12. Grüne Hölle
Soundtrack: Hans Zimmer - The Kraken aus dem POTC: Dead Man's Chest OST. Abspielen, kurz nachdem sie mit dem Arkanen reden. Sodass der Drop im richtigen Moment ist. Ihr kennt das.
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Der Schuss verfehlte die Flasche nur knapp. Ona fluchte gedämpft und spannte den Revolver erneut. Mit zusammengekniffenen Augen zielte sie und schoss erneut, doch die Flasche auf der Reling ließ sich von der vorbeizischenden Kugel ebenso wenig beeindrucken wie ich.
„So lange, wie du schon übst, sollte man meinen, dass du langsam besser werden solltest", spottete ich und nahm einen tiefen Schluck Gin. Ich begriff wieder, warum ich die Canwy Roch so gerne mochte. Sie spielten und soffen ebenso gerne wie ich, und nach den wenigen Tagen an Bord der Lamente hatte ich sicherlich die Hälfte der Ginvorräte vernichtet und etliche Roch beim Kartenspiel vergrault. Spielen tat nun keiner mehr mit mir. Trinken dagegen schon.
Ona wirbelte mit funkelnden Augen herum. „Dann mach es besser, Sindrak!", rief sie, halb empört, halb amüsiert.
Ich zog die Donnerbüchse aus dem Gürtel, trat näher heran und schoss. Die vier Flaschen auf der Reling zerstoben unter dem Schrot zu Glasstaub. „So macht man das", versetzte ich grinsend und sicherte die Waffe wieder.
„Mit so einer Pistole würde auch ich jeden treffen", antwortete Ona mürrisch.
„Dann solltest du dir eine geben lassen." Ich steckte die Donnerbüchse wieder in den Gürtel. „Warum versuchst du überhaupt, das Schießen zu lernen?"
„Wenn wir gegen die Vettel kämpfen, will ich helfen", sagte sie, ohne jede Angst in der Stimme. „Ich will nicht, dass ihr in den Kampf zieht, während ich untätig auf euch warte."
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn du willst, kannst du an meiner Stelle gegen die elende Hexe kämpfen. Ich habe nicht die geringste Lust, mich ihr entgegen zu stellen." Langsam festigte sich der Gedanke, ich hätte eine Wahnsinnige aus dem Bordell befreit. Vielleicht hätte ich sie doch in der Gasse in Korvengerstein umbringen sollen.
„Warum nicht?"
„Weil ich dabei verrecken könnte. Und wenn ich eine Möglichkeit hätte, nicht zu verrecken, dann würde ich sie ergreifen."
„Warum bist du dann Schatzjäger?"
Ich seufzte tief. „Schwer zu sagen." Diese Frage hatte ich mir oft genug gestellt. Doch ich schien die Gefahr anzuziehen wie Scheiße die Fliegen, und ich hatte einen gewissen Spaß daran, den Tod von Mal zu Mal zu entfliehen. Darüber nachgedacht, wie es wäre, ein gewöhnliches Leben zu führen, hatte ich oft, und es jedes Mal verworfen. Ich liebte es, dem dräuenden Unheil zu entkommen, die Gefahr in meinen Adern zu spüren wie das Serum des Hex, und ebenso wie das den magischen grünen Steinen entzogene Plasma schien sie mir Stärke und schrecklich süchtig machenden Leichtsinn zu verleihen. Die Mischung aus Angst und Draufgängertum, aus dem Wissen meiner doch beachtlichen Fähigkeiten und der Tatsache, dass jede Kugel, jeder Zauber, jeder Biss mein Tod sein könnte, war berauschender als der Gin. Wahrscheinlich müsste ich mich ohne jene Dinge unter härtere Drogen als Alkohol setzen, nur um mein eigenes Leben erträglich zu gestalten.
„Lohnt es sich, Schatzjäger zu werden?", fragte sie.
Ich zog ihren Geldbeutel hervor und warf ihn in die Luft. „Offensichtlich nicht."
Sie lachte und sah zu mir auf. „Ich bin froh, dass du mi... uns weiterhin begleitest. Ich sollte Tanqueray dafür danken", sagte sie mit einem schiefen Lächeln.
Ich erwiderte es nervös und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich am liebsten weit fort von hier wäre.
Sie schien mein Unbehagen riechen zu können. „Bring mir das Schießen bei", sagte sie und schob neue Kugeln in den Revolver.
„Wenn du meinst, dich umbringen lassen zu müssen, dann bitte." Ich leerte meine Flasche und trat schwankend zur Reling. Beinahe warf ich sie mit meinen fahrigen Bewegungen in den nebligen Abgrund. Ich kehrte zu Ona zurück und wies auf die Flasche. „Schieß."
Ona warf mir einen skeptischen Blick zu, kniff die Augen zusammen und schoss. Die Kugel flog in den Nebel, der das Luftschiff umgab, seit wir dem Grund entgegensanken.
Ich wedelte mit der Hand. „Nochmal."
Sie schoss erneut. Wieder bewegte die Flasche sich nicht vom Fleck.
Ich bedachte sie mit einem zweifelnden Blick. „Du solltest hier oben bleiben, wenn du nicht sterben willst."
Sie wirbelte zu mir herum. „Niemals." Sie reichte mir den Revolver. „Zeig es mir."
„Nein. Wenn ich treffe, ist die einzige Flasche, die wir haben, zerstört."
„Du könntest noch eine leer trinken", schlug sie vor.
Ich erwiderte ihr Lächeln. Beinahe wurde sie mir sympathisch. „Nichts würde ich lieber, doch Valentina lässt mich erschießen, wenn ich dem Laderaum zu nahe komme." Ich funkelte auf zum Oberdeck, wo Valentina mit einigen anderen Roch stand und uns beobachtete. Selbst von hier konnte ich ihr amüsiertes Grinsen sehen. „Nein, es ist deine Flasche, dein Gegner, und wenn ich ihn töte, kannst du auch hier oben bleiben und mir beim Kämpfen zusehen." Wenn sie mich denn sah. Ich würde mich so gut verstecken, dass auch die Vettel mich erst entdecken würde, wenn es zu spät war.
„Dann zeig mir, wie ich zielen soll."
Ich stellte mich neben sie, zog die Donnerbüchse und richtete sie auf die Flasche. Vorstellen, dass Schießen so schwer war, konnte ich mir nicht. „Verstanden?"
Ona hob den Revolver erneut.
„Nein", sagte ich ungeduldig. Mit Gin im Rachen hätte ich sicherlich mehr Spaß gehabt.
„Wie sonst?", fragte Ona verzweifelt.
Kurz haderte ich mit mir, ihr und ihrem nicht vorhandenen Können, dann trat ich hinter sie. „Weiter nach links. Du musst auf die Flasche zielen und nicht auf den Nebel. Dann drückst du ab."
Der Schuss gellte, es stank nach Pulver, doch die Flasche bewegte sich nicht. Ich seufzte. „Die Waffe dabei still halten ist ebenso von Vorteil."
Sie stieß meine Hand an. „Hilfst du mir?"
Für einen Moment zögerte ich, dann gab ich nach. Ich legte meine Hand auf ihre, die den Griff des Revolvers umschloss, unsere Arme aneinandergelegt, als wäre die kümmerliche Pistole so schwer, dass sie sie nicht allein halten konnte. Das helle Gelbgrün der Phiolen mit dem Serum biss sich entsetzlich mit ihrem violetten Hemd. Überdeutlich wurde ich mir bewusst, wie nahe sie war, ihr Geruch nach Schmieröl, der von dem geliehenen Hemd kam, nach dem Rauch der Schiffsschlote und ein Duft nach fremden Gewürzen, der wohl immer in ihrem Fell hing wie ein Geist aus Jade. Mit dem Daumen meiner Metallkrallen spannte ich den Revolver und zielte. „Schieß."
Die Flasche explodierte in einem Regen aus Scherben. Ona sah sich stolz zu mir um. „Nochmal!" Sie drückte den Hahn nach hinten. Ich spürte ihren Arm gegen meinen. Ihre Ohren streiften mein Kinn. Mir fiel ein, dass es unsinnig war, zu schießen, wenn man keine Flasche zum Zielen hatte.
„Alle Mann auf Gefechtsstation!"
Miriaumes Stimme riss mich aus meinem Zwiespalt aus der verwirrenden Freude darüber, dass Ona es geschafft hatte, und dem Drang, von ihr zu fliehen. Ich zuckte zusammen, mein bereits rasendes Herz stolperte. Ona kicherte an meiner Brust über meine Reaktion.
„Ladet die Kanonen! Brandbomben!", befahl Miriaume.
Die Maschinen brüllten auf, Luft fauchte in den Ballon. Ihr Stampfen klang, als wäre mein Puls tausendfach verstärkt. Ich sah auf zur Brücke, wo Miriaume weitere Befehle gab, neben ihr Tanqueray, die Arkanen und ihre Tochter. Hektisch kamen die Canwy Roch ihnen nach, ihre Schritte polterten über den stählernen Boden. Waffen klirrten.
„Sindrak! Ona!"
Ich sah mich zu Valentina um. Sie winkte uns zu sich hinauf. Schnell trat ich einen Schritt von Ona weg, und war froh, wieder Luft zwischen ihr und mir zu haben. Etwas biss in meinem Herzen, als vermisste ein Teil von mir ihre Nähe. Verwirrt trat ich die Treppen hinauf, vorbei an den herunter stürmenden Roch, Ona folgte mir.
„Die Vettel ist nahe", sagte Miriaume, den Wegfinder des Tänzers von Oren Mor in der Hand. Magie schimmerte um die Stacheln an den Schultern der Puppe. „Wir können nicht landen, es ist kein Platz für ein Schiff zwischen den Bäumen. Wir schießen euch eine Bresche frei, in der Hoffnung, die Hexe zu schwächen. Dort werdet ihr herunterklettern und euch ihr stellen."
Ich trat zur Reling und sah nach unten. Hohe Baumkronen, sattgrün und dunkel, zeichneten sich durch den Nebel ab wie riesige Vogelscheuchen, aufragend aus einem unendlichen Meer aus dichten Blättern, nur wenige Manneshöhen unter dem Kiel der Lamente. Beinahe schien es, als wären sie undurchdringlich wie fester Boden. Ich fragte mich, ob man darauf stehen konnte.
Tanqueray strich seinen Mantel glatt. Ich erkannte den Griff eines Revolvers und den eines Degens unter dem schweren schwarzen Stoff. „Wir können die Vettel nicht mehr überraschen. Zwar dämpfen die Bäume den Lärm des Schiffes, doch eine Dschungelvettel wird stets wissen, was in und um ihr Habitat vor sich geht. Sie wird uns erwarten. Deswegen müssen wir schnell zuschlagen. Sind Sie bereit, Master Herrera?"
Ich nickte bang. Mein Herz wagte es nicht, seinen Schlag zu verlangsamen, als hielte es allein das Schiff in der Luft. Der Fahrtwind ließ mein Fell sträuben, der Geruch nach Feuer und Pulver stieg mir in die Nase, als wären die Kanonen bereits abgefeuert worden. Befehle längst vergessener Kapitäne hallten in meinen Ohren wider.
Onas Stimme riss mich aus meinen dräuenden Erinnerungen. „Ich bin ebenfalls bereit", sagte sie entschlossen und hielt den Revolver hoch.
Tanqueray hob eine Augenbraue. „Dies ist kein Ort für Anfänger, Miss Canto. Sie können mit dieser Waffe kaum umgehen, und dort unten wird Master Herrera Ihnen nicht die Hand halten können."
Vielleicht wollte ich aber ihre Hand halten, wisperte es in meinem Kopf, und ich schlug den Gedanken energisch beiseite. Ich hatte andere Sorgen. Ich würde mich mit einer Dschungelvettel messen müssen. Hoffentlich war ihr leichter beizukommen als den Feuergeistern bei Woodenwyll.
„Er hat recht", mischte Valentina sich ein. „Es ist viel zu gefährlich. Bleib hier."
„Nein", knurrte Ona entschlossen. „Neshira ist meine Schwester. Ich werde nicht andere für mich kämpfen lassen."
„Sie kämpfen nicht für dich", fauchte Valentina barsch. „Sie wollen nur ihre eigenen Ziele erreichen. Du wirst sterben, wenn du gehst!"
Ona sah zu mir, und ich sah rasch zur Seite. Ich war nur noch hier, weil Tanquerays Gold mich dazu verführt hatte. Wenn er es mir nicht geboten hatte, wäre ich in Oren Mor verschwunden, und auch Onas kümmerlicher Einsatz hätte daran nichts geändert. Sie biss die Zähne zusammen. „Neshira hätte sich der Vettel auch gestellt, und ich werde es ebenso."
„Neshira Canto hat die Macht eines Gottes an ihrer Seite. Du nur einen Revolver, mit dem du nicht umgehen kannst." Valentina nahm ihre Hände. „Bitte geh nicht."
Ona trat einen Schritt zurück. „Ich muss", sagte sie entschuldigend und doch entschlossen, die Finger fest um die Pistole geschlossen.
Valentina warf Tanqueray einen vernichtenden Blick zu, als wäre er schuld daran, dass sie uns begleiten würde, und wandte sich ab. Tanqueray musterte Ona, dann mich.
„Schau mich nicht so an, ich wollte sie auch davon abhalten", wehrte ich ab.
„Miss Canto, Sie wissen, dass niemand Sie beschützen kann", versuchte er es ein letztes Mal. „Sie werden auf sich gestellt sein."
„Das war ich seit der Zweiten Katastrophe. Und nun bin ich bewaffnet."
„Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt." Er wandte sich ab und schritt mit seinen Arkanen von dannen.
Ihr Anführer blieb jedoch stehen. „Neshira hätte sich auch keinen Kampf entgehen lassen", schnaubte er. Seine Stimme war tief wie das Grollen der Maschinen im Schiffsbauch. „Aber sie weiß auch, wann sie nichts ausrichten kann."
Ona blickte ihn skeptisch an. „Du kanntest sie?"
„Ich war einer der Ratsherren. Ich, sie und zwei andere haben eine kleine Grafschaft im Norden regiert. Vor der Katastrophe." Er lächelte. „Schon damals haben wir gegen Hexen gekämpft. Es war gefährlich, und diese wird nicht schwächer sein."
Trotz der Freundlichkeit schauderte ich ob seines Anblicks, der riesigen Hauer, die aus seinem Unterkiefer ragten, der Muskeln, über die sich seine schwarze Uniform spannte, den Tätowierungen an seinem Hals und der gewaltigen zweiköpfigen Axt an seinem Rücken. Mich zu töten wäre niemals ein Hindernis für ihn. Plötzlich war ich schrecklich froh, ihn und die anderen Arkanen an unserer Seite zu wissen. Oder vor mir, sodass ich mich hinter ihnen verstecken konnte.
„Wenn du ein Graf warst, warum stehst du nun in Tanquerays Sold?", fragte Ona.
„Ich kann kein Graf sein, wenn meine Grafschaft untergegangen ist", entgegnete er trocken. „Und ich bin nicht fürs Regieren geschaffen. Als Neshira aus Grefell verschwunden ist, hat sie auch mich in den Höhlen im Gebirge gefunden. Zusammen haben wir geholfen, Jade von Nox zu befreien."
Ona riss die Augen auf. „Du bist Ruk Natar", flüsterte sie ehrfürchtig. „Sie hat mir von dir erzählt."
„Hoffentlich nicht alles", grollte er amüsiert. „Bleib hier oben. Dort unten ist kein Ort für dich. Hexen übertreffen alles, was du kennst."
Ona nickte langsam. „Ich weiß, dass es nicht einfach wird. Aber..."
„Sie ist auch hier oben nicht sicher", unterbrach ich sie und wies auf das Meer aus Pflanzen unter uns. Nebel fing sich zwischen den Blättern wie Gischt.
Ein Arm aus Ranken wuchs aus den Baumkronen, wand sich wie eine Schlange aus Holz und Lianen und begann, das Schiff zu überragen. Bereits von hier hörte ich das Klagen und Knacken, als reiße ein gewaltiger Sturm an ihm.
Ich wirbelte herum, um Miriaume zu warnen, doch sie hatte es bereits gesehen. „Feuer!"
Das Donnern der Kanonen nahm mir für einen Moment das Gehör. Flammen barsten aus dem Grün, brachen wie Blumen in den Himmel und breiteten sich schwelend über die feuchtwarmen Gehölze aus.
Ein Schuss zerfetzte den sich aufbäumenden Arm in Splitter und brennende Blätter. Ich ahnte, dass wir schreckliches Glück gehabt hatten. Neue Tentakel aus Pflanzen bildeten sich bereits.
„Nachladen!", befahl Miriaume. „Feuer frei!"
Ich spürte, wie sich die Angst an Bord ausbreitete wie eine von einer Vettel geschaffenen Seuche. Miriaume und der Bären-Anima brüllten Befehle, während mehr und mehr Pflanzen sich zur Verteidigung der Vettel formierten. Der Kanonendonner ließ kaum einen Moment der Stille. Das Klagen des sich beugenden, brechenden Holzes klang, als wäre der Wald ein lebendiges Wesen.
Ruk sah zu Ona hinab. „Ich werde versuchen, ein Auge auf dich zu haben. Für Neshira. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass wir von dort unten zurückkehren werden." Aus seinem Mund klang es wie ein Todesurteil. „Kommt mit! Zur Seilwinde im Mittelschiff!" Er wandte sich um und stürmte voran.
Ich folgte ihm auf dem Fuße. Onas Finger umklammerten mein Handgelenk, als fürchtete sie, ich könnte verschwinden und sie zwischen Roch und dem wütenden Regenwald zurücklassen. Das Bellen von Maschinengewehren mischte sich unter das Fauchen von Brandgranaten und dem ewigen Kanonendonner.
Schatten bäumten sich neben dem Schiff auf. Das Knirschen des Holzes wurde unerträglich laut, als wollte er uns verschlingen. Vier Fangarme ragten in den Nebel auf, Ranken wickelten sich um sie und verstärkten sie.
„Bei dem Unheiligen", flüsterte ich.
Wie Beile fielen die Arme auf die Lamente hinab. Sie erbebte, ich stolperte und fing mich, doch Ona fiel zu Boden. Zweige hingen in ihrem Fell. Metall stöhnte auf, als wäre auch das Luftschiff ein fühlendes Wesen, nun verstrickt in einen Kampf gegen die Macht des Waldes. Holzsplitter flogen in alle Richtungen.
Hastig zerrte ich sie auf die Beine und stürmte Ruk nach. Flammen barsten aus seiner Axt, und mit einem Kampfschrei hieb er nach dem pulsierenden, nun quer über das Deck liegenden Arm. Er zuckte nicht einmal. Die Schreie eines Roch, dessen Beine unter dem Arm klemmten, stachen in meinen Ohren, und ich zog Ona weiter, auf die Luke zum Kanonendeck zu. Weitere Männer mit Äxten machten sich daran, die Ranken zu durchtrennen, doch immer mehr Lianen krochen über das Schiff und schienen es ersticken zu wollen. Tiefer und tiefer zerrten die Arme das Schiff hinab in das Meer aus knackenden Ästen und rauschenden Blättern.
„Ruk!", brüllte ich über den Lärm hinweg.
Mit einem letzten Schlag durchtrennte er den Arm. Eine Hälfte erschlaffte, doch die zweite streckte bereits ihre grünen Finger nach ihr aus, um sie zu neuem Leben zu erwecken.
„Wir müssen eine Vettel töten!", schrie ich. Allein der Gedanke, ich müsste das in dem grünen Meer versinkende Schiff verlassen, um nach der Quelle all dieser Macht zu suchen, ließ meine Eingeweide tanzen, doch ich versuchte, nicht daran zu denken. Der Stahl erzitterte unter dem Grollen der Artillerie. Brennende Pflanzenteile und Asche regnete aufs Deck und versengte mein Fell.
„Feuer einstellen! Brandbomben laden!", brüllte Miriaume.
Tanquerays Stimme ließ uns innehalten. „Barrak, Herrera, Canto! Zu mir!"
Ein letztes Mal schwang Ruk die Axt, dann folgte er uns zu dem Gintlemen, der mit den bewaffneten Arkanen an der Reling stand. Einer von ihnen drückte uns Seile in die Hand.
„Befestigt sie an der Reling", befahl Tanqueray. „Dechantry lässt sich tiefer hinunterziehen. Wenn sie gefeuert hat, klettert ihr zu Boden."
„Aye, Sir." Ruk schlang das Seil um das Metall, die Arkanen und Tanqueray folgten seinem Beispiel.
Ich tat es ebenso. Onas Hände zitterten bei jedem Griff, so sehr, dass sie kaum einen Knoten binden konnte.
Sie bemerkte meinen Blick. „Hast du Angst?"
„So viel, dass es für alle hier reicht." Ich spürte jeden Herzschlag bis in die Spitzen meiner Krallen. Der Wille, so weit von dem dräuenden Gefecht zu fliehen, mischte sich mit der heißen Vorfreude auf spritzendes Blut und gleißende Flammen.
Krachend sank das Schiff tiefer. Ich schwankte und hielt mich an der Reling fest. Der Wald verschlang uns. Höher und höher ragten die Baumstämme um uns auf. Lianen ringelten sich, als freuten sie sich, das Leben aus uns zu würgen. Roch postierten sich an der Reling, bewaffnet mit Maschinengewehren und Brandgranaten, und feuerten blind in die grüne Hölle. Splitter fielen auf uns herab.
Sporen stoben durch die Luft und mischten sich mit der fallenden Asche. Gestalten hockten in den Ästen, Schatten in der grünen Finsternis, die selbst die Flammen kaum erhellen konnten. Es war, als erstickte der Wald jegliches Licht wie Wasser eine Kerze. Das Unterholz kam immer näher, bedeckt vom Moos, gefallenen Urwaldriesen und giftigen Blüten, bunt glühend wie Juwelen.
Ich packte den Roch neben mir am Arm. „Gib mir dein Gewehr."
Er nahm den Finger vom Abzug, sein Blick flackerte zu mir. „Warum?"
Ich nickte zu Ona. „Sie braucht es." Kurz schien er unschlüssig. „Valentina würde es wollen", versicherte ich ihm.
Noch immer skeptisch reichte er mir das Gewehr. „Sei vorsichtig damit, Mann", brummte er und rannte davon. Wohl, um sich eine neue Waffe zu holen.
Es war eines von Durenskys repetierenden Gewehren, schwer, ein wenig unhandlich und sicherlich nicht das neueste. Allein bei der Erinnerung an das Rattern der Waffen in Durenskys Fabrik begannen meine Pfoten zu kribbeln. Ob vor Angst oder Aufregung, konnte ich nicht sagen. Ich hielt es Ona hin.
Sie stolperte einen Schritt zurück. „Damit soll ich schießen?"
„Aye. Denn damit musst du nicht zielen." Ich entsicherte die Waffe, richtete sie in die dunkelgrüne Finsternis zwischen Reling und Ballon und drückte ab. Brüllend spuckte das Gewehr Blei und Feuer, der Rückstoß ließ meinen Körper vibrieren. Kurz kamen mir Zweifel, ob Ona damit umgehen konnte, doch ich schob die Sorgen beiseite. Jeder konnte mit repetierenden Gewehren umgehen. Das war es, was sie gefährlich machte.
Langsam steckte Ona den Revolver in den Gürtel und nahm ihre neue Waffe entgegen, als könnte sie beißen. „Danke", murmelte sie. Mit nackter Angst in den Augen beobachtete sie, wie der Boden näher kam.
Der Roch kehrte zu uns zurück, ein neues Gewehr in den Händen. Heulend spie es Blei in den Wald, klimpernd fielen die Patronenhülsen neben uns auf den Stahl.
Eine Gestalt löste sich aus dem Dunkel und riss ihn mit sich. Klauen fuhren auf seine Kehle nieder, und sein Schrei erstickte in seinem Blut. Der Roch neben ihm schrie auf und schoss aus nächster Nähe seinen Revolver leer, doch es kümmerte das Wesen nicht im Geringsten. Lianen rankten sich um seine ledrige Haut, Knochen und Perlen hingen an Ketten um seine eingefallene Brust, der Körper eines Mannes, der seit Jahren tot in einem feuchtwarmen Urwald lag. Seine blanken Rippen schimmerten zwischen Pflanzen und Hautresten.
Ich zog mein Schwert, und es riss dem Toten die Wirbelsäule aus dem mumifizierten Körper. Doch er fiel nicht. Die Ranken hielten ihn fest auf den Beinen. Erneut schnappte mein Schwert zu, fraß sich durch Schlingpflanzen und Knochen, und die Kreatur zerfiel in seine Einzelteile.
Onas Schrei warnte mich vor dem nächsten, doch Ruks flammende Axt beschrieb einen Bogen und teilte es in zwei schwelende Hälften. Mehr und mehr Untote, verstärkt durch Lianen, geschmückt mit Perlen, sprangen aus dem Geäst, manche mit verrosteten oder archaischen Waffen, andere mit Tierkrallen an den Fingern. Manche waren nicht einmal menschlich. Ich sah muskelbepackte Raubkatzen, Wesen mit zu vielen Beinen, um gewöhnlich zu sein, Affen mit zottigem, fleckigem Fell, alle mit leeren Augenhöhlen und verfaulten, scharfen Zähnen. Die Roch wandten ihre Waffen gegen sie, doch die Kugeln schienen sie nicht zu stören.
Innerlich fluchte ich. Kugeln halfen nie gegen Untote, das wusste ich. Man musste sie zerschlagen. Erst recht, wenn sie von den Pflanzen gelenkt wurden. Ich zog eine meiner Brandbomben und warf sie auf den größten Untoten, einen Affen, dreimal so groß wie ich. Die Flammen fraßen sein Fell, und er wirbelte mit einem stummen Brüllen zu mir herum.
Ich wusste stets, was das bedeutete. Ich riss ein zweites Schwert aus der Scheide, ließ es herausfordernd in der Hand wirbeln und aktivierte mein Hex.
Die Kolben an meinem Rücken fauchten, grünliche Flammen und Dampf zischten aus den Rohren. Pure, dämonische Magie wurde mit grünem Serum in meine Adern gepresst. Es fühlte sich an, als zerreiße es meine Blutgefäße unter dem Druck, ich bog brüllend den Rücken durch und spürte jeden Knochen knirschen. Metall und Säure breiteten sich auf meiner Zunge aus.
Als ich die Augen aufschlug, schien mein Körper vor Blitzen zu beben. Ich sah jede Kugel der Roch, jeden Rostflecken an den Schwertern der Untoten, jeden Blutspritzer in der feuchten Luft. Mir war heiß, so sehr, als fließe Lava in meinem Körper. Blitze flackerten über die Leitungen an meinem rechten Arm und knisterten um die Klinge meines Schwerts mit den zwei beißenden Klingen.
Ruk schrie seinen Zorn heraus, die Tätowierungen an seinem Hals glühten auf, die Arkanen neben ihm taten es ihm gleich. Tanqueray hatte seinen Degen gezogen und erwartete die Untoten, als würden sie sich ihm im ehrenhaften Duell stellen. Ona feuerte mit dem Maschinengewehr wahllos auf die Angreifer.
Zugleich stürzten Ruk und ich uns auf den Affen. Fellfetzen flogen an meinen Augen vorbei, langsam, als würden sie durch Sirup schwimmen, als mein Schwert sich durch seine Gliedmaßen riss. Ruks flammende Axt war ein todbringender Komet, der Kopf des Affen zersprang in Knochensplitter und fliegende Pflanzenteile. Schwelend fielen die Reste zu Boden.
Das Donnern der Kanonen war im Rausch des Hex so laut, als breche der Himmel über mir ein. Der Wald um uns verwandelte sich in ein Inferno, die Explosionen ließen das Schiff erbeben. Die Arme, die die Lamente noch immer umklammert hielten, erschlafften. Das Knacken brechenden Holzes mischte sich unter das Fauchen der erwachenden Flammen.
„Herrera!" Tanquerays Stimme.
Ich wirbelte herum. Der Gintleman wies die Bresche entlang, die die Kanonen geschlagen hatten, gesäumt von Feuer und verstreutem Holz. Ein gigantischer Baum, der Stamm so dick wie der Rumpf der Lamente, streckte seine Krone wie ein Baldachin über ein Gewirr aus plattenförmigen Luftwurzeln und den von oben danach greifenden Ästen. Leichen, nur Schemen im Halbdunkel, kaum erhellt von der Glut, hingen mit ausgebreiteten Armen im Geäst. Zwischen den Wurzeln, kaum zu erkennen, stand eine Hütte.
„Arkane, zu mir!", rief Tanqueray. „Findet die Vettel! Wir wollen ihn lebend!"
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