25. Blut und Stahl
Soundtrack: Rupert Gregson-Williams - Brooklyn Bridge aus dem The Alienist OST (auf YouTube nicht zu finden - Schande über Youtube! Aber erinnert ihr euch noch an meine FANCY SPOTIFY PLAYLIST???? LINK IN BIO) und Klaus Badelt - One Last Shot aus dem Fluch der Karibik OST. Letzteres abspielen nach dem Kampf. Ihr braucht ihn. Es ist mir egal, dass euer Datenvolumen dabei drauf geht, hört es euch an und genießt die Feels.
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Ich stand im Zwielicht der Kerze und starrte den nietenbesetzten Stahl an. Meine Gedanken rasten. Durag war die Rettung, auf die ich gehofft hatte. Ich fragte mich, was er dafür verlangen würde. Vielleicht sagte er auch die Wahrheit, und in seinem Gerede über große Coups steckte tatsächlich der Wunsch, wieder wahre Freunde an seiner Seite zu haben. Stellte sich nur die Frage, ob ich einer davon gewesen war.
Bevor mich der Mut verließ, blies ich die Kerze aus und schlüpfte hinaus in den Gang. Das Stampfen der Maschinen war noch immer so laut, dass ich das leise Säuseln der Geisterbewegungen nicht hören konnte, das dünne Licht der Laterne war zu wenig, als dass ich ihre schattenhaften Umrisse erkennen würde, doch ich musste es versuchen.
Ich trat zu Onas Zelle. „Ona."
„Sin!" Sie sprang auf, ihre dunklen Augen glänzten durch den Schlitz in der Tür. „Wie hast du..."
Ich berührte die Finger, die sie mir entgegenstreckte und drückte meine Nase darauf. Sie rochen nach Angst. „Ich bin gleich zurück."
„Verdammt, Sin, was..."
Ich wandte mich um und schlich, so schnell ich konnte, davon. Den langen Gang, gesäumt von weiteren Zellentüren, entlang, bis ich an die Treppe gelangte. Das Licht einer weiteren Laterne schien zu mir hinab. Ich hörte die Stimmen von Rabenfedern, das Klirren von Gläsern, grobe Worte über Ona, bei denen sich mir das Herz verkrampfte. Meine Finger klammerten sich um den Griff des Dolches.
Ich ermahnte mich zur Geduld. Wenn ich Attica getötet hätte, könnte ich das Schwert des Caligár erneut an mich nehmen und sie alle umbringen, nur mit einem nachlässigen Gedanken. Doch dafür musste ich an den Rabenfedern und den Geistern, die ebenso möglicherweise dort waren, vorbei, vier Decks hinauf, ein Weg, bei dem jeder Fehler einen endlosen Fall und das Ende unter den Nebeln versprach. Allein bei dem Gedanken kribbelten meine Handflächen. Ich musste es tun. Wenn nicht, würde Ona sterben.
Vorsichtig schlich ich weiter voran, ohne jedes Geräusch. Das Hauchen eines Geists strich am Ende der Treppe vorbei, und ich drückte mich tiefer in die Schatten. Geister sahen nicht mit ihren Augen. Sie spürten Bewegungen in der Luft, rochen fließendes Blut, fühlten, dass ein denkendes, fühlendes Wesen sich in der Dunkelheit verbarg. Hoffentlich würden sie mir nicht hinaus folgen. Zwar verschwanden auch sie, wenn sie fielen, wenn sie die Nähe zu der Waffe verloren, an die sie gebunden waren, doch ich konnte sie nicht verletzen. Sie mich dagegen schon.
Ich schwang mich aus der Luke und drückte mich zwischen zwei gewaltige runde Geschütztürme. Ölige Zahnräder griffen ineinander, bildeten eine Konstruktion, mit denen man die tonnenschwere Kanone, der Lauf so dick wie mein Oberarm, drehen und neigen konnte. Nun zeigte es in die Flugrichtung des Schiffes. Kisten mit Munition lagen zu meinen Füßen. Zwischen dem beweglichen Teil des Turmes und der Bordwand, halbmeterdickem Stahl, war ein kleiner Streifen Dunkelheit, gerade genug, um dem Schützen Sicht auf das Ziel zu geben. Wenn man sie nicht, wie bei der Grazia, der Korvette Durenskys, die ich nach der Angelegenheit in der Waffenfabrik gestohlen hatte, auch von der Brücke aus abfeuern konnte.
Ich schielte über den Turm hinüber, dorthin, wo die Rabenfedern saßen, doch niemand würdigte mich eines Blickes. Auch erahnte ich nirgends die wie flimmernde Luft wirkenden Geister. Als ich das Schwert getragen hatte, hatte ich stets gewusst, wo sie waren. Nun fühlte ich mich schrecklich ausgeliefert.
So leise, wie es mir möglich war, schob ich den Dolch in den Gürtel und griff nach dem Kanonenrohr. Stück für Stück zog ich mich voran, bis der eisige Flugwind mir ins Gesicht peitschte. Das Rohr war so kalt, dass ich glaubte, meine Hände müssten daran festfrieren. Es roch nach Öl und Stahl und Rauch und Freiheit, und ich konnte mich einer unbändigen Vorfreude nicht erwehren. Bald wäre ich wieder der Herr über ein Luftschiff. Eines, das man fürchtete wie denjenigen, der es in Auftrag gegeben hatte. Meine Eingeweide tanzten, nicht nur, weil ich daran dachte, was mich erwartete, wenn meine Finger um den Lauf nachgaben.
Ich stemmte meine Pfoten an die Kante der Luke, zog mich an dem Rohr hoch und tastete nach etwas, woran ich mich festhalten konnte. Leichenkalter Stahl glitt unter meinen Fingern entlang, und für einen schrecklichen Moment lang fürchtete ich, dass ich nicht einmal einen winzigen Vorsprung finden konnte, doch dann ertastete ich ein armdickes Stahltau, mit schweren Klammern an der Wand befestigt. Über mir konnte ich die Umrisse des Ballons erkennen, erhellt von den Funken, die aus den Schloten stoben, umwölkt von Abgasen.
Der Wind trieb mir die Tränen in die Augen, doch ich wagte es nicht, eine Hand von dem Ballontau zu lösen. Ich drückte mich an den Stahl, wünschte mir still, es wäre Ona, und zog mich an dem Kabel empor, bis ich auf dem Lauf der Kanone balancierte. Mein Herz raste unter meinen Fingerkuppen. Irgendwo hinter dem Stahl pochten die Maschinen. Die Reling des Hauptdecks war ein schwarzer, gerader Streifen vor dem Glühen der Laternen, die dort oben brannten. Ich erkannte die drei Reihen Kanonen. Das Achterdeck, dort, wo die Kajüte des Captains lag, war eine halbe Schiffslänge entfernt.
Meine Arme schmerzten, nur weil ich daran dachte, dort entlangzuklettern. Schier meilenweit kam mir mein Weg an der Wand vor. Wenn mich meine Kraft verließ, würde ich fallen.
Doch darüber nachzudenken, würde es nicht bereits vollbracht machen. Ich fluchte leise in den Wind und tastete mich den Lauf der Kanone entlang, bis ich die Kante der nächsten Schießscharte spürte. Mit einer Hand fuhr ich erneut die Außenwand entlang, auf der Suche nach etwas, woran ich mich festhalten konnte. Nichts. Der Wind zerrte an meiner Kleidung wollte mich in die Tiefe reißen. Mir war, als wollten meine Eingeweide das Warten auf den Fall verkürzen und bereits ohne mich gehen.
Über mir erkannte ich die Kante der Geschützluken über mir, streckte mich und klammerte meine Finger daran. Langsam schob ich mich an dem Stahl entlang, angespannt von den Pfoten bis zu den Fingerspitzen. Die nächsten Kanten ertasten. Griff. Schritt. Die Kante entlang. Dann nach den nächsten suchen. Meine Finger wurden eisig kalt. Still hoffte ich, dass sie nicht so taub wurden, dass ich die nächsten Vorsprünge nicht ertasten konnte. Schweiß überzog meine Finger, und ich wischte sie an meinem durchnässten Hemd ab. Zentimeter für Zentimeter kam ich meinem Ziel näher, und doch war mir, als wäre ich kaum einen Fußbreit vorangekommen. Meine Arme schrien nach einem Moment zum Ausruhen.
Das nächste Tau war meine Rettung. Keuchend ließ ich mich auf dem Kanonenrohr nieder, hielt mich an dem Stahlkabel fest und ließ die Beine baumeln. Unter mir erstreckte sich das neblige Nichts. Müde lehnte ich mich gegen die Wand hinter mir und blickte an der Schiffsseite entlang. Weit in der Ferne endete es, und dorthin musste ich. Der Wind ließ mein Fell sträuben, und am liebsten wäre ich wieder hineingegangen, ins Warme, und hätte geschlafen, bis Attica mich doch noch holen kam. Doch ich konnte Ona nicht im Stich lassen. Ich musste Attica töten. Und dafür musste ich ihre Kajüte erreichen. Mühsam zog ich mich an dem Tau entlang hinauf, bis ich erneut die Kante der nächsten Scharte ertastete, und setzte meinen Weg fort.
Mir schien, als wäre ich seit Jahrhunderten hier draußen. Meine Welt schrumpfte zusammen auf scharfe Kanten, die glatten, runden Kanonenrohre, den abweisenden Stahl vor mir, den eisigen Wind, das Bodenlose unter mir und schmerzende Arme und Fingerkuppen. Doch Durag hatte recht gehabt. Niemand behelligte mich. Weder Geister noch Rabenfedern warfen einen prüfenden Blick hinaus und suchten nach die Bordwand entlang kletternden Karrs.
Ich erreichte das dritte Tau, das letzte, das über die Höhe des Schiffes lief und nicht erst direkt unterhalb der Reling befestigt war. Leicht schräg zum Heck hin schmiegte es sich an die Wand. Metall knirschte leise auf Metall. Ich griff danach, und im gleichen Moment rutschte der Lauf der Kanone unter meinen Füßen weg.
Stahl schrammte unter meinen Fingern entlang. Das Tau entglitt mir, und für einen grausigen Augenblick fiel ich, bis meine Hände gegen das Rohr prallten. Ich spürte, wie es unter meinen Fingerkuppen entlangfuhr, als wollte es mich abschütteln. Unter mir war nur endlose Dunkelheit. Mein Herz raste.
Ich sah hinauf, dort, wo das Tau befestigt war. Es war nicht weit. Ich musste mich nur an der Kanone emporziehen und es ergreifen. Meine Finger wurden immer nasser. Lange würde ich mich nicht mehr halten können.
Ich spannte meine Arme an und griff nach dem Tau, doch erneut spürte ich nur flüchtig gedrehten Draht unter meinen Fingerkuppen und danach nichts. Schnell hielt ich mich wieder an dem Rohr fest und versuchte es erneut.
Diesmal hatte ich Erfolg. Ich zog mich an dem Tau empor und setzte mich wie zuvor auf die Kanone. Ein Moment, um mein tobendes Herz zu beruhigen. Um meine Finger zu trocknen, ein unmögliches Unterfangen. Die Sterne sahen teilnahmslos auf mich herab. Beinahe war der Ausblick wunderschön, als gäbe es keine Inseln, nur den silbergespickten Himmel, und ich wünschte mir erneut Ona an meine Seite. Sie mochte die Sterne. Auf dem Weg zur Insel der Sumpfvettel hatten wir oft an Deck der Lamente gestanden und sie hatte mir die Sternbilder gezeigt. Die weinende Jungfrau. Das Schellenband, das selbst ich noch erkannte, eine Reihe heller Sterne in einer gewundenen Linie. Das Auge des Königs, das immerzu am selben Ort stand und den Luftfahrern und Seglern den Weg wies. Der Shinaru mit den dreizehn Schweifen. Manche hatte ich bereits gekannt, jene, die für die Navigation wichtig waren, doch alle anderen und ihre Geschichten dazu waren mir neu gewesen. Onas Stimme hatte an meiner Brust vibriert, als sie vor mir gestanden war, in den Himmel gezeigt und von Mythen und dem Glauben Jades erzählt hatte.
Der Gedanke an sie ließ die Schmerzen in meinen Armen verblassen. Ein kurzer Weg noch. Vier Decks hinauf. Dann hinein in Atticas Kajüte, sie töten, das Schwert des Caligár in meine Gewalt bringen, und dann war sie frei. Ich zog mich auf die Beine und kletterte dem Licht der Laternen entgegen.
Unterhalb der Kante hielt ich inne. Ich hörte Schritte, Gesprächsfetzen drangen an mein Ohr, doch sie entfernten sich. Aufmerksam blickte ich auf den schmalen Gang zwischen Reling und der Außenwand der Kajüte, doch kein Flimmern war zu sehen. Einzig die Flammen der Laternen und der Schein weiterer Kerzen aus den schmutzigen Fenstern erhellten die Holzplanken und ließen die Schatten tanzen.
Den Geist hörte ich, bevor ich ihn sah. Wenn ich nicht genau danach gelauscht hätte, hätte er mich an Ort und Stelle in der Luft zerrissen, doch das klagende Hauchen, kaum hörbar unter dem Rauschen des Windes, warnte mich. Schnell duckte ich mich in die Schatten der Bordwand und hielt die Luft an.
Das Jammern hielt inne. Die Aura des Geistes war kälter als der Stahl. Für einen Moment glaubte ich, er habe mich gefunden, doch dann zog er weiter. Soweit ich mich erinnern konnte, waren sie der Täuschungsmagie nicht mächtig. Er musste wirklich gegangen sein. Ein letztes Mal linste ich über die Kante, dann zog ich mich hinauf und schlich neben das Fenster. Es stand einen Spalt weit offen, geradezu eine Einladung, und ich ließ mich kein zweites Mal bitten. Lautlos glitt ich in die Kajüte und duckte mich hinter das Bett.
Attica saß auf einem Stuhl neben einem massiven Schreibtisch, die Füße in den schweren Stiefeln auf den Tisch gelegt, einen Revolver in den Händen. Glassplitter übersäten den Boden. Eine halb leere Flasche Rum stand, zusammen mit leeren und vollen und dem Schwert des Caligár, auf der Platte. Das Schwert mit den dunklen Intarsien lag unbeachtet auf dem Boden, neben meinem mit den zwei Klingen, zwischen meinem Handschuh mit dem noch immer glosenden grünen Splitter auf dem Handrücken, und dem Rest meiner Ausrüstung. Mein Hex lag, achtlos hingeworfen, in einer Ecke, die Gurte ein Knäuel aus Lederbändern. Meine Granaten fehlten, fiel mir auf, ebenso wie die Tränke und einige weitere Schwerter. Meine Rüstung war ebenfalls fort. Sicherlich hatte sie die Beute bereits an ihre Crew verteilt.
Attica nahm einen Schluck, knallte die Flasche wieder auf den Tisch und spannte den Revolver. Fahrig zielte sie, ihre Hand wedelte unbestimmt durch die Luft. Sie grinste, ihre schiefen Zähne glänzten im Kerzenlicht, dann drückte sie ab. Der Rückstoß schleuderte ihre Hand aufwärts. Sie kicherte betrunken.
Eisiger Hass kroch in mir auf. Ich zog meinen Dolch, nur um etwas in der Hand zu haben, an das ich mich klammern konnte. Um nicht ohne nachzudenken auf sie zuzustürmen. Ich schlich vor und verbarg mich hinter einer Kiste. Navigationsinstrumente ragten als Gewirr aus Kupfer und Holz daraus hervor.
Erneut spannte Attica den Revolver und schoss. Ein weiteres Loch öffnete sich in dem Gemälde eines streng dreinblickenden Generals, neben ebenso verunstalteten schönen Damen, Landschaftsmalereien und dem Wappen Durenskys. Die Frau im weißen Kleid, von deren Händen Blut rann, hatte kein Gesicht mehr. Attica wollte erneut abdrücken, doch nur ein Klicken erklang.
Sie stieß ein unwilliges Knurren aus und griff in eine Schachtel mit Kugeln darin. Einige fielen zu Boden, klirrend hüpften sie über das Parkett.
Ich sah meine Chance. Flink schnellte ich vor, den Dolch erhoben, im gleichen Moment, in dem sie sich zu mir umwandte. Ihre Augen weiteten sich überrascht. Wütend heulte sie auf, und ich rammte ihr den Dolch bis zum Heft in die Schulter. Sie fauchte voller Schmerz und griff nach dem Schwert des Caligár. „Du mieser Bastard!"
Ich hatte ihr Herz treffen wollen, doch ihre Bewegung hatte den Stich abgelenkt. Ich stürzte zur Seite, klaubte mein Schwert mit den zwei Klingen vom Boden auf und warf mich auf sie.
Eine Klinge schrammte an meiner Seite vorbei. Dann biss mein Schwert zu. Blut spritzte in mein Gesicht, mischte sich mit dem Getrockneten in meinem Hemd und hinterließ dunkle Flecken in meinem Fell. Attica hielt sich den Hals, dort, wo meine Waffe ihr ein Stück aus dem Hals gerissen hatten, groß wie eine Kanonenkugel. Ihr Knurren klang gurgelnd. Blut rann aus der Wunde und versickerte im Pelz meines Bruders. Noch immer roch es nach Freiheit und den Dämonen unter seiner mit Runen übersäten Haut.
Ich wand ihr das Schwert des Caligár aus der Hand und stieß ihr von unten in den Kopf. Attica erzitterte. Knochen knirschten gegen Stahl. Ich befreite die Waffe, und Attica fiel zu Boden, das Blut breitete sich um sie aus wie verschütteter Wein. Durch den Stahl hindurch spürte ich, wie hunderte Geister innehielten. Sie schienen auf etwas zu warten, und ich enttäuschte sie nicht.
Ich zog das Schwert durch die Wunde an meiner Seite, wo Atticas letzter Angriff mich getroffen hatte. Überdeutlich spürte ich meine Zähne an den Innenseiten meiner Lefzen, verzogen durch ein spöttisches Grinsen, gegen das ich mich nicht wehren konnte. Und es nicht wollte. Ich hatte gesiegt, und das Schwert, das Schiff, die Rache waren mein. Die Dämonen flüsterten an meinem Ohr. „Geister des Caligár", knurrte ich die Worte, die ich zum ersten Mal von einem Captain gehört hatte, verflucht durch eine Meeresgöttin, so lange her. „Hört mich und seid gebunden an meine Befehle."
Ich hörte das Aufheulen der Geister, leise, als wäre es in weiter Ferne, und doch spürte ich, wo sie waren. Überall verteilt auf dem Schiff gingen sie ihrem Handwerk nach, kontrollierten Waffen, schaufelten Kohle, fachten die Öfen an, standen an der Brücke und hielten das Schiff auf Kurs, unermüdlich, beinahe unsichtbar für die Augen der Rabenfedern. Ich fühlte das Schiff, wie ich die Bewegungen des Windes auf meinem Fell spürte, leicht wie eine Brise. Ich hatte es vermisst, ein Schiff in meiner Macht zu haben.
Doch etwas fehlte. Das Fauchen der Meeresgottheiten, die seit Jahrhunderten und einem knappen Jahrzehnt darin eingesperrt waren, war kaum mehr als ein Wispern, wie der Atem schlafender Bestien. Etwas in mir wollte sie erneut zum Leben erwecken, den Geruch von Salz und Sturm, von der Macht, Wind und Wellen nach meinem Willen zu formen, doch ich ahnte, warum sie verstummt waren. In einer Welt, in der die Ozeane verschwunden waren unter dämonischen Leibern, in denen das Meer unendlich weit fort war, hatten Rha'Ytun und seine dämonischen Töchter keine Kraft. Sie lebten von der Verzweiflung der Ertrinkenden, jener, die auf See verschwanden, doch nun wurde niemand mehr vom Meer verschlungen.
Zufrieden legte ich meine Ausrüstung an, die Rüstung, das Hex, die Waffengurte. Befestigte das Schwert mit den schwarzen Intarsien in seiner massiven Eisenscheide am Gürtel. Fügte die Schraubverschlüsse des Handschuhs an die Schläuche meiner Armschienen. Lud die Armbrust neu. Zog die Fliegerbrille fest. Mein Herz hüpfte, mein Puls ließ meine Adern vibrieren, ein unbestimmtes Gefühl von Freiheit breitete sich unter meiner Brust aus. All meine Erschöpfung war verschwunden. Ich hätte die Welt mit bloßen Händen bekämpfen können, wenn sie es darauf angelegt hätte.
Ich verließ beschwingten Schrittes die Kajüte, die schimmernden Umrisse der Geister beobachteten mich erwartungsvoll. Die Blicke der Crew zu ihrem Captain. Ich stolzierte über das Deck und gab meine Befehle. Der letzte war eindeutig. Tötet die Rabenfedern.
Sofort wirbelten die Geister herum, ihr gehauchtes Kreischen ließ mir aufs Neue das Blut in den Adern gefrieren. Erste Schreie gellten unter Deck hervor, die Rufe von Männern, die von unsichtbaren Klauen und Zähnen zerfetzt wurden, die wie von innen verbrannten, scheinbar körperlose Säbel und Äxte rissen tödliche Wunden. Gemächlich schlenderte ich auf die Treppe zu den Batteriedecks zu.
Ich sah keinen von ihnen sterben. Meine Pfoten hinterließen rote Abdrücke, als ich durch die Toten schritt, manche grausam zugerichtet, andere lagen scheinbar schlafend da. Doch ich würdigte sie keines Blickes. Immer schneller lief ich, bis ich die Treppen hinunter und die langen, kerzengeraden Kanonendecks entlang rannte. Beinahe rutschte ich auf dem Blut aus, strauchelte und hielt mich im letzten Moment an einem der Türme fest. Kurz sah ich mich um, ob es jemand mitbekommen hatte, doch nur die leblosen Augen der Toten beobachteten mich.
Ich nahm einem Mann einen Schlüsselbund ab und stürzte die letzte Treppe hinunter. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich ihn kaum ins das Schlüsselloch bekam, und ich dankte allen Unheiligen, dass ich nicht meine Diebeswerkzeuge benutzen musste. Dann gab das Schloss nach, und ich riss die Tür auf.
„Sin!" Mit einem einzigen Sprung durchquerte Ona die Zelle und warf sich mir in die Arme.
Ich drückte sie an mich und wollte sie nie wieder loslassen. Stand einfach nur da, drückte Ona so fest, dass sie kichernd protestierte, und atmete ihren Duft ein, nach Rauch und jadenischen Gewürzen, die durch Angst und Schweiß und Öl hindurch schimmerten.
Ona löste sich ein Stück weit von mir, um mir in die Augen zu sehen. Tränen der Erleichterung glitzerten in ihren, ihre Finger fuhren durch meine Mähne, und ich bemerkte, dass ich das Gefühl selbst in der kurzen Zeit, in der ich von ihr getrennt gewesen war, vermisst hatte. Es hatte sich angefühlt wie Jahre, die Anspannung in der Zelle, die Hitze der Maschinen um uns herum, doch nun waren wir frei. Niemand konnte sich uns in den Weg stellen.
Sie wischte mir etwas aus dem Gesicht und hob den Finger. Rote Schmiere klebte daran. „Deins?"
„Nein." Ich grinste, so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Ich hätte tanzen können. „Atticas. Sie ist tot, Ona. Sie wird dir nie wieder etwas tun."
Ona lächelte und drückte ihre Stirn gegen meine. Mein Herz flatterte, doch nicht vor Angst.
Jemand nahm mir den Schlüssel aus der Hand, und ich beobachtete, wie Durag mit einem spöttischen Grinsen auf den Lippen die Zellen der anderen beiden öffnete. Ruk taumelte, als sein letzter Schlag gegen die Tür ins Leere ging.
„Attica ist tot", eröffnete ich ihm zufrieden. „Das Schiff ist unter meinem Kommando."
„Dann kann uns nichts mehr passieren", sagte Durag zynisch und öffnete Neshiras Zelle.
„Hast du sie umgebracht?", wollte die Shinaru wissen und schritt hinaus in den Gang.
„Aye." Ich wollte nicht allzu selbstgefällig scheinen, doch verdammt, ich hatte es mir verdient. Ona verhakte ihre Finger in meinen.
Neshiras Mundwinkel zuckten. Sie betrachtete uns eingehend, dann klopfte sie mir auf die Schulter, einen goldenen Schein um die Finger. „Gut gemacht." Das Pochen an meiner Seite, dort, wo Attica mich erwischt hatte, verschwand. Elegant schritt sie an uns vorbei. Ruk ließ seine Hand auf meine Schulter krachen, so sehr, dass ich in die Knie ging, und folgte ihr.
Hand in Hand mit Ona trat ich an Deck, ließ Neshira, die sich argwöhnisch umsah, und Durag, der sie ebenso misstrauisch beobachtete, links liegen, und betrat erneut die Kajüte des Captains. Der Boden war sauber. Nur die Einschusslöcher in den Gemälden und der blutige Fellmantel, der über dem Stuhl hing, kündete von Atticas Herrschaft. Die Geister befolgten all meine Befehle, und wenn es die niedersten Arbeiten waren, wie das Blut von den Planken zu putzen.
Ona sah sich unbehaglich um. „Es war ihr Schiff. Sie hat hier gesessen." Ihre Stimme klang furchtsam, als könnte Attica aus den tanzenden Kerzenschatten wieder zum Leben erwachen.
„Jetzt ist es meins." Ich schlang meine Arme um sie. „Und deins. Sie wird dir nie wieder etwas antun."
Sie drückte ihre Schnauze auf meine Stirn, und ich genoss das Gefühl der Schwebe. Als gäbe es nichts anderes als sie und mich auf der Welt. Zum ersten Mal, seit ich meinen Bruder verloren hatte, hatte ich einen Grund, für etwas anderes zu kämpfen als Gold und Gin und mein eigenes Überleben. Ich würde Ona verteidigen, und wenn es das letzte war, was ich tat.
Ich löste mich von ihr und nahm den Mantel von der Lehne. Der Geruch von Rauch und Funken stieg mir in die Nase, von Sieg und Leichtsinn, und es war die Gegenwart und die Vergangenheit zugleich. Ich wusste, dass ich jemanden an meiner Seite hatte, dem ich vertrauen konnte. Sie konnte mich nicht so beschützen, wie Arcaul es vermocht hatte, doch sie hatte mich bereits gerettet. Nicht nur dadurch, dass ihre Kugel mich aus der Beherrschung der Sumpfvettel gerissen hatte.
Sie folgte mir aus der Kajüte, zur Reling am Heck. Die Sterne funkelten von der Schwärze auf uns herab. Unter uns fauchten die Triebwerke wie ein ständiger, schwerer Atem. „Das", ich klopfte auf das Fell, das ich über die Reling gehangen hatte, „hat meinem Bruder gehört." Meine Stimme war rau.
Ona riss die Augen auf. „Attica hat ihn getötet und..." Sie schlug die Hand vor den Mund. „Das ist widerwärtig."
Ich nickte stumm und genoss das Gefühl von Onas Fingern auf meinem Fell. Schließlich legte sie die Hand auf Arcauls Pelz. „Lebe wohl, Arcaul Herrera. Möge der König dich auf den rechten Weg führen. Möge er dich fort von der Banshee Verführung leiten." Im Sternenlicht klangen ihre Worte magisch.
Beinahe tat es weh, sich von dem runenübersäten Fell zu trennen. Doch es war nicht Arcaul. Es war mehr ein Teil von Attica gewesen, eine widerliche Demonstration ihrer Macht. Arcaul war dämonische Energie, Klingen aus Schatten, brennende Schwerter. Kein zerlumptes Fell auf einem Mantel. Ich stieß es über die Reling, und sah zu, wie die Dunkelheit es verschlang.
„Er wäre stolz auf dich, wenn er dich jetzt sehen könnte", sagte Ona nach einem Moment, den Kopf auf meine Schulter gelegt, und ihre Worte vertrieben die letzten Schatten von dem Schiff. Es war meins. Die Welt war mein. Meine und Onas.
Neshira empfing uns mit dem gleichen undurchsichtigen Halblächeln, das sie bereits zur Schau getragen hatte, als Durag ihre Zelle geöffnet hatte. Die Geister schienen sie zu meiden, und sie beäugte die flimmernden Gestalten wachsam. „Dann Kurs auf Cinderport", sagte sie. „Wir haben eine Vettel zu töten." Ihre acht Schweife wehten in der Brise.
Beinahe hätte ich es vergessen. Wieder würden wir uns einer Hexe stellen, und diese würde schlimmer werden als alle zuvor. Ona drückte meine Hand, und ich lächelte ihr zu.
Ruk trat aus der Treppe zu den Kanonendecks, die Hände voller Waffen, und warf Neshira einen Speer zu. Sie fing ihn aus der Luft. Theatralisch ließ sie ihn zur Seite wirbeln und nickte Ruk zu. „Gehen wir Vetteln töten?"
Der Arkane wog seine doppelköpfige Axt in der Hand. „Aye. Worauf warten wir noch?"
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Ein Requiem für Attica.
Wir alle haben sie gehasst. Sogar ich. Wenn auch nicht immer. Denn am Anfang habe ich sie einfach geliebt, wenn nicht sogar für ihre Fehler. Stets war sie mein Pol voller Witz und unnötiger und doch spaßig zu schreibender und beobachtender Grausamkeit. Der Überfall auf die Karawane der Roch, ihr Geplänkel mit Ibo Lele, Norren und Eleuthera - wahrlich furchtlos war sie! -, ihre Übernahme der Ura mit dem Schwert des Caligár, ach, sogar den Tänzer von Oren Mor habe ich ihr beinahe verziehen.
Aber in dem Moment, in dem sie im Sumpf der Vettel auf den Plan trat und Sindrak folterte, das war der Punkt, wo sogar ich dachte: holy shit, die Frau ist heftig. Wow. Das ist... nein, das kann sie doch nicht machen.
Und dann hat sie es getan. Dann auch noch die Canwy Roch dazu. Das hat auch mir mein kleines kaltes Herz gebrochen.
Ruhe in Frieden, du alte, hässliche, schuppige Trash-Nutte. Hoffentlich streitest du dich in der Anderwelt auf ewig mit deinem stinkenden Wichser von einem Bruder.
P.S.: auf nach Cinderport! Das wird. So unnormal heftig. Viel Spaß.
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