanen und dem Abgrund. Weiße Vorhänge, streng zusammengerefft, rahmten die Fenster ein. Ein Grammophon stand still und verlassen auf einem Nachtisch.

„Das Sanatorium", flüsterte Neshira.

„Du hast davon gehört", bemerkte Durag. „Als ich zuletzt hier war, war alles voller Menschen." Er zielte mit dem Gewehr in die dunklen Winkel. „Wo könnte diese verdammte Hexe sein?", sinnierte er leise. „Sie und ihre von den Göttern verfluchten Schoßhunde."

Neshira ahnte, wo sie waren, doch weigerte sich, darüber nachzudenken. „Dies ist der Ort, aus dem Eleuthera ihre Macht bezieht. Es ist wahrscheinlich, dass sie hier ist. Für sie ist es sicher hier, umgeben von allen, die unter ihren Seuchen stehen. Sie kann sich jederzeit an ihnen nähren. Wenn sie hier ist, wird es mehr als nur schwer, sie zu töten. Vielleicht können wir sie anderswo stellen..."

„Wenn es für sie sicher ist, wird sie ihn kaum freiwillig verlassen, nur um uns das Leben einfacher zu machen", entgegnete Durag.

Neshira seufzte. Er hatte recht. Nie zuvor war sie so unsicher gewesen, einer Hexe gegenüber zu treten. Selbst bei Lasaint hatte sie nicht so viel Angst gehabt. Nun würden ihr neben der mächtigsten Vettel der Welt auch Ibo Lele und Durensky gegenüberstehen, und sie zweifelte daran, dass sie, Durag und Ruk ihnen gewachsen waren. Ohne die Banshee fühlte sie sich schutzlos. Der Tänzer hatte recht gehabt. Sie war sicherer mit ihr gewesen, und nun vermisste sie sie geradezu. Es war abstoßend.

Sie nickte Durag zu, und der Gremlin übernahm die Führung. Sie sah ihn kaum. Schnell wie eine Ratte schlich er durch den Gang. Obwohl er unfreundlich und seine Moral kaum vorhanden war, vertraute sie seinem Können. Er hatte Lasaint Maraiza getötet, wenn man ihm glauben konnte. Vielleicht konnte er sein Kunststück wiederholen.

Sie sah sich zu Ruk um, der die Nachhut bildete, ein Berg aus Muskeln, bewaffnet mit seiner Doppelaxt. Stets fühlte sie sich stärker, wenn sie ihn hinter sich wusste. Sie hatten zahllose Schlachten gemeinsam gefochten, im alten Norden, auf Jade, und nun würden sie erneut zusammen in den Kampf ziehen. Sie hatte erwogen, nach ihren anderen Kameraden zu suchen, nach Markiri und Ophys, doch es hätte zu lange gedauert. Es gab keinen Hinweis, wo Markiri war, und ebenso wenig wusste Neshira, ob Ophys nach dem Angriff ihres schattenhaften Selbst in der Zwischenwelt überlebt hatte.

Je länger sie warteten, desto mehr Zeit hatte Ibo Lele, seine Macht zu sammeln. Durag war dabei gewesen, als man Eleuthera sein Vettelherz überreicht hatte. Die Tage, die seitdem vergangen waren, hatte Eleuthera sicherlich nicht tatenlos verbracht, und Neshira war sich sicher, dass er bereits am Leben war. Sie konnte nur hoffen, dass er Eleutheras Herz nicht bereits an einen neuen Hüter gebunden hatte. Doch auch dies würde sie nicht länger als nötig aufgeschoben haben.

Sie schlichen von Deckung zu Deckung, von einem Schatten hinter den leeren Betten zum nächsten. Nichts rührte sich, niemand begegnete ihnen. Neshiras Atem kam ihr obszön laut vor. In der Stille müsste jeder sie hören, glaubte sie, das leise Knirschen von Metall, als Durag einen Schalldämpfer auf den Lauf seines Gewehrs schraubte, das Knarzen des Leders von Ruks Rüstung, das Rascheln ihrer eigenen Kleidung.

Schließlich richtete Durag sich auf und blickte offen den Gang entlang. „Niemand da."

Neshira trat zu einem der Fenster und sah hinaus. Streng geometrische Wege und Beete zogen sich durch den Garten. Sie alle führten zu den gewaltigen Drillingstürmen der Kathedrale, die sich in der Mitte des Hofes erhoben. Wie schwarze Speere stachen sie in den dunklen Himmel, klar umrissen gegen das Licht des von dünnen Wolken verschleierten Mondes. Tausende kleine Spitzen wuchsen aus dem Kirchenschiff wie Stacheln. Wasserspeier knurrten stumme Warnungen.

Ruk trat zu ihr. „Vielleicht sind sie dort."

Neshira fragte sich, welcher Gott wohl dort angebetet wurde. Wohl nur Durensky selbst. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Vampir andere allmächtige Wesen neben sich duldete. Nicht einmal Eleuthera, die er angeblich liebte und allein mit seinen Worten in seinem Bann hielt. Wenn es wahr war, was Anathère erzählt hatte.

Seit Sindrak sie aus ihrer Zelle auf der Ura befreit hatte, versuchte sie, herauszufinden, was von Ana Evengreys Worten wahr und was eine Lüge gewesen war. Ob Durensky Eleuthera wirklich liebte. Ob Eleuthera rücksichtslos tötete, weil sie es musste, oder weil sie es wollte. Ob Durensky Eleuthera zu all ihren Taten getrieben hatte und ob Hexen tatsächlich ihren Kräften entsagen konnten.

Eines Tages würde sie sich entscheiden müssen zwischen dem Todesstoß und der Gnade, hatte Anathere gesagt, und Neshira war sich nicht sicher, ob es richtig gewesen war, die Steinvettel zu töten. Vielleicht hätte sie mehr gewusst, etwas, was ihnen helfen konnte, die Seuchenvettel und den Vampir zu besiegen. Vielleicht hatte sie wirklich nur Durensky töten und Eleuthera retten wollen, sofern es denn möglich war. Nur ohne ihre Kräfte würde Eleuthera dem Töten gänzlich entsagen können. Selbst wenn Durensky sie nicht mehr zum sinnlosen Morden zwang, würde sie töten müssen, um ihre Magie zu behalten. Doch warum hätte Anathère Eleuthera von ihren Kräften befreien wollen? Vielleicht, um sie von ihrem Thron an der Spitze des Zirkels zu stoßen? Anathère war ihr nie wie jemand vorgekommen, der nach Macht gierte.

Doch was wusste Neshira schon über Anathère Evá? Alles und nichts von dem, was sie ihr erzählt hatte, könnte eine Lüge sein, und nichts und niemand würde sie von den Toten zurückholen können.

Neshira meinte, das Kichern der Banshee an ihrem Ohr zu hören. Dieses Mal würde sie sich für den richtigen Weg entscheiden. Die Banshee würde keine ihrer Schlachten für sie ausfechten. Sie allein würde es tun müssen, sie allein würde sich Durensky und Eleuthera stellen müssen. Allein bei dem Gedanken wurde ihr schlecht.

Plötzlich fühlte sie sich schrecklich unvorbereitet. Sie hatte einen Arkanen und einen Scharfschützen an ihrer Seite statt einer Drachengöttin, deren Schrei unfehlbar den Tod mit sich brachte. Ein edler, doch schwacher Ausgleich.

Sie hatte versucht, den König zu rufen, in dem Moment, in dem Attica die Lamente angegriffen hatte. Er war nicht erschienen. Natürlich nicht. Neshira hatte ihn um Beistand erbeten, doch die Gebete waren ihr mehr und mehr wie leere Worte vorgekommen. Sie wollte das Vertrauen in ihn nicht verlieren, und doch spürte sie, wie es ihr mehr und mehr entglitt. Obwohl sie wusste, dass der König nicht zu jenen kam, die ihm nicht vertrauten.

„Canto", schnarrte Durag und winkte sie um eine Ecke.

Sie sah sich zu dem Scharfschützen um. „Verzeihung", murmelte sie zerstreut. Innerlich schalt sie sich dafür, in Gedanken zu sein. Die Vampirlinge konnten überall sein.

„Sieh."

Sie schloss zu Durag auf. In dem Bett lag noch jemand, von Kopf bis Fuß mit einem reinen weißen Laken bedeckt. Einzelne Blutspritzer verunstalteten die Kanten. Neshira wappnete sich und hob es an.

Sie erhaschte nur einen Blick auf die Hand, und es reichte ihr. Der Gestank nach Tod stieg ihr in die Nase. Angewidert ließ sie das Laken fallen. „Das war sie", murmelte sie.

Durag wies auf den Gang, die Betten, die ihn säumten. Hunderte Körper zeichneten sich unter ebenso vielen Laken ab.

„Das ist kein Sanatorium", raunte Ruk. „Es ist ein Leichenhaus."

Etwas bewegte sich, und Neshira riss den Arkanen in die Deckung des Bettes. Das Laken roch nach Lavendel. Ihr Herz raste. Vorsichtig lugte sie über den Toten hinweg.

Zwei Frauen, beide einschüchternd schön trotz des Dämmerlichts, hoben einen Toten auf eine Trage und traten durch einen Dienstbotendurchgang. Eine weitere zog das Laken, auf dem er gelegen hatte, ab und begann, das Bett neu zu beziehen. Ihre Augen schimmerten gelblich im Mondlicht, wie die einer Katze. Sie sang leise vor sich hin.

Neshira bedeutete Ruk, zu bleiben, und schlich näher an die Hexe heran. Im Gehen tastete sie nach ihren Wurfmessern. Das Metall war kalt und rau unter ihren Fingern.

Im gleichen Moment, als die Hexe aufsah und ihre Katzenaugen sich weiteten, warf Neshira das Messer. Es bohrte sich zwischen ihre Augen. Mit einem Japsen brach sie zusammen. Neshira fing sie auf, bevor sie auf dem Boden aufkommen konnte, und legte sie auf das Bett. Hastig breitete sie ein Laken über die Leiche, eine weitere unter den hunderten. Nur war Eleuthera nicht verantwortlich für diese.

Sie winkte die beiden Männer zu sich und betrat die Dienstbotengänge. Eine steile Treppe führte hinab, und sie folgten ihr. Immer feuchter, immer kälter wurde die Luft. Ein Rauschen drang von unten herauf, und Neshira ahnte, dass sie tiefer im Untergrund waren als zuvor in dem Badehaus.

Goldenes Licht erhellte den Gang hinter der nächsten Ecke, und sie verlangsamten ihren Schritt. Bereits von weitem drang das Kichern und Geplapper der Hexen zu ihnen hinauf. Durag spannte sein Gewehr. Neshira zog das nächste Messer aus ihrem Gürtel und spähte in den Raum hinein, sorgsam darauf bedacht, dass die Hexen sie nicht sehen konnten.

Der Tote lag auf dem Boden, auf einem Tuch aus billigem, dünnen Leinen. Seine Decke von zuvor hatten sie achtlos in einen Wäschesack gestopft. Blut floss aus seinen Wundern und versickerte darin, zusammen mit schwarzer Schmiere und dunklem Eiter. Sein Gesicht war nicht zu erkennen unter seinen Entstellungen. Bündel aus Kerzen hingen an den Wänden, standen in den Ecken und tauchten alles in warmes Licht und tanzende Schatten. Ein Loch klaffte neben dem Toten im Boden. Rauschende Kälte stieg von ihm auf.

Mit gemessenen Bewegungen schlugen die Hexen die Leiche in die Tücher ein und banden sie zu. Beide trugen die Trachten von Krankenschwestern, schwarze Kleider mit gestärkten weißen Schürzen, Häubchen und Blusen. Ihre Kleidung war ein merkwürdiger Kontrast zu ihrer grauen Haut, durchzogen mit dunklen Adern, und den stechenden gelben Augen. Eine von ihnen war ein Mensch, mit hellem blonden Haar, die andere ein Tiefling, mit gedrehten Hörnern und leise auf den Steinfliesen klappernden Hufen. Doch auch ihre wohl einstmals rote Haut war verglüht unter der Macht der Seuchenvettel, der sie die Treue geschworen hatte.

„Noch zwölf, nicht wahr?"

„Ja. Danach können auch wir gehen. Zusehen, wie Eleuthera ihrem Geliebten ihr Herz schenkt." Die beiden kicherten wie kleine Mädchen.

„Aber wir sehen nicht nur zu!" Die Tieflingsfrau schlug der Blonden spielerisch auf die Schulter. „Wir helfen ihr. Wir leihen ihr unsere Kraft. Damit sie leben und herrschen kann." Ihre Stimme nahm einen träumerischen Klang an.

Neshira spürte ein Zupfen an ihrem Bein. Durag hielt sein Gewehr bereit und nickte auf den Raum zu. Sie schüttelte den Kopf.

„Schade nur, dass wir das Begräbnis nicht sehen können." Die Blonde schloss den letzten Knoten.

Die Tieflingsfrau zuckte mit den Schultern. „Du bist noch nicht lange hier. Es ist stets das Los der Jüngeren, die Drecksarbeit zu übernehmen." Sie nahm die Schultern des Toten. „Dabei versäumt man zuweilen auch die weniger wichtigen Dinge."

„Und wir sind noch immer nicht fertig. Dabei haben wir so früh angefangen! Die Uhr hatte noch nicht einmal die Stunde der Sonne geschlagen!" Die Blonde ergriff die Füße der Leiche.

Neshira schauderte. Nun war es lange nach Sonnenuntergang. Eleuthera musste mehr als die Hälfte ihres Sanatoriums abgeschlachtet haben, für das Ritual, in dem Durensky ihr Herz bekam. Doch warum konnte er es plötzlich für sie tragen? Ammaura Hespane hatte es damals dem Tänzer von Oren Mor in die Brust gelegt, obwohl Durensky sich bereit erklärt hatte, es zu nehmen. Sie hatte ein noch nicht unsterbliches Herz verlangt. Warum? Und warum konnte er es nun in sich aufnehmen?

„Das liegt daran, dass Antiopea uns nicht hilft", knurrte die Tieflingsfrau. „Sie bildet sich etwas auf sich ein, nur weil sie ein halbes Jahr länger hier ist als wir, und glaubt, sie kann nach zwei Stunden einfach ins Badehaus gehen, und uns mit diesem Dreck allein lassen. Wir alle müssen für Eleuthera arbeiten, aber das bedeutet nicht, dass wir weniger wert sind, nur weil wir jünger sind."

Gemeinsam warfen die Hexen die Leiche in das Loch. Das Klatschen des Körpers auf Wasser unterbrach für einen Augenblick das eintönige Rauschen. „Solange wir nur für Eleuthera arbeiten müssen. Für Master Lele werde ich keinen Finger rühren." Die Blonde richtete ihr Häubchen. „Natürlich, wenn Eleuthera es mir befiehlt, werde ich ihren Wünschen nachkommen. Aber wir gehören nur ihr. Und nicht ihm."

Die Gehörnte lachte hell. „Eleuthera hat gesagt, dass nur das Gewächshaus sein ist. Er hat kein Interesse an uns. Manchmal werden wir einige von ihnen", sie nickte auf das Loch, „zu ihm schicken, für eine neue Heilmethode."

„Pflanzliche Arzneien." Die Blonde kicherte albern, ein Geräusch, bei dem es Neshira schier den Magen umdrehte.

Die Tieflingsfrau stimmte ein. „An Tagen wie heute, wenn er ein Ritual mit Eleuthera gemeinsam begeht, dann sind wir ebenfalls alle dort. Doch sonst werden ihm Durenskys Vampirlinge zur Hand gehen." Sie nahm die Hände der Menschenfrau. „Wir sind Eleutheras Schwestern. Wir gehorchen ihr, und niemand wird sich zwischen sie und uns stellen. Sie achtet auf uns, so, wie..."

Neshira gab Durag ein Zeichen, und sie traten um die Ecke. Das Gewehr fauchte tief, das Wurfmesser schlug dumpf in die Schläfe des Tieflings ein. Ein münzgroßes Loch prangte auf der Stirn der Blonden. Noch ehe sie auf dem Boden aufkommen konnten, schritt Neshira vor und stieß sie in das Loch. Das Wasser verschlang sie gierig.

„Ich weiß nicht, warum ihr mich dabei habt", meinte Ruk trocken.

„Deine Stunde wird noch kommen. Das verspreche ich dir." Neshira wandte sich zu ihm und Durag um. „Das Gewächshaus. Schnell. Wir müssen verhindern, dass Eleuthera Durensky ihr Herz gibt."

Er würde einen Teil von Eleutheras Macht in sich tragen, so, wie der Tänzer es getan hatte. Seine Wolfsgestalt war erst mit der Zeit gekommen, hatte er ihr erzählt, als sie verletzt von seinen Zähnen im Tempel von Oren Mor gelegen hatte. Sie würde kaum gegen einen schier unbesiegbaren, wölfischen Durensky kämpfen müssen.

Lucians einzige Schwachstelle waren seine Herzen gewesen. Alles andere, jegliche Attacken, ob nun heiliger, magischer oder weltlicher Art, hatte ihn nicht mehr gestört als Mückenstiche, und der König mochte ihr beistehen, wenn ein alter Vampir, kaum verletzbar durch gewöhnliche Kraft, schnell und dafür berüchtigt, selbst Vetteln mit seinen Worten tanzen zu lassen, nun auch jene Kräfte in sich trug.

Sie eilten die Treppe hinauf, die Flure entlang, vorbei an leeren und von Leichen bewohnten Betten. Niemand begegnete ihnen. Ihre Schritte trommelten auf den Fliesen und hallten von den hohen Decken wider. Vier Vampirlinge standen vor der mit Glaseinsätzen und Schmiedeeisen verzierten Tür, doch sie fielen unter Durags Kugeln und Neshiras Messern, bevor sie einen Moment zum Schreien hatten. Neshira erahnte weitere Wachen am Ende der Brücke, die hinter der Treppe lag. Sie wollte die Tür aufwerfen, doch Durag hielt sie auf.

„Wenn ihr die Rauchwolke seht, greift ihr an. Beeilt euch. Der Wind wird den Rauch schnell zerstreuen." Er zog eine Granate aus eine Gürteltasche, schlüpfte durch einen Spalt in der Tür und huschte in die Schatten der ersten Statue. Im Spalier standen die Steinfiguren auf der Brücke und blickten reglos in die Nacht. Heilige und Herrscher, verwittert und verkommen, die ehemals glatte helle Steinhaut geschwärzt von Ruß und Regen.

Stunden schienen zu vergehen. Neshiras Herz gab einen eigenen schnellen Takt vor, wie das Ticken einer hektischen Uhr. Ruk ermahnte sie mit Blicken zur Ruhe.

Dunkle Wolken stoben vom Ende der Brücke auf, und sie waren Neshiras Erlösung. Sie stürmte durch die Tür, hetzte die Brücke entlang und rammte der ersten Wache den Speer in den Hals, brach dem nächsten mit einem Tritt den Rücken, ein letzter fiel mit einem Messer in der Stirn zu Boden. Durags Gewehr fauchte, und zwei weitere brachen zusammen. Ruks Axt blitzte im Mondlicht auf, seine Schläge so heftig, dass die Vampirlinge über die Steinmauer flogen, den Felsen unter der Brücke entgegen. Ein letzter heiserer Schrei verklang mit dem Wind. Weit unter ihnen glommen die Gaslaternen von Cinderport.

Das Schloss ergab sich bereitwillig Durags Diebeswerkzeugen, und sie traten ein in den Palast von Cinderport. Doch selbst das hohe, herrschaftliche Atrium war leer. Niemand lag auf den blauen Chaiselongues, stand auf den Galerien, die es ein Stockwerk weiter oben säumten, verbarg sich hinter den mit goldenen Kordeln zusammengehaltenen blauen Vorhängen. Teller mit Obst standen auf Tischen, die Traubendolden zur Hälfte leer, blanke Metallspieße, Reste von Sauce auf weißen Servietten, halb volle Weingläser, als hätten die Hexen noch vor wenigen Momenten dort gelegen. Bunte Laternen verströmten ein eigenartiges, gespenstisches Licht. Es erinnerte Neshira an die Canwy Roch, und allein bei dem Gedanken an Valentina und Miriaume, denen es gelungen war, Durenskys Rache zu entkommen, nur um von Attica getötet zu werden, stolperte ihr Herz.

Sie setzten ihren Weg fort, hinein in die Eingeweide des Palastes, durch hohe Flure, Salons und Säle. Doch es war, als hätten die glatten Steinfliesen, die dunklen Tapeten, die Kunstwerke auf ihren Sockeln, die die Gänge säumten, die Hexen und Vampire verschlungen. Einzig die gezeichneten Vorfahren Durenskys, kirchliche Würdenträger und schöne Frauen blickten hochmütig auf sie herab. Als wüssten sie etwas, das ich nicht weiß. Etwas, das uns das Leben kosten kann.

Ihr Plan war stets einfach gewesen. Durensky, Eleuthera und Ibo Lele finden und töten. Sindrak würde auf Neshiras Signal den Angriff mit der Ura beginnen, um die Hexen und die Vampirlinge abzulenken. Doch nun schien es nicht einmal jemanden zu geben, der sie aufhalten wollte. Vielleicht wissen sie, dass wir kommen. Vielleicht ist es eine Falle. Sie lassen uns einfach bis in die Tiefen der Burg eindringen und töten uns, wenn wir nicht mehr fliehen können. Doch woher sollte Eleuthera wissen, dass sie kamen?

Mehr und mehr Laternen standen in Winkeln, drückten sich in die Schatten von Kunstwerken und Topfpflanzen, so hoch und dicht, dass sie bereits neue Wurzeln in die Wände schlugen. Ibo Leles Macht war bereits hier spürbar, ein Hauch von schwerer Erde, von feuchtwarmer Luft und dem Gestank von verwesendem Fleisch und Holz. Je näher weiter sie gingen, desto mächtiger wurden die Pflanzen, bis gewöhnliche Zierpalmen, zu einem undurchdringlichen Dickicht verwachsen, den Gang versperrten. Irgendwo in der Ferne sangen Hexen, leise klagend wie ein Kirchenchor.

Sie folgten dem Lied und den Kerzen und den mächtig gewordenen Pflanzen zu einer weiteren, mit Schmiedeeisen verzierten Glastür. Eine Gestalt war verschwommen dahinter zu erkennen, kaum sichtbar gegen das dämmrige Licht in dem Gewächshaus.

Neshira nickte Ruk zu und riss die Tür auf. Der Arkane packte die Hexe und drehte ihr mit einer schnellen Bewegung den Hals um. Sorgfältig verbarg er sie hinter den Wedeln der Pflanzen, dann folgte er Neshira und Durag. Hinein in die grüne Hölle, die das Gewächshaus des Palastes geworden war.

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