19. Die Steinvettel

Soundtrack: Marcin Przybylowicz - The Beast of Beauclair aus dem The Witcher 3: Blood and Wine OST. Abspielen, wenn der Kampf beginnt.

und Danheim - Floki's Last Journey. Abspielen nach dem Kampf. Wenn die Göttin fort ist.

https://youtu.be/I5MEWSR0Rxo

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Für einen Moment glaubte Neshira, dass sie immer noch träumte. Überreste von Statuen übersäten den Boden vor dem Tempel. Ein ganzer Drachenkopf lag neben den Trümmern weiterer Statuen. Der zweite Drache stand neben dem Tor, als wäre nie etwas geschehen, ebenso wie vier der Hunde. Einem fehlte ein Bein, einem anderen ein großes Stück aus seiner Flanke.

Neshira überquerte hastig den Platz, noch immer benommen. Das Gras um die Gräber wiegte sich im Wind, und sie fürchtete, es könnte ebenso Berge von Leichen enthüllen wie zuvor in ihrer Vision. Die Fuchsstatuen schienen sie zu beobachten, doch nichts rührte sich, weder die Füchse, noch die mächtigen Hunde. Es war, als läge der Tempel seit Jahrhunderten verlassen da, die Statuen nur zerfressen von der Zeit. Die Glöckchen um ihre Knöchel klirrten bei jedem Schritt.

Ihre Gedanken wollten rasen, doch der Sumpf des Traumkrauts hielt sie fest. Sie war kaum imstande, daran zu denken, wohin sie ging. Ana. Sie musste sie finden. Markiri, zerfressen von der Seuche, tauchte aus dem Moor in ihrem Kopf auf und versank, Ona umklammerte das Medaillon, das Neshira ihr geschenkt hatte, Ruk verschwand unter den Flügeln der Banshee. Sie schüttelte die Bilder ab und setzte ihren Weg fort, über die Brücke, den Pfad hinab.

Sie brauchte nicht lange, um Ana zu finden. Sie saß am Rand der Schlucht und nähte ihr Hemd. Als Neshira näher kam, sah sie auf. „Neshira!" Sie erhob sich und trat auf sie zu. „Geht es dir gut?"

„Ja", wehrte sie ab.

Ehe Neshira etwas tun konnte, schloss Ana sie in die Arme. Tief atmete sie aus, und spürte, wie die Angst, die sie seit der Vision mit sich getragen hatte, von ihr wich. Erneut krochen die Tränen in ihr auf, und sie konnte nicht verhindern, dass sie Anas Schulter benetzten. Erschöpft ließ sie sich von Ana festhalten.
Ana strich ihr ein wenig irritiert über den Kopf. „Alles wird wieder gut."

„Das hoffe ich", murmelte Neshira rau und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Was ist geschehen im Tempel?", fragte Ana behutsam.

Neshira löste sich von ihr, doch Ana hielt ihre Hände noch immer an ihren Oberarmen. Es gab ihr das Gefühl, am Leben zu sein. In Sicherheit. Sie wollte nicht, dass sie sie losließ. „Ich habe gesehen, was geschieht, wenn ich weiterhin der Banshee folge. Was geschieht, wenn ich die Hexen nicht besiegen kann, oder es auf dem falschen Weg tue", sagte sie tonlos.

Ana senkte betroffen den Blick. „Was wirst du nun tun?"

„Das weiß ich noch nicht." Neshira ließ sich neben ihr auf den Steinen nieder. Die Abendsonne fiel zwischen den Gipfeln auf sie hinab, ein Funken der Wärme vor der Eiseskälte der stürmischen Nächte. „Wie bist du an den Wächtern vorbei gekommen?"

Ana berührte ihr Medaillon und biss die Zähne zusammen. „Ich habe es abgenommen. Sofort hat mich etwas überfallen, und ich kann mich an nichts mehr erinnern, außer, dass ich auf dieser Seite der Brücke erwacht bin."

Neshira lehnte sich an sie. „Wir besiegen Durensky. Und Eleuthera, wenn es sein muss."

„Wie?"

Neshira sah sie an. „Der König hat mir gezeigt, was geschieht, wenn ich auf diesem Pfad bleibe. Aber wenn ich einen neuen wähle... Ich kann mich den Hexen nicht allein stellen. Nur, wenn ich die Banshee beschwöre, und das werde ich nicht tun. Ich werde jemanden finden müssen, der mir hilft, und ich weiß, wer diejenigen sein werden."

„Wer?"

„Markiri. Ruk. Vielleicht Ophys, selbst wenn ich glaube, dass er in der Anderwelt ist und von dort nicht fort kann."

„Sind sie denn noch am Leben?"

„Ich werde den Tänzer von Oren Mor nach ihnen fragen. Vielleicht weiß er, wo sie sind. Oder hat zumindest einen Hinweis."

Ana erhob sich und zog Neshira auf die Füße. „Dann lass uns gehen."

Neshira hob ihren Speer auf und folgte ihr den Pfad hinab. Sie brannte vor Tatendrang, doch zugleich war sie so müde, dass sie am liebsten auf der Stelle eingeschlafen wäre. Noch immer folgten ihr die Erinnerungen an die Vision wie ein schwarzer Schatten, doch sie bemühte sich, nicht zu viel daran zu denken. Das Bild ihrer Schwester, begraben unter der Leiche ihres Bruders, krallte sich in ihren Kopf.

Der Geist war beinahe unsichtbar. Als Schemen schoss der vierschwänzige Kitsune auf Ana zu, ein Fetzen Rauch in der Abendsonne, und brachte sie mit einem Tritt zu Fall. Ana stolperte einen Schritt zur Seite, ihr rechter Fuß trat ins Leere, und mit einem überraschten Aufschrei fiel sie in die Schlucht.

„Ana!" Blindlings schlug Neshira mit dem Speer nach dem Geist und verfehlte ihn. Sie meinte, sein verächtliches Kichern zu hören. Der zweite Angriff zerriss ihn, sein Fauchen verklang mit dem Rauschen des Baches.

Neshira blickte hinab in die Schlucht. Kaum fünf Schritte unter ihr schäumte das Wasser über die Felsen. „Ana!", rief Neshira erneut.

„Hier!"

Neshira suchte in der Gischt nach ihr und fand sie. Mit heftigen Bewegungen hielt sie sich über Wasser. „Halt dich fest! Ich komme zu dir!"

Ana wollte etwas antworten, doch die nächste Welle erstickte ihre Worte. Hustend versuchte sie, sich an einem Stein festzuhalten, doch der Fels schrammte nutzlos an ihren Fingern vorbei.

Neshira lief den Pfad entlang und suchte nach einem Weg, um hinab zum Wasser zu gelangen. Doch die Wände der Schlucht waren steil, zu steil, um sicher hinab zu klettern. Sie dachte an das Seil in Anas Rucksack, nun wahrscheinlich fortgerissen vom Wasser, und fluchte.

Das Rauschen nahm zu. Keine fünfzig Schritte entfernt sprudelte der Bach über eine Kante und stürzte in die Tiefe. Neshira erinnerte sich an den Wasserfall. Niemand überlebte ihn, wenn er mit ihm gerissen wurde. Und Ana fand noch immer keinen Halt an den glatt gespülten Wänden. Ohne darüber nachzudenken, sprang sie.

Das Wasser war so eisig, dass sie am liebsten geschrien hätte. Die Wellen schlugen über ihr zusammen, warfen sie gegen die Felsen und schienen sie aus purer Grausamkeit ertränken zu wollen. Keuchend stieß Neshira sich an die Oberfläche und befreite den Speer aus den Wogen. Irgendwo erhaschte sie Anas Stimme, weit vor ihr, kaum zu hören unter dem Tosen.

Sie würde sie niemals erreichen. Ana konnte sich nirgends festhalten, um auf sie zu warten.

Entschlossen rammte Neshira den Speer in eine Felsspalte und stellte ihn quer. Knirschend verkeilte er sich waagerecht zwischen den aufragenden Felswänden, mit einem solchen Ruck, dass Neshira für einen Moment fürchtete, sich die Schulter auszukugeln. Mit einer Hand umklammerte sie das rutschige Holz, mit der anderen grub sie Anghiskes Totem aus ihrer Tasche und legte es aufs Wasser, die roten Schnüre um einen Finger gewickelt.

Sie schloss die Augen und versuchte, ihr galoppierendes Herz und ihre Sorge um Ana auszublenden. Das Rauschen war ohrenbetäubend. Tief atmete sie ein und aus und betete, er würde sich nicht zu viel Zeit lassen. „Anghiske."

Es dauerte kaum einen Augenblick, und sie spürte sein Fell unter ihren Fingerkuppen. Schnaubend brach er aus den Wellen. Seine Mähne schien mit dem Bach davonfließen zu wollen, doch er selbst stand neben ihr, als liege um ihn das Moor, in dem er geboren worden war, aus der Angst und der Erschöpfung der Verirrten.

Sie packte die Schnüre um seinen Kopf und zog ihn zu sich heran. Der Gestank nach Ertrunkenen war überwältigend, trotz des frischen Wassers. „Rette Ana", befahl sie und schwang sich auf seinen Rücken. Mit einem Ruck befreite sie den Speer, umklammerte seine Mähne und schloss die Augen.

Anghiskes Knurren ließ sie erzittern. Er wirbelte herum und tauchte in die Fluten. Sie spürte, wie das Wasser an ihr riss, wie es sie von seinem Rücken ziehen und ihrem Schicksal überlassen wollte, in einer Fuge zwischen Wasser und der Anderwelt, doch sie ließ Anghiskes Mähne nicht los. Fest hielt sie die Augen geschlossen.

Anghiskes Wege spien sie auf einen Kiesstrand am Fuße des Wasserfalls, nass bis auf die Knochen. Der Wind ließ Neshira frösteln, und sie trocknete sich mit einem Zauber. Wenn sie nicht mit Anghiske reisen würde, hätte sie ihn wohl nie vom König Schellen erbeten, doch so gehörte er zu jenen, die sie nie vergaß.

Hektisch sah sie sich um. Um sie herum ragten hohe Felswände auf, ein steinerner Dämon mit mächtigen Hauern, verunziert durch schwarze Runen, blickte grimmig auf sie hinab. Die Aura der Steinvettel war so stark, dass Neshira übel wurde. Nervös beobachtete sie die Felsen, doch nichts rührte sich.
Das nun ruhige Wasser leckte an Anas Stiefeln, so nahe lag sie am Ufer des Baches. Neshira rutschte von Anghiskes Rücken. „Ana!"

Sie stürzte auf sie zu, doch zögerte. Die Magie der Vettel nahm mit jedem Schritt zu. Aufmerksam fixierte sie die Steine, den Speer bereit, willens, Ana mit dem Leben gegen die elende Hexe zu verteidigen.

„Neshira", flüsterte Ana heiser. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder.

„Ana. Steh auf und geh hinter mich." Neshira löste ihre Haltung nicht.

„Warum?" Ana erhob sich langsam, als schmerzte ihr jede Bewegung. Blut vermischte sich mit Wasser und färbte ihr Hemd.

„Die Vettel", knurrte Neshira. Die Aura wurde stärker. „Sie ist hier."

Ana riss die Augen auf. Ihre Hand zuckte zu ihrer Kehle, dort, wo der Rubin hängen sollte, und es nicht tat.

Plötzlich begriff Neshira. Die angebliche Dämonenmagie, die das Amulett im Zaum halten sollte. Die Vettel, der sie nie begegnet waren, all die Tage, in denen sie durch die Berge gegangen waren. Die fremde Frau, die so viel über sie und die Hexen wusste, die sie auf eine Wolkeninsel gelockt hatte, unter dem Vorwand, ihr einen Weg zu zeigen, um die Hexen zu besiegen. Der es allein gelungen war, all die Wächterstatuen zu besiegen, ohne eine größere Verletzung. Und nun, da Ana ihr Amulett verloren hatte, schien die Vettel direkt neben ihr zu stehen.

Sie wirbelte herum und stach nach Anas Bauch, doch eine Säule aus Stein schoss aus dem Boden. Klirrend schlug die Spitze des Speers gegen sie.

Ana ließ entschuldigend die Hand sinken, und die Säule zerfiel zu Kies. „Neshira..."

„Du bist die Vettel", fauchte Neshira fassungslos. „Du bist..."

„Anathère Evá." Die Hexe hob beschwichtigend die Hände. „Neshira, warte."
Neshira stürzte sich fauchend auf sie, Stein parierte jeden ihrer wilden Angriffe. „Du hast mich angelogen!", schrie sie. „Du warst die Hexe, die ich jage! Du hast gelogen, mit jedem Wort aus deinem verfluchten Mund!"

Anathère wich zurück. „Neshira, warte", wiederholte sie. „Ich weiß, ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, aber ich möchte dir nichts Böses. Ich will dir helfen."

„Indem du mich davon abbringst, Eleuthera zu töten? Damit die Herrin deines Zirkels am Leben bleibt?" Neshira ließ nicht von ihr ab. Innerlich ermahnte sie sich, ihre Angriffe genauer zu setzen, doch der Zorn trieb ihre Vernunft fort. Sie wollte Anathère Evá töten, sie und alle anderen Hexen.

„Alles, was ich dir über Eleuthera erzählt habe, ist wahr. Nur lernte ich sie erst kennen, als sie eine Vettel war. Was davor geschehen ist, hat sie mit erzählt." Sie rief ein Wort, Steine bäumten sich vor ihr auf und warfen Neshira in den feuchten Sand. „Jetzt hör mich an, bitte!"

Neshira sprang auf die Beine, ihre Wut verbrannte den Schmerz in ihren Rippen und in ihrem Herzen. „Was soll ich dir noch glauben, du verlogenes Hexenmiststück?", fauchte sie und ließ den Speer wirbeln. „Ich dachte, du bist meine Freundin!"

„Das bin ich auch." Anathère ließ die Steine erneut zu Staub zerfallen. „Ich will nicht gegen dich kämpfen. Ich..." Sie rang mit Worten. „Ich will dir helfen."

Neshira überquerte das Kiesfeld mit langen Schritten. „Du willst mir helfen, ja? Danke, dass du mich angelogen hast! Ich dachte, ich kann dir vertrauen!" Ein Teil in ihr wollte nicht wahrhaben, dass Ana Evengrey eine Vettel war. Sie wollte, dass alles nur ein Irrtum war, doch die Steinspeere, mit denen sie Neshiras Angriffe abwehrte, erstickten ihre Hoffnungen.

„Neshira." Anathère blickte sie beschwörend an. „Du kannst mir vertrauen. Ich werde..."

Neshira duckte sich unter dem nächsten Steinschwert hinweg, und die Spitze traf Anathère in der Seite. Blut spritzte auf die Steine.

Anathère schrie auf und die Steinformationen brachen zusammen. „Ich will dir nicht weh tun, Neshira", flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Du musst mich nicht töten."

Mit einem Mal sah sie so sehr nach Ana aus, dass Neshira beinahe gezögert hätte. Wütend schüttelte sie das Stechen in ihrem Herzen ab. „Du lügst immer noch", knurrte sie, doch ihre Stimme schwankte. Innerlich verfluchte sie sich dafür.

Anathère trat langsam näher, die Hände erhoben. „Ich will dich nicht töten."
„Warum nicht?", fauchte Neshira. „Weil ich dann Durensky nicht mehr für dich töten kann? Oder war das auch gelogen?"

Anathère senkte den Blick für einen Moment. „Nein. Er hat wirklich alles zerstört, was ich hatte. Wegen ihm liegt das Dorf auf der anderen Seite des Berges in Trümmern. Wegen ihm sind meine Anhänger tot, und meine Macht schwindet."

„Du willst ihn töten, weil du wegen ihm weniger Kraft hast. Nicht für deine Familie", zischte Neshira voller Verachtung. „Allein kommst du nicht an Eleuthera vorbei. Lieber schickst du eine Hexenjägerin vor, die den Vampir angeblich aus eigenem Antrieb tötet. Und danach hättest du mich getötet, um als Durenskys Rächerin dazustehen." Der Verrat brannte auf ihrem Fell.

„Nein. Ich hätte dich nicht getötet. Ich würde dich beschützen, so wie du es bei mir getan hast. Du bist..."

„Deine Freundin? Nein." Neshira hob den Speer und versuchte, die Tränen in ihrer Kehle zu ignorieren. „Dann hättest du mich nicht angelogen."

Sie stürzte sich auf Anathère, ihr Speer war ein Silberstreif in der dräuenden Nacht. Steine klirrten auf Metall, Funken sprühten. Ihre Angriffe waren schnell und genau. Hexenblut verunzierte den Kies unter ihren Füßen und vermischte sich mit dem Wasser des Flusses. Steinerne Speere rissen Neshiras Fell auf, doch die Wunden schlossen sich, noch ehe Blut geflossen war.

Ein Stich riss der Vettel die Schulter in blutige Fetzen. Anathère keuchte. Neshira sah ihre Chance und sprang vor, doch der Speer schrammte nur über die feste Wand, dort, wo noch einen Wimpernschlag zuvor Anathère gestanden war.
Sie wirbelte herum und beobachtete die Steine um sich herum. Langsam trat sie zurück, bis an die Wasserlinie, immer mit Blick auf die Felswände.

Über ihr knirschten Steine. Eine Klaue fuhr nieder, und Neshira wich ihr im letzten Moment aus. Neben ihr krachte eine steinerne Pranke in den Boden, und der Dämon, verschmiert mit schwarzer Farbe, trat aus der Wand. Zwischen seinen Hörnern stand Anathère, die Haut wie aus marmoriertem Granit, ihre Kleidung schien mit dem Stein zu verschmelzen. Schwärze zeigte sich dort, wo sie verletzt war.

„Du willst mich nicht töten. Natürlich nicht", fauchte sie und wich der nächsten Attacke aus. Anghiske stob in einem Regen aus Kies in den Bach und beobachtete sie von der Ferne. Doch Neshira würde nicht fliehen. Sie würde Anathère vernichten, sie und alle Hexen, die noch lebten.

Neshira sammelte sich und betrachtete den Dämon, eine Bestie aus zerklüftetem Gestein, mit gewaltigen Krallen und einem Gesicht, so groß wie sie selbst. Wieder und wieder hieb er nach ihr, sie wich seinen Attacken aus. Sie versuchte, die Blitze in ihrer Hand zu entzünden, doch sie kamen nicht. All ihre Kampfmagie hatte sie für dem Kampf am Tempel verschwendet. Wenigstens war noch genug Energie übrig, um sich zu heilen. Doch wenn sie den Dämon besiegen wollte, musste sie Anathère töten.

Halb verborgen hinter dem Wasserfall entdeckte sie einen Felsvorsprung, kaum breit genug, dass sie darauf stehen konnte. Seine Kante lag kaum zwei Manneshöhen über den Hörnern des Dämons.

Neshira rannte in den Teich und schwang sich auf Anghiskes Rücken. „Bring mich auf diesen Vorsprung", zischte sie ihm zu und schloss die Augen.

Wasser spritzte auf, Kälte umfing sie, und kaum einen Augenblick später spürte sie den Wind des Falls an ihrem nassen Fell zerren. Gischt sprühte auf sie, das Wasser hüllte sie in Nebel. Neshira hob den Speer und sprang.

Eine steinerne Hand erwischte sie in der Luft und schmetterte sie in den Teich. Das Wasser war hart wie der Granit. Jegliche Luft wich aus Neshiras Lungen, und für einen Moment konnte sie nichts anderes tun, als den Luftblasen nachzusehen, die der Oberfläche entgegen stiegen. Der Stein des Grundes schmiegte sich an ihren Rücken. Neben ihr sank ihr Speer zu Boden.

Sie schloss die Augen, tastete nach der Magie des König Schellen, und trieb den letzten Fetzen Heilungsmagie in ihre Glieder. Es war kaum ein Funke in der Eiseskälte. Still lauschte sie über das Donnern des Wasserfalls auf das silberne Klirren von Glöckchen, suchte nach dem Brennen des König Schellen in ihrem Körper, um Anathère zu besiegen, doch sie fand es nicht.

Sie wusste, es war falsch. Sie hatte gesehen, was geschah, wenn sie es tat, doch sie wusste nicht, wie sie Anathère sonst töten konnte. Sie hatte gekämpft, und wenn sie es nicht tat, würde sie verlieren.

Fahrig tastete sie nach ihren Wurfmessern. Die Klingen waren kalt wie das Wasser um sie herum. Sie wünschte, sie hätte Anathères Blut, doch das Wasser hatte es fort gewaschen, und sie musste sich mit dem eines Dämons vorlieb nehmen.

Hastig sprang sie auf die Beine, stürzte auf Anghiske zu und schlitzte ihm die Flanke auf. Er fauchte wütend und sprang zur Seite, doch griff sie nicht an. Sie schnitt sich in den Arm, schmierte das Blut auf ihre Hand und packte die eiserne Laterne um ihren Hals. Die Beschwörung der Banshee klang, als verdamme sie sich selbst. Beinahe war ihr, als wären ihre Augen selbst bodenlos, als wäre sie nur eine Kreatur aus Schatten, die über ein Schlachtfeld wandelte.

Das ferne Kichern klang wie ein Fluch und die Erlösung zugleich. Der Geruch von Fäulnis und verbranntem Fleisch trieb mit dem plötzlich warmen Wind heran und ließ ihr Fell sträuben.

Die Schatten nahmen Gestalt an, und die Banshee erschien zwischen den Felsen. Die Laternen zogen Schweife aus Flammen hinter sich her, ihre Mähne wallte wie die Anghiskes unter Wasser. Mit einem trägen Flügelschlag stieg sie in den Himmel, und für einen Moment glaubte Neshira, sie würde sich aus ihren Banden lösen und sie mit der Vettel zurücklassen.

Die Fürstin der Lockenden Laternen wirbelte herum und breitete auf der Höhe des Wächterdämons die Flügel aus. Still verharrte sie in der Luft. Der Wind schien mit ihr Atem zu holen. Dann schrie sie.

Das Geräusch ließ Neshira das Blut in den Adern gefrieren, egal, wie oft sie es bereits gehört hatte. Es suchte sie wieder und wieder in ihren Träumen heim. Es nun zu hören, so kurz, nachdem sie erlebt hatte, wie es sich gegen sie richtete, drehte ihr den Magen um. Sie zwang sich, den Blick nicht abzuwenden.

Die Banshee schoss vor, schlug die Klauen in Anathères Leib und schloss die Kiefer um ihren Kopf. Das Brechen der Knochen schien von den Felswänden zurückgeworfen zu werden. Mit einem feuchten Reißen zerriss die Banshee die Hexe, kaum einen Wimpernschlag, nachdem sie geschrien hatte. Der Dämon zerfiel in Steinbrocken.

Neshira fiel auf die Knie und schloss die Augen. Ana schien sie von der Innenseite ihrer Augenlider anzublicken. Wasser schloss sich um ihre Brust und wollte sie ersticken. Beherrscht rief sie die Formel, die die Banshee entließ.
Die Göttin drehte sich elegant in der Luft. Ihr Lachen wurde mit dem Wind davongerissen.

Neshira wollte nicht mehr. Sie wollte in dem eisigen Wasser sitzen, bis sie einschlief, darauf warten, dass Anghiske seine Fesseln zerriss und sie mit sich in die Tiefe nahm. Ein stilles Ende, nur aufsteigende Luftblasen, die an sie erinnerten.

Das Holz ihres Speers schmiegte sich an ihre Finger. Sie ergriff ihn. Heftig erhob sie sich, das Wasser schlug Wellen, schwappte ans Ufer und vermischte sich mit dem Hexenblut. Sie konnte nicht warten, bis die Götter sie holten. Sie musste sie finden.

In ihrem Herzen tobte es, und es ließ sie erzittern. Fest rang sie die aufsteigenden Tränen nieder, die Enttäuschung, die Trauer, den Zorn. Jeder Atemzug war hart und ließ ihre Rippen schmerzen, obwohl sie versuchte, ruhig zu bleiben. Sie hatte das richtige getan, redete sie sich ein. Sie hatte ihre Feinde besiegt, mit allen Mitteln, die sie besaß, so, wie sie es musste. Die Hexen mussten sterben, sodass die Welt in Frieden leben konnte, wie die Völker ihrer Grafschaft.

Doch Grefell war fort, verschlungen von der sich aufbäumenden Welt, und sie war eine der letzten, die sich daran erinnerten.

Hastig schwang sie sich auf Anghiskes Rücken. Nur noch fort wollte sie, fort von der Insel, der sich verflüchtigenden Aura der Vettel, der Leiche, die zwischen den Steinen lag.

Bevor sie ihren Befehl an Anghiske richtete, hielt sie inne, den Blick fest auf seinen Widerrist gerichtet. Die schlickige Mähne hatte sich mit Wasserpflanzen und den Schnüren verheddert, ein undurchdringliches Netz aus Rot und Schwarz und Braungrün. Sie musste es wagen, zu Ana, nein, Anathère, der Steinvettel, zu sehen. Stets hatte sie ihre besiegten Feinde mit Stolz betrachtet, doch nun mied sie den Anblick der Toten. Neshira wusste, dass sich der Anblick in ihre Erinnerungen brennen würden wie der des aufgespießten Ruk, der von der Seuche zerfressenen Markiri, die vom Sumpf erstickte Ona. Sie wollte nicht, dass sich noch jemand zu den Toten gesellte, an denen sie schuld war.

Doch sie hatte Ana getötet. Und sie musste sich dem ebenso stellen wie steinernen Hunden, Shinaru-Geistern, einer Göttin der Verlockung und des Todes. Sie atmete tief durch, dann sah sie auf.

Anas Kopf lang mehrere Schritte entfernt von ihrem von den Krallen zerschlitzten Körper. Die Klauen der Banshee hatten ihre Haut, hart wie das Gestein ihres Habitats, zerfetzt wie Papier. Ihre Augen, nun gelblich statt grau zuvor, blickten ungläubig und anklagend zu ihr auf, als begreife sie noch im Tod nicht, dass Neshira sie umgebracht hatte. Ihre Haare lagen wie ein Fächer auf dem nassen Sand. Dunkles Blut verschleierte den Einblick in ihren zerrissenen Bauch, und Neshira war froh über die dräuende Dämmerung. Heftig würgte sie ihre Übelkeit herunter.

Nie wieder würde sie die Banshee rufen. Wenn sie gegen Eleuthera gewann, dann auf dem Weg des Königs. So lange hatte sie mit der Macht, der leichtsinnigen Unbesiegbarkeit der Drachengöttin gespielt, hatte sich in der Sicherheit gesonnt, stets einen letzten, unübertrefflichen Trumpf zu haben. All die Zeit hatte sie das Vertrauen in sich und den König verloren. Sie hatte sich und ihn nicht gebraucht, solange sie die Banshee hatte. Doch vielleicht war sie mit ihm an ihrer Seite stärker, als sie es mit der Banshee je gewesen war. Vielleicht konnte sie Eleuthera und Durenksy besiegen, ohne mit dunklen Mächten zu spielen, ohne an den dünnen Fesseln zu schneiden, die die Banshee in der Anderwelt hielten.

Sie wandte sich ab und zischte Anghiske einen Befehl ins Ohr. Der Blick toter Augen verfolgte sie in die Dunkelheit des Wassers.

Neshira fand das Vettelherz in dem Dorf auf der anderen Seite der Insel. Totems ragten wie tote Bäume in den Himmel, behängt mit Knochen. Die Aura war noch immer drückend, als dräue ein Gewitter, doch der Nachtwind war eisig. Schnell schritt sie durch die staubigen Straßen, als könnten ihre Gedanken sie einholen.

Anas Stein war ein Zeh, zwischen weiteren Kieseln an einen vom Wasser glatt geschälten Ast gebunden. Der Traumfänger einer Steinvettel. Er hing mitten in der letzten Hütte, die nicht gänzlich zu Ruinen zerfallen war, ohne jedes Versteck, als hätte Anathère nie daran gezweifelt, niemals entdeckt zu werden. Sie hatte nie geglaubt, dass Neshira sie durchschauen könnte, unterstützt von dem Amulett, das ihre Magie unterdrückte, und ihren schrecklich glaubhaften Lügen. Neshira wusste kaum, was von dem, was Ana ihr erzählt hatte, wahr war, und was sie erfunden hatte. Ana hatte sie benutzen wollen, sie wollte Neshira für ihre eigenen Pläne missbrauchen und verraten, rief sie sich ins Gedächtnis.

Dennoch zögerte sie. Noch könnte sie Ana wieder zum Leben erwecken lassen. Solange der Vettelstein nicht zerstört war, war sie nicht gänzlich tot. Sie könnte sie um Vergebung bitten. Sie erneut dem Wahrheitszauber aussetzen.
Bevor sie sich dagegen entscheiden konnte, sprach sie den Segen des König Schellen. Die Spitze ihres Speers leuchtete auf, und sie stieß ihn auf den steinernen Zeh.

Scherben flogen in alle Richtungen. Neshira meinte, jemanden seufzen zu hören, das Echo von Anas Todesschrei, vermischt mit dem Kreischen der Banshee. Wind wehte durch die Hütte und ließ weitere Traumfänger klimpern.

Neshira kniete nieder. „Lebe wohl, Anathère Evá, Ana Evengrey. Möge der König dich auf den rechten Weg führen." Sie wusste selbst kaum, warum sie die Worte sprach. Vielleicht für ihr Gewissen.

Sie erhob sich, verließ die Hütte und schwang sich auf Anghiskes Rücken. Oren Mor. Dort würde sie Antworten finden. Warum der Tänzer ihr nie seinen Namen verraten hatte. Ob Anas Geschichte über Eleuthera und Durensky wahr war. Ob er wirklich so viel Macht über eine schier unbesiegbare Seuchenvettel besaß. Erst, als die Fliesen von Oren Mor unter Anghiskes Hufen klapperten, fiel ihr ein, dass sie nichts mitgenommen hatte, um es zu verkaufen.

Sie wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und öffnete die Augen. Stille empfing sie. Erinnerungen an Rauschmittel und fremdartige Musik hing in den Steinen, doch nichts rührte sich. Etwas lag über dem alten Tempel, eine Ahnung von Grauen wie zuvor in der Zwischenwelt, als die Sonne auf den Grund gestürzt war, und es ließ Neshiras Fell sträuben.

Langsam rutschte sie von Anghiske und schlich auf die Schiebetür zu, den Speer bereit. Noch immer roch es nach Räucherwerk. Stück für Stück schlich sie voran, ihr Herz raste. Niemand begegnete ihr, niemand schlief in den Alkoven. Die Kissen lagen verstreut zwischen umgestoßenen Wasserpfeifen und Schüsseln mit überreifem Obst. Blut befleckte die Pfosten eines Diwans.

Der große Saal des Tempels war ihr noch nie zuvor so groß erschienen, ohne Tänzer, ohne Musiker. Eine vergessene Fiedel lag auf der Empore und kündete von einem überstürzten Aufbruch. Getrocknetes Blut verkrustete die schwarzweißen Fliesen. Die Aura von Hexen war überwältigend.

Neshira kratzte die Reste ihrer Magie zusammen und murmelte einen einfachen Erkenntniszauber, doch bis auf die Reste von Vettelmagie und dem jahrhundertealten Segen eines Priesters des König Schellen fand sie nichts.

„Tänzer?", rief sie halblaut in die Stille hinein. Das Wort hallte unangenehm nach. „Lucian?"

Niemand antwortete.

Es gab nur einen Grund, warum der Tänzer nicht mehr in Oren Mor sein konnte. Warum er nicht mehr in seinem Refugium war, wo er sich aus den Resten von Eleutheras Magie in seinem Körper eine Festung gebaut hatte. Jemandem musste es gelungen sein, ihn zu besiegen, in der Gestalt, die Eleutheras verdorbenes Herz ihm verliehen hatte. Der Gestalt, in der er Neshira beinahe umgebracht hatte, und sie nur verschont hatte, weil sie den Hexen nachstellte, die er tot sehen wollte.

Wer auch immer es gewesen war, musste beachtliche Macht haben. Der Tänzer war beinahe so unverwundbar wie seine Mutter. Vielleicht waren es andere Hexen gewesen. Hexenjäger. Vielleicht Eleuthera selbst, die wohl wusste, dass sich ihr Sohn gegen sie verschwor, und einen Weg gefunden hatte, ihr Herz aus seinem Körper zu trennen.

Erschöpft ließ Neshira sich auf den Fliesen nieder. Sie hatte gehofft, Antworten zu finden, doch immer mehr Fragen taten sich vor ihr auf, erhoben sich wie ein Sturm aus Dunkelheit. Sie hatte den Tänzer von Oren Mor gemocht, trotz seiner Eigenheiten, trotz seiner exzentrischen Art, die sie Mal zu Mal zur Weißglut gebracht hatte. Er war der erste und wichtigste Verbündete gegen Eleutheras Zirkel gewesen.

Sie schloss die Augen, doch die Tränen fanden dennoch einen Weg zwischen ihren Lidern hervor. Sie weinte für Markiri und Ruk, für Ona und Kagashi, für Ana und Lucian, für alle, die sie verloren hatte. Die leere Halle warf ihr Schluchzen zurück. Jeder, der ihr geholfen hatte, war tot oder so weit fort, dass sie sie nie finden würde, nicht in dieser Welt aus verstreuten Splittern.

Sie tastete nach ihrer Magie, und die Leere, die ihr entgegenschlug, ließ sie schaudern. Der König Schellen schien ebenso weit fort wie die Toten. Noch nie hatte sie sich so sehr nach Rat gesehnt, nach Stärke, sei es nun die des Tänzers, dem sie alles erzählt hatte, was sie erlebt hatte, über die Wolkenkathedrale, die Grafschaft, ihre Hexenjagd, ihres ersten wahren Freundes seit der Katastrophe, sei es Anas, die sie mehrmals vor den Wächterstatuen gerettet hatte, oder die tröstliche Wärme der göttlichen Magie in ihr. Doch sie war allein, mit nichts als einem finsteren Wassergeist als Gesellschaft.

Zittrig atmete sie durch, rang die Tränen nieder und wischte sie das Salzwasser aus dem Gesicht. Sie konnte nicht aufgeben. Selbst wenn sie allein war, musste sie sich den Hexen stellen. Niemand sonst würde es tun. Nicht, wenn der Tänzer von Oren Mor tot war.

Sie zog den Zirkelstein hervor. Zehn der Augen waren geschlossen. Für immer. Zwei der Augen blickten ihr entgegen, das dritte blinzelte langsam. Es waren die von Krähen, hatte ihr Lucian einst verraten. Ibo Lele hatte es geschaffen und Sally Bondruart, der Meervettel gegeben. Bis Neshira Bondruart getötet hatte und mit dem Stein ihre Hexenjagd begonnen hatte.

Neshira drehte ihn in den Händen. Drei Hexen lebten noch, und sie ahnte, welche es waren. Die Mächtigsten, jene, die sie sich bis zum Ende aufgehoben hatte, wenn sie wusste, dass sie ihnen gewachsen war. Und zwei davon hatten die meiste Macht in der Zwischenwelt gehabt, hatten die meisten jener getötet, die ihr nahe standen.

Die des Sumpfes, sang die Stimme des Tänzers an ihrem Ohr. Und die der Seuche.

Sie seufzte tief, als sie sich an ihre Flucht durch das verfluchte Moor erinnerte. Sobald sie ihre Kräfte und ihre Magie erneut gesammelt hätte, würde sich ihr erneut stellen müssen.

Lasaint Maraiza.

~ ~ ~

Bitte sagt mir, dass ihr es geahnt habt. Wenn nicht - war ich wohl besser im Hinweise verstecken als gedacht.

Nächste Woche beginnt der Showdown. Das erste von etwa zehn Kapiteln, in denen Tod, Leid und Grauen überhand nehmen werden. Ich freue mich schon diebisch darauf.

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