16. Der Tempel des Sehenden Gottes

Soundtracks. So viele Soundtracks. Aber der Reihe nach:

Neil Acree - Way of the Monk aus dem WoW: Mists of Pandaria OST. Abspielen am Anfang. Wenn der Drop an der richtigen Stelle ist.

Russell Brower - Temple of the Five Dawns aus dem WoW: Mists of Pandaria OST. Abspielen, sobald sie den Tempel betritt und alles ruhig wird.

https://youtu.be/YvFgns_IoUk

Celestial Aeon Project - Exploration Theme aus Sekiro: Shadows Die Twice. Abspielen, sobald der Traum beginnt.

https://youtu.be/VxMf8KuuWhk

und, last but not least, Ilan Eshkeri - Oishi's Tale aus dem 47 Ronin OST. Abspielen, sobald sie Ruk sieht. Das Ende passt nicht mehr so gut ABER DER ANFANG OH MYYYY

https://youtu.be/LZZDnM3Ze5A

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Der Wind riss den Schleier aus Wolken beiseite und entblößte rote Pagodendächer über weiß getünchten Mauern, gebaut auf nackten, grauen Stein. Zusammengekauert hockte er auf dem kleinen Felsvorsprung, kaum fünfzig Schritt breit und dreimal so lang. Der Wasserfall toste über die Kante, weit über den alten Gebäuden, durchquerte das Gelände und stürzte sich erneut in den Abgrund. Nichts rührte sich, einzig Nebelfetzen schlichen um das alte Gemäuer wie Geister.

„Sieht friedlich aus", bemerkte Ana.

„Er wird es kaum sein." Neshira konnte den Blick kaum von den Gebäuden und den vorgelagerten Steinterrassen wenden. Dort lag er, nur noch eine Schlucht entfernt. So nahe und doch so weit fort, dass es Neshira schien, als würde sie noch Jahre bis dorthin brauchen. Die Macht des König Schellen strich mit den Wolken über die Steine. „Es ist der Tempel des Sehenden Gottes. Er ist der Wahrheit geweiht."

„Bist du schon einmal hier gewesen?"

„Nein. Er war schon immer abgeschieden. Die Shinaru dort haben nicht viel vom Kämpfen gehalten. Sie haben nur nach der Wahrheit in allen Dingen gesucht und versucht, nach ihr zu leben und sie zu ehren. Ich habe sie stets für einen Haufen alter, langweiliger Männer gehalten." Neshira schnaubte. Nun würden ihr die Wege der alten Männer zeigen, wie sie zum König zurück finden konnte. Wie ihre Feinde unter ihren Waffen fallen würden.

Ana lachte leise und wies auf den schmalen Pfad vor sich. Er war kaum mehr als eine Ansammlung von Felsvorsprüngen an einer Schlucht, manche waren nur mit Sprüngen zu erreichen. Ein falscher Tritt bedeutete einen Fall und eine schmerzhafte Landung in dem tosenden Bach an ihrem Grund. „Nicht mehr weit, und du hast es geschafft."

Neshira nickte, nahm Anlauf und setzte über den ersten Abgrund hinweg. Sie kämpften sich die Vorsprünge entlang, einen nach dem anderen, und Neshira versuchte, nicht daran zu denken, was geschah, wenn sie abrutschte. Immer wieder blickte sie zu dem Tempel hinauf. Nicht mehr lange, und sie hatte ihn erreicht. Dann konnte sie ihre Jagd fortsetzen. Sie hatte oft daran gedacht, dass Eleuthera die Zeit, in der sie nicht daran arbeitete, den Zirkel zu vernichten, genutzt hatte und ihre Kräfte sammelte. Neshira hatte bereits genug Zeit verschwendet, um sich auch nur einen Tag der Ruhe zu erlauben.

Der Pfad endete abrupt. Eine Hängebrücke überquerte die Schlucht, die Bretter schienen morsch, die Seile fadenscheinig. Und doch war sie der einzige Weg hinüber. Neshira umklammerte ihren Speer fester und trat voran.

„Wenn uns hier jemand angreift, sind wir verloren", murmelte Ana hinter ihr.

„Ich versuche, nicht daran zu denken", erwiderte Neshira heftig. Sie sprach einen Erkenntniszauber, doch bis auf das heilige Leuchtfeuer des Tempels sah sie keine heranschleichenden Geister.

Die Hängebrücke mündete in ein schmales Tor, flankiert von Wächterstatuen. Sie rührten sich nicht, doch Neshira war sich sicher, dass sie sie angreifen würden, sobald sie durch das Tor traten.

„Wir könnten die Statuen von hier aus zerstören", schlug Ana vor.

„Wenn wir sie angreifen, werden sie die Brücke kappen", entgegnete Neshira.

„Dann stellen wir uns ihnen." Ana zog ihr Schwert aus dem Gürtel, ein Katana aus merkwürdig wolkigem Stahl. Sie hatte es einem Geist abgenommen, und selbst, wenn es unnatürlich kalt war, ließ es sich führen wie ein gewöhnliches Schwert. Im Gegensatz zu ihrem alten, das sie auf einem Berghang zurückgelassen hatte, konnte es auch Geister verletzen.

Neshira sammelte Blitze um ihre Hand und hob den Speer. „Bist du bereit?"

Ana seufzte. „Und wenn nicht?"

„Kannst du gerne hier warten."

Ana schnaubte verächtlich. „Bereit."

„Lauf!" Neshira rannte los, ihre Pfoten trommelten über die alten Bretter. Still hoffte sie, keines würde unter ihren Schritten zerbrechen, und sie erfüllten ihr den Wunsch.

Sie sprang durch das Tor und stürzte sich mit den Blitzen in ihrer Hand auf den ersten Steinhund. Sein Kopf zersprang, noch ehe er sie angreifen konnte. Ana wich dem Angriff den zweiten aus, Neshira versetzte ihm einen Schlag in die Kehle und folgte ihr. Beide Hunde setzen ihnen nach, eine Spur aus Steinen hinter sich herziehend.

Sie sammelte die Energie des König um ihre Hand, die Blitze verschwanden. „Halt dir die Ohren zu!"

Die Hunde sprangen heran. Sie trat beide aus der Drehung heraus, landete geduckt und schlug mit der Faust auf den Boden.

Ein Donnerschlag ließ die Berge erzittern, hundertfach zurückgeworfen von den Felswänden. Die Hunde wurden von der Druckwelle erfasst und mehrere Schritte nach hinten geworfen. Noch in der Luft zersplitterten sie in ihre Bruchstücke.

Ana nahm langsam die Hände von den Ohren. „Ich wusste nicht, dass du so etwas kannst."

Neshira holte sie ein. „Einfache Magie. Ähnlich ihrem Bellen."

„Warum hast du ihn nicht schon vorher benutzt? Bei dem Kampf an dem Grat?"

„Eine Shinaru verrät nie ihre Geheimnisse."

Ana hob eine Augenbraue.

„Ich kann nur eine bestimmte Menge an Kraft vom König Schellen erbitten, und ich muss mir sicher sein, in welche Art von Magie ich sie verwenden will. Heute kenne ich die Steinhunde und weiß, was gegen sie hilft." Neshira sah sich um. Verwildertes Gras bedeckte die Terrassen, die ersten richtigen Pflanzen, die sie hier sah. Fuchsstatuen lugten aus den hohen Halmen. Ein Pfad aus Steinplatten führte zu der Treppe der nächsten Ebene. „Die Statuen sind Grabsteine." Sie ging auf ein Knie nieder und legte den Speer vor sich. „Sie sind die Wächter des Tempels."

„Sie werden uns angreifen, wenn wir weitergehen."

„Das werden sie."

Ana ließ den Blick über die Steine schweifen. „Das sind viele."

„Alle, die je in diesem Tempel starben, innerhalb der letzten zweitausend Jahre." Neshira hob den Blick und sah hinauf zu der Treppe, die auf die nächste Terrasse führte. „Dort oben sind sicher weitere Wächter."

„Wir werden es nicht schaffen, alle zu besiegen. Nicht, wenn sich alle Geister aus ihren Gräbern erheben." Ana rieb sich den Arm, dort, wo der Geist, dessen Schwert sie nun führte, sie verletzt hatte. „Sie sind stark. Und mein Amulett verhindert, dass du mich heilst."

Neshira senkte den Blick und sammelte sich. „Ich kann sie aufhalten."

„Nicht, wenn selbst du überrannt wirst."

„Das wird nicht geschehen." Sicher war sie sich nicht, doch sie wollte nicht glauben, dass sie so weit gereist war, nur um an ein paar verfluchten Wächtern zu scheitern.

„Was tun wir also?"

Neshira wies auf die Treppe und erhob sich. „Ana, lauf."

„Was?"

„Lauf!"

Ana tat wie geheißen. Sie stürmten über die gesprungenen Steinplatten, vorbei an verwitterten und neuen Fuchsbildnissen. Schemen erhoben sich neben ihnen, hieben mit Schwertern, Glefen und Krallen nach ihnen und zerfetzten Neshiras Kleidung.

Schatten in der Gestalt vielschwänziger Kitsune materialisierten sich direkt vor ihnen, Wurfmesser, Katanas und Lanzen in den Händen. Neshira konnte nicht sagen, wie viele es waren. Mit jeder Bewegung verwischten sie ineinander.
Neshira schwang den Speer. Die golden glühende Spitze riss Rauchfetzen aus den Geistern. Stumm fauchend stürzten sie sich auf die beiden Frauen.

Die Kitsune wehrte sie ab, schnelle Streiche mit dem Speer, die sie nicht wirklich verletzten, doch zumindest lange genug zurück hielten, sodass sie an ihnen vorbei rennen konnten. Sie konnte sie nicht alle besiegen. Immer mehr materialisierten sich zwischen den Gräbern, die Waffen bereit. Ein Wurfmesser bohrte sich in ihre Schulter, sie riss es heraus und heilte sich, doch sie würde nie gegen alle ankommen.

Hastig erklommen sie die Treppe. Sechs Hundestatuen säumten den Weg zum Tor des Tempels, zwei flügellose Drachen mit den Körpern von Löwen und langen Hauern in den Unterkiefern flankierten es. Beinahe gleichzeitig wandten sich die Hunde zu ihnen.

Neshira wechselte einen schnellen Blick mit Ana und rannte, Blitze sammelten sich um ihre Finger. Flink rollte sie sich unter dem ersten Hund weg und rammte ihm die Faust in die Seite. Er wurde zur Seite geschleudert, erste Brocken fielen von ihm zu Boden. Neshira sah den zweiten heranpreschen, wich ihm im letzten Moment aus und die Hunde stolperten ineinander. Der erste zerfiel, der zweite wandte sich grollend um, stürzte sich auf Ana und riss sie mit sich.

Neshira schrie auf und wollte ihr nachlaufen, doch zwei Hunde sprangen ihr in den Weg. Wütend wirbelte sie durch die Steinkreaturen und hinterließ eine Spur aus splitternden Steinen. Zauber flossen durch ihre Adern, sie wurde schnell wie der Wind, andere Worte ließen die Hunde zerspringen wie Porzellan. Krallen aus Granit fuhren durch ihr Fell und rissen tiefe Wunden, doch sie trieb die Magie des König Schellen in ihren Körper. Die Kratzer schlossen sich, als wäre nie etwas gewesen.

Die Hunde wichen zurück, ihre Leiber übersät von tiefen Sprüngen. Einem fehlte der Großteil seines Kopfes, dem zweiten fielen bei jedem Schritt Brocken aus der Seite. Neshira nutzte den Moment, schlüpfte an ihnen vorbei und rammte dem Hund mit aller Kraft die Fäuste in den Hals. Er zerbrach zu Trümmern.

Neshira half Ana auf die Beine. Ihre Kleidung war zerrissen, Blut befleckte ihr Gesicht und tränkte ihr Hemd. Vier parallele Kratzer verunzierten ihre Taille. Beinahe wäre sie wieder zu Boden gefallen, doch Neshira stützte sie.
Fahrig schlug sie die Hände der Kitsune weg. „Ich komme klar. Lauf zum Tempel."

„Du kommst mit mir", knurrte Neshira und stemmte ihre Schulter unter sie.
Gemeinsam humpelten sie auf den Tempel zu, doch die Hunde stellten sich ihr grollend in den Weg. Zwei von ihnen waren gänzlich unversehrt.

„Kannst du stehen?", fragte Neshira. Mit einem Mal hasste sie Anas verborgene Kräfte. Jeden anderen hätte sie heilen können, doch nicht sie. Sie, die sie durch die Wächter und die Schluchten begleitet hatte. Sie würde sie nicht zurücklassen.

Ana nickte, und Neshira ließ sie vorsichtig los. Keinen Wimpernschlag danach warf sich der erste Hund gegen sie. Neshira trieb ihn mit dem Speer zurück und zertrümmerte sein Vorderbein, doch er gab nicht auf. Schwankend bäumte er sich auf und hieb mit den verbliebenen Klauen nach ihr, Neshira warf seine Angriffe beiseite. Die Spitze war nutzlos gegen die Statuen, doch der magisch gehärtete Schaft war noch immer ein Weg, um ihn von sich fernzuhalten, bis sie mit den Fäusten zuschlagen konnte.

Der Hund trat einen Schritt zurück und duckte sich zusammen. Dann bellte er.

Der Schall warf sie den Drachen entgegen. In Neshiras Ohren klingelte es. Hinter ihr knirschten die Klauen der Drachen auf ihren Podesten. Benommen stemmte sie sich auf die Beine. Zumindest waren sie dem Tempel näher gekommen. Schwankend wappnete sie sich für den nächsten Angriff.

Die Klauen des Drachen fuhren nieder, sie warf sich zur Seite und riss Ana mit sich. Sie rollte sich zur Seite, erhob sich von neuem und trat dem Drachen aus der Bewegung heraus gegen den Kopf. Der zweite versuchte, Ana erneut zu schlagen, sie stolperte rückwärts. Dorthin, wo die Hunde warteten.

Neshira trat einen Schritt zu ihr, doch die Hunde schlossen den Kreis um sie. Sie versuchte, ihr nachzusetzen, doch der erste warf sie erneut mit seinem Bellen zurück.

Sie mussten in den Tempel. Dort waren sie sicher. Neshira sprang auf und taumelte auf das Tor zu, doch einer der Drachen landete mit gebleckten Zähnen vor ihr. Seine Krallen scharrten über die Steine, seine steinerne Mähne klirrte, als er sie schüttelte. Neshira versuchte, die Blitze in ihrer Hand zu erwecken, doch sie kamen nicht. Sie hatte all ihre Magie verbraucht.

Knurrend duckte der Drache sich zusammen, sie tat es ihm gleich und hielt den Speer bereit. Hinter ihr hörte sie die schweren Schritte der verbliebenen Hunde, hörte das drohende Bellen in ihren Kehlen.

Ein Schuss donnerte, ohrenbetäubend laut übertönte er die trommelnden Steinpranken. Splitter stoben aus dem Kopf des Drachen, und er fuhr stumm heulend herum. Erneut schoss Ana, der Drache zuckte zurück, als empfinde er tatsächlich Schmerz, und wandte sich ihr zu.

„Was tust du da?", schrie Neshira.

„Ich lenke sie ab!" Ana spannte den Revolver und schoss. „Lauf in den Tempel!"

„Sie werden dich umbringen!"

Wieder stoben Splitter aus dem Körper des Drachen, und er spannte sich zum Sprung.

Ana fluchte deftig, legte an und feuerte. „Jetzt lauf endlich, du Idiot!"

Der Drache sprang. Neshira wirbelte herum und rannte, Schüsse gellten hinter ihr. Einer der Steinhunde stellte sich ihr in den Weg, doch sie duckte sich unter seinem Angriff weg und lief weiter, über die aufgesprungenen Steinfliesen hinweg.

Das Tor, rot gestrichen und mit messingfarbenen Nieten verstärkt, widersetzte sich ihr, doch schließlich gab es nach. Neshira wandte sich um und hielt Ausschau nach Ana, die, verfolgt von den Hunden und dem Drachen langsam rückwärts ging. Geister mit gezogenen Waffen näherten sich ihr von hinten.

„Ana!"

„Jetzt geh schon!" Ana warf den leer geschossenen Revolver fort und nahm das Katana mit beiden Händen. „Ich finde dich wieder!"

Neshira wollte aus den Schatten des Daches treten, doch einer der Hunde wandte sich zu ihr herum und krümmte sich zusammen. Bevor er bellen konnte, sprang sie durch den Spalt und schloss das Tor hinter sich. Es erbebte unter dem Donnern des Hundes, dann war es merkwürdig still.

Das Holz zwischen ihr und dem Kampf schien alle Geräusche zu schlucken, als wäre sie weit fort von den wütenden Wächtern und Ana. Kurz überlegte sie, ob sie wieder hinaus gehen sollte. Die Angst, die Wächter könnten sie töten, nahm ihr den Atem. Doch sie hatte geklungen, als wüsste sie, was sie tat. Siegessicher. Vielleicht wusste sie doch, wie sie den Dämon in ihrem Körper für sich nutzen konnte.

Neshira versuchte, die Sorge um sie beiseite zu schieben, und sah sich um. Sie stand in einem kleinen Vorhof, umgeben von einem Wandelgang, mit einem kleinen Wasserbecken in der Mitte. Der Wind ließ die halb eingestürzten Dächer knarren. Alte Stofffetzen und Stroh tanzten in den Böen, die von der Felswand herabfielen und sich in dem Innenhof fingen, Glöckchen klingelten. Hohe Pagoden ragten in die Höhe, kurz bevor der Berg endete.

Zügig schritt sie vom Eingang des Klosters fort und betrat die Gebäude, die den Innenhof einrahmten. Trümmer knirschten unter ihren Füßen. Die Aura des König Schellen erfüllte den Ort. Niemand hatte ihn seit der Zweiten Katastrophe betreten, dessen war sie sich sicher, nicht einmal die Wächter. Der König duldete sie als Schützer seiner Heiligtümer, doch er verachtete die hasserfüllte Energie, die sie von ihren Gräbern fernhielt.

Sie ließ die Hände über die Gebetsmühlen gleiten und genoss das Knirschen der alten Metallzylinder. Es klang nach Heimat. Sie meinte, das Flüstern von Kitsunepfoten über den Steinfliesen zu hören, das Klappern von Kampfstäben, die Kampfrufe der Shinaru, das Klirren der Katanas. Ein Windzug streifte sie, und das Lachen der Novizen hallte in ihren Ohren wider.

Mit einem Mal vermisste sie ihre Zeit in der Wolkenkathedrale so sehr, dass es schmerzte. Sicher, es war ein hartes, einfaches Leben gewesen, und sie war getrieben gewesen von jugendlicher Ungeduld, ein Zug, den sie nie hatte ablegen können, und an Leichtsinn grenzendem Ehrgeiz, doch sie hatte es geliebt. Mit dem Morgengrauen aufstehen. Einfache Arbeiten, mit denen sich die Shinaru abwechselten. Sie hatten ihr Demut lehren sollen, doch sie hatte sie oft zurückgelassen und war in die Berge ausgerissen, um dort zu trainieren. Die Übungskämpfe gegen die anderen Novizen, Strafen für ungebührliches Betragen, geheime Prügeleien, die sie sich mit ihrer frechen Schnauze eingebrockt und mit ihrem Können gewonnen hatte.

Sie überquerte den Kampfplatz, Schneewehen fingen sich in den Ecken. Kampfstäbe lagen verwaist zwischen Holzschwertern und Steinbrocken. Zerfetzte Gebetsflaggen flatterten, ein Funken der Farbe in all dem steinernen Grau und Weiß. Selbst die Dächer der Tempel waren lange nicht mehr rot angestrichen, wie sie es einst gewesen waren. Nun waren sie ausgeblichen und abgesplittert.

Vor ihr ragte der Tempel auf, mit einem dreistöckigen Pagodendach, hellen Wänden und einer mit Messing beschlagenen Tür. Zwei Hunde standen Wache, doch sie rührten sich nicht vom Fleck. Das Schellen der Glöckchen begleitete Neshira auf Schritt und Tritt, ihre eigenen und jene, die in den Ruinen hingen, unbeeindruckt von Wind, Schnee und den wütenden Geistern draußen. Es war eine friedliche Welt, und für einen absurden Moment erwog Neshira, nach dem Sieg über den Zirkel hierher zurückzukehren und als verrückte Einsiedlerin zu leben. Doch sie wusste, dass sie zum Alleinsein und Verrückt werden nicht geboren war. Sie war zu rastlos. Die Dämonen ruhten nie, und sie hatte sie zu besiegen.

Die Tür des Tempels stemmte sich gegen sie. Knirschend schrammte sie über den rauen Boden, bis der Spalt groß genug war, dass sie hindurch schlüpfen konnte.

Drinnen war es noch stiller als draußen, selbst das Heulen des Windes war verstummt. Licht fiel durch die oberen Fenster hinein, Staub tanzte in den Strahlen. Die Wände waren kahl, nichts, was vom Beten ablenken konnten. Rote Schnüre mit Perlen und Glöckchen durchkreuzten den Raum wie Spinnweben. Neshira erhaschte einen Hauch der Räucherstäbchen unter dem Muff der alten Teppiche unter ihren Füßen.

Vor ihr ragte eine Statue des König Schellen auf, grob geschlagen aus dem Gestein der Berge. Elegant stand er auf seinem Podest, den Kopf mit dem einzelnen Auge ihr zugewandt. Eine verrostete Kette schloss sich um seinen rechten Vorderhuf, die verblichenen roten Schnüre wickelten sich um seinen Körper. Zerzauste Federn hingen an seinem verkrüppelten Flügel.

Neshira fiel auf die Knie, plötzlich so erschöpft, dass sie weinen wollte. Sie hatte sich den Weg hinauf gekämpft, vorbei an all den Wächtern, und nun stand sie vor ihm, der ihr einen Weg zeigen sollte, wie sie die Hexen besiegen konnte. Vorsichtig legte sie ihren Speer vor sich ab und kämpfte die Tränen nieder. Ihr geflüstertes Gebet an den Einäugigen klang verboten laut in der Stille.

Schließlich richtete sie sich auf und trat zu einem Alkoven in der Wand. Räucherstäbchen und Kräuter steckten in Tontiegeln, neben Kerzen und einem vergessenen Trinkbecher. Sorgfältig entzündete sie alle verbliebenen Kerzen und schritt mit dem Räucherwerk die vorgeschriebenen Linien durch den Raum, bis der schwere Geruch den Tempel erfüllte.

Bei dem Kraut zögerte sie. Fedrige Blätter krümelten über ihre Finger. Einmal in ihrem Leben hatte sie es benutzt, und das, was sie damit getan hatte, hatte ein Leben gekostet. Ein Preis, den sie danach nie vergessen hatte. Lange hatte sie die Banshee gehasst und gefürchtet, dafür, dass sie dem jungen Shinaru das Leben genommen hatte, und zugleich hatten Gewissensbisse sie geplagt. Sie hatte die Fürstin der Lockenden Laternen beschworen, in der Hoffnung, sie töten zu können. Um die Welt zu erlösen von ihrer Arglist und Boshaftigkeit. Doch sie hatte sich überschätzt. Eine Kitsune, noch nicht einmal eine Shinaru, kaum sechzehn Sommer alt, konnte sie nicht besiegen. Selbst heute, mehr als fünfzehn Jahre später, wusste sie, dass sie ihr nicht gewachsen war. Sie konnte sie bannen, doch sie zu vernichten, das war niemandem möglich. Vielleicht konnte es der König Schellen, doch die Banshee war ein Teil von ihm. Sie lebte und starb mit ihm. Neshira hatte lange gebraucht, um es zu begreifen.

Sie stopfte ihre Pfeife und ließ sich im Lotossitz vor dem Standbild des Königs nieder. Das Kraut glühte auf, als sie daran zog, einmal, zweimal. Das Holz ihres Speers war kalt und kühl unter ihren Fingern. Dann legte sie sie beiseite und wartete.

Plötzlich fegte Wind durch den Tempel. Die Schatten wurden dunkler, die Kerzenflammen glühten dunkelorange. Die Glöckchen klirrten schrill. Stück für Stück wehte der Tempel davon, die Dachschindeln flogen ins grau wirbelnde Nichts, die Wände lösten sich in scheinbar federleichte, spitze Steine auf, schossen voneinander weg und verharrten still in der Luft, während der Sturm an Neshiras Kleidung zerrte. Das Auge des König Schellen blinzelte.

Der Wind verstummte. Neshira erhob sich und wandte sich zu dem Kampfplatz um, der hinter den verschwundenen Wänden zum Vorschein gekommen sein musste, doch er war fort. Stattdessen erstreckte sich ein sanft hügeliges Feld in alle Richtungen. Hohes Gras wogte trotz der Windstille. Die Grundsteine des Tempels, erhellt von den Gebetskerzen, waren ein seltsam sicher erscheinendes Viereck aus Stein in dem bräunlichen Meer und dem grauen Himmel, der sich darüber spannte. Neshira zählte dreizehn verwaschen rote Sonnen hinter dem Schleier aus Wolken. Das Licht war merkwürdig gelb, wie vor einem schweren Unwetter.

Ein weißer Fleck strich durch das Gras und kam rasch näher. Neshira packte den Speer fester und machte sich zum Angriff bereit, doch es war nur ein Pferd, ein gewöhnliches, rein weißes Tier mit dem grob gezeichneten Symbol des König Schellen auf der Stirn. Seine Hufe klapperten auf dem Gestein des Tempels. Sanft stieß es sie mit der Nase an, und sie stieg auf. Kurz fragte sie sich, ob das Reiten auf einem Gott als Ketzerei galt, doch sie entschied sich dagegen. Er hatte sie eingeladen, aufzusteigen.

Der Hengst trat hinab in den Grasdschungel, seine Muskeln waren warm unter ihren Beinen, anders als Anghiskes abstoßende Kälte. Das Gras wisperte von Verdammnis.

Sie warf einen Blick zurück zu dem Tempel. Dunkel bäumten sich schwebende Steine darüber auf, wie Gewitterwolken, doch es schien heller dort zu sein als über dem Feld, beschienen von den roten Sonnen. Die Kerzen waren ein Leuchtfeuer in der dräuenden Schwärze.

Das Pferd schnaubte und warf mit dem Kopf, als wollte es ihre Aufmerksamkeit auf das lenken, was vor ihnen lag. Eine der Sonnen sank dem Horizont entgegen.

Eine vage Vorahnung ergriff Neshira, ein Hauch von Grauen. Es erinnerte sie an den Kampf gegen die Nachtvettel, die sie nicht sehen, doch spüren konnte, ein wandelnder, schleichender Tod. Das Ross unter ihr erzitterte. Sie musste die fallende Sonne aufhalten, doch sie vermochte es nicht.

Die Glut berührte den Boden. Rasend schnell breitete sie sich aus, verschlang das Gras, ohne aufzulodern oder zu rauchen, einzig eine glühende Ader raste über den Boden und hinterließ Tod und Schwärze in seinem Kielwasser.

Das Gras hatte sie verborgen, doch das Feuer entblößte nun Leichenberge. Menschen, Alte Völker und Anima lagen über das Feld verteilt, verschmiert von Ruß, zerfressen von einer Seuche, wie sie sie bei den Canwy Roch auf Hivens Ark gesehen hatte. Andere waren blutleer, manche wie erwürgt von Pflanzen, die hier nicht existieren sollten, wieder andere durchbohrt von Klingen aus Gestein.

Neshira versuchte, das Pferd herumzureißen, fort von der Glut, zurück zum Tempel, doch es schritt unbeirrt voran. Die Glut floss an ihnen vorbei, als existierten sie nicht. Doch kaum hatte sie sie hinter sich gelassen, sanken die Hufe des Hengstes bis zu den Fesseln in Asche ein. Knochen knackten unter seinem Gewicht, unnatürlich laut, und Neshira musste ein Würgen unterdrücken.

Sie wollte ihren Blick auf den Horizont richten, auf die Sonne, die sich wieder in den Himmel erhoben hatte. Sie wollte nicht sehen, wer unter den Toten war. Sie wollte all dies nicht sehen. Es würde sie in ihren Träumen heimsuchen. Doch sie zwang sich, die Szene in ihr Gedächtnis zu brennen. Blickte hinab zu den Leichen. Und hoffte still, niemanden zu erkennen.

Beinahe hätte sie das braungraue Fell übersehen, und als sie ihn erkannte, wünschte sie sich, es wäre so geschehen. Seine helle Mähne war verschmiert mit geronnenem Blut. Er war zerfressen von der Seuche, seine Rippen schimmerten durch die Wunden in seiner Haut, doch sein Gesicht erkannte sie sofort. Ein schmaler, für einen Karr eleganter Kopf. Die Schwerter, noch immer umschlossen von seinen Händen, als wollte er auch im Tod noch weiter für Gerechtigkeit kämpfen, wie es seine Natur war.

„Markiri", flüsterte sie rau.

Das Pferd schritt weiter, und sie zwang sich, nicht zurück zu blicken. Aus dem Augenwinkel sah sie dennoch, wie die Asche Markiris Körper bedeckte wie ein Leichentuch. Tränen rannen ihr die Wangen hinab.

Glas splitterte unter den Hufen des Pferdes, ein derart gewöhnliches Geräusch in dieser Einöde, dass Neshira zusammenzuckte. Der Geruch von Wacholder breitete sich aus, als versuchte er, die stinkende Luft zu reinigen.

Ein Tarnaruc hing in der Luft, aufgespießt von steinernen Speeren und schwebenden Schwertern aus schwarzem Fels. Es waren so viele, dass Neshira die Runen auf seinen Schultern, breit wie ein Turmschild, kaum erkennen konnte. Hauer ragten aus seinem Unterkiefer, als sei er eine fleischgewordene Inkarnation der Wächterdämonen. Seine orkische Axt, zwei schwere Klingen an jedem Ende des Schafts, lag gesprungen neben den Scherben der Flasche. Tote Hexen und Vampire übersäten den Boden um ihn. Es schien, als hätten die Hexen all ihre Kräfte gebraucht, um Ruk Natar zu Fall zu bringen.

Neshira krallte die Hände in die Mähne des Pferdes. Sie zitterte am ganzen Körper, jeder Muskel schmerzte vor Spannung. Heftig schnappte sie nach Luft und versuchte, die Tränen im Keim zu ersticken, doch sie scheiterte. Nie hatte sie geglaubt, das etwas Ruk töten könnte. Sie hatte Tage gesehen, an dem er seinen halben Kiefer verloren hatte, an denen er Wunden gehabt hatte, an denen gewöhnliche Männer längst gestorben wären, doch er war nur zu ihr getreten und hatte um ihre heilende Energie gebeten. Er hatte stets nach dem Tod gesucht, nach einem würdigen Ende, doch ein solches hatte er nicht verdient. Sie schluchzte auf und atmete bebend aus, Tränen rannen in ihr Fell. Wenn die Hexen selbst ihn töten konnten, was kann ich noch tun? Sie fühlte sich, als würde sie zerbrechen. Verzweifelt schlang sie den Arm um sich, als müsste sie sich davon abhalten, zu zersplittern wie die Wände des Tempels.

Weiter und weiter trug das Pferd sie durch die Leichenberge. Die Sonnen bewegten sich, langsam und ohne Richtung. Jene, die den Boden berührt hatte, war längst wieder aufgestiegen.

Rötliches Fell blitzte im Licht der Sonnen auf, verschmiert mit Schwärze, und das Pferd trat darauf zu. Ein zerbrochenes Katana lag neben der Leiche. Das Wappen der Canto glänzte oberhalb der Parierstange.

Sie hatte immer gewusst, dass ihr ältester Bruder den Untergang der Welt nicht überlebt hatte. Hanashima war im Meer versunken, und Kagashi mit ihr. Doch ihn dort liegen zu sehen, neben all den anderen Toten, wie verätzt von der Seuche, traf sie wie ein Fausthieb. Unter ihm lag eine weitere Kitsune, das Fell heller als Kagashis. Er hatte sich wohl auf sie geworfen, um sie zu schützen, doch die Hexenzauber hatte auch sie nicht verschont. Ihr Kopf war unter ihrem Bruder begraben, und Neshira wollte nicht wissen, wer ihrer Geschwister dort lag. Wasserpflanzen klebten an ihrem Fell. Abgeschnittene Kitsuneohren übersäten den Boden.

Wind kam auf, stinkend nach Moder und verrotteten Körpern, und ließ die Mähne des Pferdes flattern. Es roch, als atmete Anghiske auf sie herab. Sumpfwasser schmatzte unter Hufen. Immer mehr tote Kitsune entdeckte sie zwischen den Leichen. Ihre Eltern, begraben zwischen Ascheverwehungen und toten Tengus, deren Federn über das Schlachtfeld flatterten. Männer und Frauen der Shinaru. Tekami, das gütige Gesicht mit dem grauen Fell an der Schnauze entstellt.

Etwas klirrte gegen den Huf des Pferdes, und sie blickte hinab. Ein Amulett lag im Dreck, gesprungen und verschmutzt. Der geschnitzte Jade bildete das Bildnis des König Schellen. Schlanke Finger, verschmiert mit Schlamm, lagen schlaff um die Kette, und Neshira begriff.

Ein Zittern stieg in ihr auf, das Grauen rang mit der Trauer und der Angst um die Vorherrschaft, und sie schnappte nach Luft. Sie schmeckte verdorbenen Tod und ölige Flammen. Hektisch sah sie sich um. Sie musste fort von hier, so schnell sie konnte, doch es gab keinen Weg. Einzig die Grundmauern des Tempels waren noch dort, doch auch sie waren kein Weg zurück in die reale Welt.

Eine Gestalt, gehüllt in eine weite Kutte mit einer Kapuze, schritt durch das Schlachtfeld, elegant und sicher, als wäre sie dort zuhause. Es erinnerte sie an den Kampf gegen die Kriegsvettel, die Zwietracht auf den Wolkeninseln gesät hatte, bis Neshira sie getötet hatte. Sie war ebenso zufrieden durch Meere aus Toten stolziert.

Namenloser Hass packte Neshira. Sie stieß dem Pferd die Hacken in die Seiten, und es stürmte voran, erstaunlich sicher setzte es über Leichenberge und zerfurchte Erde hinweg. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht, und mit einem Kampfschrei hob sie den Speer.

Geschmeidig wich die Gestalt ihrem Angriff aus und verharrte für einen kurzen Moment in der Luft, als gelte die Zeit nicht für sie. Weiße Augen, hell wie die Sonnen, glühten unter der Kapuze und zogen eine Spur aus leuchtendem Nebel hinter sich her. Leichtfüßig landete die Kreatur auf dem Boden, in einer Haltung, die Neshira im Schlaf konnte. Eine Haltung des Shinaru-Kampfes.

Neshira zögerte nicht. Sie hatte oft genug gegen andere Shinaru gekämpft, als dass sie sich vor der Gestalt fürchtete. Sie riss das scheuende Pferd herum und trieb es erneut auf die Kreatur zu. Dann sprang sie.

Die Gestalt schlug sie beiseite, als wiege sie nicht mehr als ihre Waffe. Neshira landete zwischen den Leichen, rollte sich ab über knirschende Rippen und vorstehende Ellenbogen. Verrottete Haut zerfiel unter ihren Fingern, kalt und klebrig. Angewidert erhob sie sich und blickte ihrem Gegner entgegen.

Die Gestalt drückte die Hände, wie geschaffen aus Schatten, aufeinander und zog sie langsam zur Seite. Wurfmesser, ähnlich ihren eigenen, bildeten sich dazwischen, die Kanten unscharf, doch Neshira ahnte, dass sie ebenso gefährlich waren wie echte. Langsam bewegte sie die Hände, die Messer folgten jeder ihrer Bewegungen.

Neshira stürmte auf die Kreatur zu, den Speer fest in der Hand. Die Messer flogen auf sie zu, und sie schlug sie mit dem Speer beiseite. Sie ahnte, dass sie sich hinter ihr wieder formieren würden, doch das kümmerte sie nicht. Mit aller Macht zielte sie mit dem Speer zwischen die glühenden Augen.

Blitzschnell wich die Kreatur aus, packte den Speer unterhalb der Klinge und riss Neshira zu sich heran. Sie verströmte eine Kälte, wie sie sie von Anghiske kannte, doch weitaus dunkler, wie das Innere eines Mausoleums. Neshira nutzte den Speer als Stütze und trat ihr aus dem Schwung heraus gegen die Schläfe. Die Gestalt zuckte nicht einmal. Ihre Schläge schienen jegliche Wärme aus Neshira zu ziehen.

Ihre Finger bewegten sich, und Neshira nutzte den Moment, um ihren Speer aus ihren Fängen zu befreien. Sie parierte ihre Schläge mit den Unterarmen und duckte sich unter den heranfliegenden Messern weg. Nur eines streifte ihren Arm. Es war kalt, als bestünde es aus purem Eis.

Fauchend sammelte sie die Magie des König Schellen um sich und ihren Speer. Goldener Schein glomm auf, dunkler als gewöhnlich, und Neshira stürzte sich auf die Schattenkreatur. Jeder Schlag schien sie erzittern zu lassen. Immer mehr geriet sie in die Defensive, und Neshira sammelte all ihren Zorn, all ihre Trauer, ihre Angriffe verschmolzen zu einem Regen aus Stichen und Schlägen.

Ein letzter Tritt, und die Gestalt stolperte rückwärts, die Kapuze beschattete ihr Gesicht, als wäre die Kutte eins mit ihr. Neshira sprang auf sie zu, den Speer zum letzten Schlag erhoben, doch die Kreatur rollte sich weg, sammelte mit einer Handbewegung ihre Messer um sich und schickte sie mit einem beinahe beiläufigen Winken dem panischen Pferd in den Hals.

Neshira schrie zugleich mit ihm. Es bäumte sich auf, Blut befleckte sein schneeweißes Fell, und mit einem letzten, entsetzten Heulen zerstob es zu einem Schwarm violetter Schmetterlinge. Sie begriff. Ophys. Pferde und Schmetterlinge sind seine Zeichen. Warum ist er hier? Warum lebte er, und die anderen nicht?

Die Kreatur richtete sich auf. Der Wind trug ihre Worte zu Neshira, und sie kannte sie. Spitz und doch rund. Eine alte Sprache, so alt wie Dämonen, die sie rief.
Der Himmel selbst löste sich auf. Die Sonnen fielen hinab und zogen Schweife aus Funken hinter sich her. Wolken verdichteten sich zu mit schwarzem Blut verschmierten Zähnen, zu langen, messerscharfen Klauen, zu einer schwarzen, verlotterten Mähne. Die Laternen, entstanden aus den Sonnen, glommen in den schwarzen Untiefen. Es roch nach verbranntem Fleisch.

Schwarze Schwingen lösten sich aus dem Firmament, der Wind fauchte mit dem Drachendämon, der sich aus dem Himmel schälte. Neshira hörte ihr Lachen, verächtlich und voller Mordlust. Ihre Augen waren ebenso leer wie die der Gestalt, gegen die Neshira gekämpft hatte.

Ihr Schrei schien ihr das Fell von den Knochen reißen zu wollen. Keuchend brach Neshira zwischen den Toten zusammen und presste die Hände auf die Ohren. Etwas Warmes rann an ihren Fingern vorbei. Neben ihrer Pfote spürte sie das Holz ihres Speers.

Sie nahm ihn und stürmte auf die Kreatur zu, doch sie beachtete sie nicht. Die Kutte löste sich auf und bildete acht Schweife. Eindringlich blickte sie Neshira an, die Augen bodenlos.

Neshira zögerte. Es gab viele Kitsune mit acht Schweifen, doch diese kannte sie. Eine Shinaru. Wurfmesser. Ein Bund mit der Banshee. Und so viele Tote, für die sie verantwortlich war, wenn sie ihren Weg nicht änderte.

Die Göttin sprang vom Himmel und riss den Traum mit sich.

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