22. Endgültig tot

Soundtrack: Daniel Pemberton - The Ballad of Londinium aus dem King Arthur OST

~

„Sin!", schrie Ona und wollte zu ihm laufen, doch Neshira hielt sie eisern fest, bis das Flackern der Waffen verstummte. Sie würde nicht zulassen, dass sie ihre Schwester an etwas so Lächerliches wie Kugeln verlor, nicht, nachdem sie sie endlich wiedergefunden hatte.

Schließlich schwiegen die Gewehre. Die Flammen schlugen hoch in die Nacht, verschlangen das Schilf wie die Glut der Sonne in der Zwischenwelt.

Neshira ließ Ona los und entfesselte ihre heilende Magie erneut. Das Weiße von Anghiskes Knochen verschwand unter seinem schlickigen schwarzen Fell, des Karrs Wunden schlossen sich unter Onas hektischen Fingern. „Wir müssen verschwinden." Der Wind fachte die Flammen an, trieb sie von ihnen fort, doch Gnade ihnen der König, wenn er drehte.

Ona beachtete sie nicht. „Sin! Sin, geht es dir gut?", fragte sie, immer wieder. Ihre Hände schlossen sich ängstlich um seine Handgelenke. „Sin!"

Heftig stemmte er sich auf die Beine. „Mir geht es gut", sagte er rau, ohne sie anzusehen. Sein Blick schweifte dorthin, wo die Bewaffneten verschwunden waren. Neshira meinte, noch immer das Bellen der Gewehre zu hören. „Wir müssen sie finden. Ich muss sie töten. Sie muss bezahlen, für das, was sie mir angetan hat."

Ona stutzte, erschrocken von der Härte in seiner Stimme, und tastete nach seiner Hand. Er erwiderte den Griff nicht. „Wir müssen sie finden. Wir werden sie finden. Aber du kannst jetzt nicht. Du bist verletzt."

Er taumelte einen Schritt von ihr weg. „Mir geht es gut." Er ließ eines seiner Schwerter in der Hand wirbeln, doch es entglitt ihm beinahe. „Ich muss sie töten."

Schmerz flammte in ihren Augen auf, doch sie trat erneut zu ihm. Vorsichtig hob sie eine Hand und legte sie ihm an die Wange. „Sin." Er schnappte nach Luft, zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. Sie schlang ihren Arm um ihn, das Blut an seiner Rüstung verschmutzte ihre ohnehin schlammverschmierte Kleidung. „Sin. Was hat sie getan?"

Er schluckte heftig, schien mit sich zu ringen. „Sie hat...", begann er, doch seine Stimme versagte. Seine Hände umklammerten das Schwert, als wäre es das einzige, was ihn noch am Leben erhielt.

Ona nahm die Waffe am Knauf. „Gib mir das."

Kurz widerstand er, dann löste er seinen Griff. Ona ließ das Schwert in den Dreck fallen. Erneut blickte er in die Dunkelheit, als könnte er Attica allein mit seinem Zorn aufhalten.

„Sin. Schau mich an." Ona strich über sein Gesicht. „Was hat sie getan?"

Er schloss die Augen, als wollte er die Tränen aufhalten, doch selbst Neshira, mehrere Schritte entfernt, sah sie im Schein des Feuers. Er schwankte, dann fiel er auf die Knie. Ona hielt ihn fest, presste seinen Kopf an ihren Bauch, strich über seine Mähne. Seine Schultern erbebten, sein Schluchzen ließ Neshira schaudern. „Sie hat alles getan. Mein Schiff vom Himmel geschossen. Mir all meine Erinnerungen genommen. Sie hat dir wehgetan, Ona. Und sie hat..." Er tastete nach Onas Hand. „Sie hat meinen Bruder getötet."

Ona schwieg. Ihre Hände fuhren über die fettigen schwarzen Strähnen des Karrs. „Sie wird bezahlen", raunte sie in die knisternde Nacht, wie ein Gebet. „Sie wird nicht davonkommen."

Neshira wandte den Blick ab. Allein die Vorstellung, jemand hätte Ona getötet, und sie wäre kaum in der Lage, sich auf den eigenen Beinen zu halten, die Rache so nahe und doch verwehrt vom eigenen Körper, biss in ihrem Herzen. Sie verstand den Karr. Still wünschte sie sich, auch sie hätte jemanden gehabt, an den sie sich lehnen konnte, nachdem Ana gestorben war. Nachdem sie das leere Oren Mor gefunden hatte. Noch ein Tod, für den Attica verantwortlich war.

Ruk prüfte die Schärfe seiner Axt. „Wir lassen dieses Drachenblut nicht einfach davonkommen, oder?"

„Niemals. Sie hat so viel auf dem Gewissen." Neshira beobachtete besorgt die Flammen. Selbst von weitem spürte sie die Hitze auf ihrem Fell. Funken stoben in den Himmel, als verbarg sich die Banshee in der Dunkelheit. „Sie hat Ona so schreckliche Dinge angetan. Seinen Bruder getötet. Sie hat den Tänzer von Oren Mor umgebracht."

Ona sah auf. „Sie hat den Tänzer getötet?" Sie hielt noch immer den weinenden Karr im Arm. Er hatte sein Gesicht hinter seiner Hand verborgen, als schäme er sich für seine Tränen.

Neshira stutzte. „Du kennst ihn?"

„Ja. Sin hat mir geholfen, aus Atticas Bordell zu entkommen, und hat mich zu den Canwy Roch gebracht. Zu Valentina Alderberry."

Die Frau, die die Banshee beschworen hatte. Deren Dorf sie vor Eleutheras verfluchtem Mann gerettet hatte, der um ein Haar ihr ganzes Lager ausgelöscht hatte. Es war, als wäre es Jahrhunderte her, dass Neshira die Canwy Roch getroffen hatte. Vor vier toten Hexen. „Ihr habt den Wegfinder benutzt, den ich ihr gegeben habe."

„Genau. Er hat uns nach Oren Mor gebracht. Und dort hat Attica uns eingeholt." Ona sah in die Finsternis, wo das Drachenblut verschwunden war. „Ich kann mir nicht erklären, wie sie uns verfolgen konnte."

„Ich schon." Die Stimme des Karrs war rau. Heftig wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und erhob sich. Ona beobachtete besorgt jede seiner Bewegungen. „Sie hatte einen Wegfinder. In Onas Gestalt." Nachlässig wies er auf ein paar Glassplitter im Matsch.

Neshira hob die Überreste des Artefakts auf. Zwischen Kupfer, Glas und rötlichem Segeltuch schimmerte Fuchsfell. „Ein mächtiger Zauber. Eine Vettel hat ihn geschaffen. Ibo Lele."

„Der ist tot." Ruk grinste zufrieden und zeigte die ganze Pracht seiner scharfen Zähne. „Ich, Sindrak und Tanqueray haben ihn erledigt."

Neshira erwiderte sein Lächeln und schlug ihm auf die Schulter. „Wir hören wohl nie auf, Hexenjäger zu sein, oder?" Dann war Lasaint das blinzelnde Auge gewesen. Oder Eleuthera. Doch Neshira konnte sich nicht vorstellen, warum Eleuthera nicht gänzlich am Leben sein konnte. Bei Lasaint wusste sie es, und es war der Grund, warum sie nicht sofort dem Drachenblut nachjagen würde, so sehr sie es wollte.

„Nicht, solange es Hexen gibt." Ruk wies mit seiner Axt auf den Rand des platt getrampelten Schilfs. Ein Schwert lag im Dreck, schwarze Intarsien auf der Klinge. „Was ist damit?"

Neshira trat näher. Seine Aura schien jegliche Macht aus ihr ziehen zu wollen. Dunkle Schwaden schlichen um die Klinge. Vorsichtig berührte sie es und wisperte einen Erkenntniszauber. Die Intarsien glühten auf, der Schimmer des Zaubers um ihre Finger erlosch. Es erinnerte sie an Anathères Amulett. „Eine mächtige Waffe. Sie verschlingt Magie." Schaudernd wischte sie sich die Finger an den Hosen ab. Langsam begriff sie, wie das Drachenblut den Tänzer besiegen hatte besiegen können.

„Ich kenne es. Es ist eine von Atticas Lieblingswaffen." Ona ließ Sindrak nicht los.
Sindrak fletschte die Zähne. „Ich verstehe, wie sie Arcaul..." Er unterbrach sich. „Wir müssen sie einholen."

„Sin, du bist halb tot. Das Serum ist leer", widersprach Ona ängstlich. „Sie hat zwar dieses Schwert nicht mehr, aber glaube nicht, dass es ihre einzige Waffe ist. Du bist mein starker Sin, aber um Attica zu töten..."

„Ich bin immer stark genug, um dieses Miststück zu töten", knurrte er. „Ich werde sie finden und sie in Stücke reißen, für alles, was sie uns allen angetan hat, und wenn es das letzte ist, was ich tue. Ich muss sie finden, bevor sie wieder entkommt. Du hast selbst gesagt, Attica ist erst dann tot, wenn man ihren Kopf getrennt von ihrem Körper findet. Und ich will selbst sicher gehen, dass sie nicht davonkommt."

Er würde nicht von seiner Jagd ablassen, dessen war Neshira sich sicher. Sie kannte den Stahl in seiner Stimme. Zu Tode entschlossen. „Wir teilen uns auf. Ruk, du gehst mit Sindrak und verfolgt gemeinsam Attica. Nehmt das Schwert mit. Tötet sie. Ona, du kommst mit mir." Ein wenig ärgerte sie sich, dass sie Attica nicht persönlich töten konnte, doch sie gönnte Sindrak ihren Tod.

Ona umklammerte den Karr fester. „Wohin?"

Zerstören, was alle Hexenjäger begehrten. Bevor Eleuthera kam und ihre treue Dienerin wieder zum Leben erweckte. „Eine Hexe wahrlich töten. Sodass sie nie wieder aufsteht." Sie schwang sich auf Anghiskes Rücken, der Wassergeist schlug unwillig mit dem Schweif.

Ona sah zu Sindrak auf. Ihre Schnauze berührte seine, und ein kleines Lächeln huschte über seine Mundwinkel. Sie erwiderte es. Ein letztes Mal legte sie ihre Stirn an seine, dann löste sie sich von ihm. „Pass gut auf ihn auf, sonst bekommst du es mit mir zu tun!", drohte sie Ruk. Trotz der spielerischen Worte kippte ihre Stimme.

„Dann pass du gut auf Neshira auf." Der Tarnaruc grinste und gesellte sich zu Sindrak.

Neshiras Blick traf den des Karrs. Herausfordernd sah er zu ihr auf, als wollte er sie ebenfalls umbringen, wenn sie Ona in Gefahr brachte, doch das leichte Taumeln, als er sein Schwert aufhob, machte die gespielte Stärke zunichte. Sie lächelte schmal und zog Ona vor sich auf Anghiskes Rücken.

Anghiske stürmte voran, ließ den Karr, den Tarnaruc und die Flammen hinter sich. Neshira trieb ihn auf die bucklige Hütte zu, die sich, kaum erkennbar in der Dunkelheit, in die Schatten des Schilfes duckte. Kreuze, gekrönt von Geweihen, ragten aus dem Meer aus flüsternden Halmen. Sie würde Sindrak und Ruk wiederfinden, dessen war sie sich sicher. Anghiske würde in einem Sumpf nie jemanden verlieren. Das Feuer ließ die Schatten tanzen.

Vor ihnen lichtete sich das Schilf zu einem kleinen See, und Neshira parierte den Dämon durch, seine Schritte klatschten im Wasser. Die Hütte stand auf der Insel in der Mitte, gesäumt von den hohen Gräsern. Tote Vögel hingen darin, mehr und mehr, Finger, Ohren, Zehen, Zähne. Das Rascheln mischte sich mit dem Klappern von Knochenketten. Der Geruch nach Verwesung wurde immer stärker, als wollte der Sumpf sie mit Anghiskes Fell ersticken. Neshira spürte Onas rasenden Herzschlag an ihrer Brust, ihre Finger umklammerten die schwarze Mähne.

Sie passierten die Kreuze, die Aura der Hexe wurde schier unerträglich. Kopflose Kinderleichen, die Haut durchkreuzt von Runen, hingen an den Kreuzen, behängt mit Ketten mit abgeschnittenen Ohren, Hirschschädel statt den Köpfen. Ona würgte. Windspiele aus Vogelschädeln regten sich im Wind. Der Gestank ließ Neshiras Magen rumoren. Sie hatte geglaubt, die Vision der Zwischenwelt wäre grausam gewesen, doch die Wirklichkeit war schlimmer. Still fragte sie sich, was sie in Cinderport erwartete. Totems mit gekreuzigten Seuchenkranken. Altäre aus Schädeln, gekrönt von Totenkerzen. Blutige Runen an den Wänden.

„Was tun wir hier?", fragte Ona dumpf, die Hand vor dem Mund.

Neshira rutschte von Anghiskes Rücken, ihre Schwester folgte ihr. „Wie ich sagte. Eine Hexe töten." Ein Lichtzauber ließ die Spitze ihres Speers aufleuchten wie den Mond.

Ona schnappte nach Luft. „Hier ist noch eine Hexe?"

Die Hütte war klein, ein reetgedecktes Dach, Wände aus Holz und Lehm. Traumfänger aus Knochen hingen an den Giebeln, der halb verweste Kopf eines Wolfes hing über der Tür. Seine Ohren fehlten. Blut hatte sich auf der Türschwelle gesammelt, rote Fußspuren führten in alle Richtungen.

Aufmerksam trat Neshira voran, den Speer bereit. „Nein. Jede Hexe hat ein Herz. Ein rituell entferntes Körperteil, in dem ihre Macht sitzt. Ein Finger. Ein Zeh. Bei manchen eine Hand. Je größer das Teil, desto größer die Macht." Anathères Zeh kam ihr in den Sinn. Der Tänzer, der Eleutheras Herz bewacht hatte. Plötzlich fragte sie sich, ob es Attica gelungen war, das Herz zu zerstören. Ob sie es noch hatte. Wo es war, falls nicht. „Erst, wenn man es vernichtet hat, ist die Vettel wirklich tot und kann nicht wieder von dem Zirkel zum Leben erweckt werden."

„Schellen des Königs", fluchte Ona. „Neshira."

Neshira sah sich zu ihr um.

„Wir haben Ibo Leles Herz nicht zerstört."

„Was? Aber..."

„Tanqueray hat ihm ein Messer in die Brust gestoßen. Aber..." Sie schlug die Hände vors Gesicht und blickte Neshira durch die Finger hindurch an. „Ihm fehlte ein Finger. Niemand hat nach ihm gesucht."

Neshiras Herz wollte auf den Grund des Sumpfes sinken. „Aber Ruk..."

„Ruk war schwer verletzt. Er dachte wohl, dass Tanqueray weiß, was es mit den Vettelherzen auf sich hat. Oder Miriaume, die noch zurückgegangen ist, um einen Wegfinder für diesen Ort hier zu finden." Ona ließ die Hände sinken. „Wenn es stimmt, was du sagst, lebt er noch."

Untote, so viele wie Baumstämme im Dschungel. Dämonen, getötet und wiedererweckt durch Ranken und Blutmagie. Sie hatte bereits versucht, gegen ihn zu kämpfen, und sie hätte beinahe mit dem Leben bezahlt. „Dann müssen wir zu seinem Habitat und hoffen, dass Eleutheras Hexen nicht schon dort waren."

„Seinen Wald hat Tanqueray niederbrennen lassen. Hat Miriaume all ihre Brandmunition gekostet."

Dann hatte Eleuthera das Herz nach Cinderport bringen lassen, um ihn in Sicherheit wieder zu den Lebenden zu rufen, dessen war sie sich sicher. Eine Vettel ohne Habitat war leicht zu töten und schwer zu retten, doch Eleuthera würde es gelingen. Neshira hatte ihren Zirkel beinahe ausgelöscht. Die Herrin des Zirkels war verzweifelt genug, um ihren letzten lebenden Bruder zu retten, und wenn es tausende Leben im Sanatorium von Cinderport kostete. Neshira würde gegen Eleuthera und Ibo vereint kämpfen müssen, zusammen mit Misha Durensky, all ihren Jüngerinnen und den Vampirlingen des Fürsten. Sie fluchte gedämpft. „Hoffentlich töten Sindrak und Ruk Attica. Wenn Eleuthera Ibo wiedererweckt, darf ich nicht warten, bis er wieder zu Kräften gekommen ist. Ich habe keine Zeit, um Drachenblute zu jagen", knurrte sie.

„Es tut mir leid", sagte Ona zerknirscht.

„Du konntest es nicht besser wissen", seufzte Neshira und trat voran, auf die Hütte zu. Das Licht ihres Speers hüpfte bei jedem ihrer Schritte.

Sie stieß die Tür auf, und der Gestank von Leichen stob ihr entgegen. Dennoch betrat sie tapfer die Hütte. Ona folgte ihr, ohne zu zögern. Sie hatte Mut bekommen, stellte Neshira zufrieden fest. Doch der Preis dafür war sicherlich hoch gewesen.

Kräuterbüschel hingen von der niedrigen Decke und streiften ihre Schultern. Lederbänder mit Ohren durchkreuzten den kleinen Raum wie die roten Schnüre des König Schellen den Tempel auf Anathères Wolkeninsel. Fliegen summten über Leichenteilen auf dem grob geschreinerten Holztisch.

Neshira begann, die Schubladen des Wandschrankes zu durchsuchen. Dunkle Schmiere blieb an ihren Fingern kleben. „Also, Ona. Du und der Karr?"

Ona warf ihr einen zweifelnden Blick zu, wie sie über derartige Dinge in einem stinkenden, verfluchten Hexenhaus sprechen konnte. „Was soll mit uns sein?", fragte sie bemüht beiläufig.

„Ihr habt was miteinander." Sie zog eine Schublade auf. Augen blickten ihr entgegen, eins blinzelte, und sie schloss sie hastig wieder.

„Schellen und Laternen, darauf kommst du jetzt?"

„Ich bin deine große Schwester. Ich sorge mich um dich." Neshira öffnete die nächste Schublade. Wolfskrallen. Die nächste enthielt Vogelherzen. „Wer ist dieser Karr überhaupt?"

Ona verdrehte die Augen. „Er ist Schatzjäger. Ich habe ihn beauftragt, dass er mich aus Atticas Bordell holt. Er hat mich Valentina vorgestellt, mich zum Tänzer von Oren Mor gebracht und hat geholfen, Ibo Lele zu besiegen." Sie hob das Amulett mit dem jadenen Bildnis des König Schellen. „Er hat mir einen Teil meiner Bezahlung auch zurückgegeben."

„Ein Schatzjäger, der nicht gänzlich gierig ist." Neshira nickte anerkennend. „Das ist ungewöhnlich."

„Ich habe ihm damals noch mehr angeboten, aber das wollte er nicht. Damals zumindest nicht. Vermutlich besser, denn damals wollte ich es ihm auch nur anbieten, weil ich sonst fast nichts anderes hatte."

Neshira wandte sich zu ihr um, eine weitere Schublade noch in den Händen. Kleine Blättchen, verkrustet mit Blut. Vermutlich Fingernägel. „Er hat auf Geld verzichtet, um dir zu helfen? Er sieht nicht so ehrenhaft aus, wie er offensichtlich ist."

„Kein Geld."

„Was dann?"

Ona verdrehte die Augen und kicherte. „Neshira. Ich war eine Hure. Und er schien, als wäre er..."

Neshira ließ die Schublade fallen. Fingernägel flogen in alle Richtungen. „Ona!"

„Er hat es ja nicht angenommen." Sie grinste verschlagen. „Damals noch nicht."

„Ona!"

Sie kicherte noch mehr. „Wir waren sehr betrunken. Es ist... passiert."

„König und Banshee." Neshira widmete sich wieder dem Schrank. „Wir haben uns wirklich lange nicht gesehen."

„Ich wünschte, ich hätte es ihm auch nicht anbieten können. Dass ich dich einfach gefunden hätte, nachdem die Welt untergegangen ist." Ona seufzte. „Aber ich kann die Vergangenheit nicht ändern."

Neshira hielt inne und dachte an eine Frau in edler Reisekleidung mit einem Halsband mit einem Rubin daran. An steinerne Haut und das Lachen einer Göttin. „Das können wir nie."

„Aber dafür die Zukunft. Und... ich mag Sindrak." Ihr Lächeln färbte ihre Stimme.

„Sehr sogar."

Neshira verzog das Gesicht und öffnete die nächste Schublade. „Meine Schwester und ein dahergelaufener Schatzjäger. Noch nicht mal ein Karr der Ebenen, wie Markiri es war, sondern eine Gossenratte. Vater wäre nicht begeistert."

Ona seufzte. „Nein, das wäre er nicht", sagte sie, zugleich traurig und amüsiert.

„Dann hoffe ich für ihn, dass er dich ebenso gerne hat wie du ihn." Neshira grinste diabolisch und rammte die Schublade mit den Geweihscheiben wieder in die Öffnung zurück. Die Flaschen auf dem Schrank klirrten. „Wenn er dir das Herz bricht, breche ich ihm jeden einzelnen Knochen in seinem Körper. Nur um ihn zu heilen und dann wieder von vorn anzufangen."

„Wenn er mir das Herz bricht, bin ich vermutlich einverstanden damit", erwiderte Ona trocken.

Die letzte Schublade enthielt Ohren. Der Griff schien in Neshiras Fingern zu zucken, und sie goss den Inhalt auf den Tisch. Zwei der Ohren waren aneinander genäht, schwarz und verschrumpelt. Die Aura tastete nach ihrem Herzen.
Sie warf es zu Boden und fuhr mit den Fingern die Spitze ihres Speers nach. Goldener Schein mischte sich mit dem kalten Licht des Zaubers, ein Funken der Wärme in der Leichenkälte des Hexenhauses.

Der Speer fuhr nieder. Ein Hauch eines Kicherns drang an Neshiras Ohren, ein Versprechen von Fluch und der Kühle von Sumpfwasser unter ihrer Haut, und sie schauderte. Kräuterbüschel und Ohrenketten regten sich im plötzlichen Windzug.

„Jetzt ist sie tot", stellte Ona fest.

„Sie wird nie wiederkehren", bestätigte Neshira.

Das Flüstern an ihrem Ohr ließ sie zusammenfahren. Ein einfacher Nachrichtenzauber, und Neshira lauschte den Worten der Canwy Roch, die die Brise an ihr Ohr trug, von stählernem Tod und einer Bedrohung, der selbst sie mit all ihrer Magie kaum gewachsen war.

Valentinas Stimme verklang. Sie wandte sich auf dem Absatz um. „Komm, Ona", befahl sie, ohne die Angst aus ihrer Stimme bannen zu können. Sie vermochte es, Dämonen zu besiegen, Hexen und böse Geister, doch gegen Gegenstände ohne Seele hatte sie noch nie gefochten.

Ona folgte ihr aus der Hütte. Die Kälte stieg mit dem Nebel vom nassen Boden auf. „Was ist passiert?"

„Ich habe eine Nachricht von Valentina bekommen. Wir müssen von hier fliehen. So schnell wie möglich." Sie schwang sich auf Anghiske. „Weißt du, wo Valentinas Schiff liegt?"

„Ja." Ona riss die Augen auf. „Ist Sindrak in Gefahr?"

Neshira half ihr auf Anghiskes Rücken. Der Nebel schlich um sie wie die Seele der Vettel. „Wir alle sind in Gefahr."

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