11. Der Aufstieg
Soundtrack: Howard Shore - Over Hill
Und Mikolai Stroinski - Commanding the Fury, sobald sie kämpfen.
https://youtu.be/trxSGpAA31Q
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„Zweifellos das Gebiet einer Vettel."
Ana sah sich um und nickte. Nackter Stein formte hohe Spitzen und lag als gigantische Kiesel zwischen Schotterfeldern und den nächsten aufstrebenden Felsformationen. Sie wirkten, als hätte jemand den dunklen Schiefer beschworen, in den Himmel zu wachsen wie die Türme der Kathedralen des König Schellen. Ein kristallklarer Bach schnitt durch das Grau und verlor sich an der Kante der Wolkeninsel im Nichts. Doch über der schroffen Idylle hing die dunkle Magie einer Vettel wie die widerspenstigen Wolkenfetzen, die sich an den Gipfeln des Gebirges verfingen.
„Wie haben Sie diesen Ort gefunden?", fragte Neshira. Neben ihr stand Anghiske bis zu den Sprunggelenken in dem Bach, seine Ohren drehten sich unruhig.
„Ich bin den Spuren der Vetteln gefolgt. Auf der anderen Seite der Insel gibt es einen Ort. Er ist nun beinahe ausgestorben. Die wenigen, die noch dort leben, sind der Vettel hörig." Ana verzog das Gesicht, als verband sie keine guten Erinnerungen mit den Eiferern. „Dort bin ich gelandet."
Neshira sprach das Wort, mit dem sie Anghiske entließ, und der Wassergeist floss mit dem Bach davon. „Sind Sie der Vettel begegnet?"
„Oh ja. Sie wollte mich töten, und ich floh in die Berge. Die Magie des Tempels hat sie aufgehalten. Vielleicht habe ich es ihr sogar zu verdanken, dass ich ihn gefunden habe." Ana rückte ihren Schwertgurt zurecht.
Neshira blickte hinauf zu den wolkenverhangenen Bergspitzen. Wind peitschte den Nebel auf und verdeckte und enthüllte das Gestein abwechselnd wie Schleier. Schnee glitzerte auf den obersten Feldern. „Er ist nicht zu sehen von hier."
„Er ist gut versteckt. Der Weg hinauf ebenso." Ana folgte ihrem Blick, offenbar nicht erpicht auf den Aufstieg. „Schade, dass Ihr Wasserpferd nicht in der Nähe des Tempels erscheinen kann."
Neshira zuckte mit den Schultern. „Ein Dämon wird weder von dem Tempel noch von seinen Wächtern geduldet. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Selbst wenn er in den Diensten einer Priesterin des König Schellen steht, ist er noch immer verbunden mit der Banshee. Werden Sie den Weg finden?"
Ana schnaubte. „Immer hinauf. Wir haben uns erst verlaufen, wenn wir wieder bergab gehen."
Neshira wies auf die Berge. Abweisend ragten sie vor ihnen auf. „Nach Ihnen." In ihrem Rücken wollte sie die Fremde nicht haben, selbst wenn sie ihr laut des Wahrheitszaubers nichts Böses wollte.
Ana musterte die Felswände abschätzig, straffte die Schultern und suchte sich einen Weg zwischen den kutschengroßen Felsen.
Neshira folgte ihr und löste ihre menschliche Gestalt. Es schmerzte nicht. Eher war es, als würde sie ein unbequemes Kostüm ablegen. Rotes Fell ertränkte ihre weiße Haut und ihre schwarzen Haare, acht Schweife fächerten sich hinter ihr auf. Ihre Kleidung passte sich ihrem wahren Körper an. Kaum einen Wimpernschlag später war sie wieder sie selbst. Neshira ließ ihren Speer wirbeln. „Gehen wir."
Ana riss sich aus ihrer faszinierten Starre und trat voran, stets parallel zu dem Wasserlauf. Wächterstatuen, manche von der Größe kleiner Hunde, andere hoch und massiv wie Burgtürme, die Gesichter mit ihren vorspringenden Hauern und riesigen, vor Zorn aufgerissenen Augen groß wie die Segel der Luftschiffe, schienen sie zu beobachten. Runen aus schwarzer Farbe entweihten die heiligen Monumente und verwandelten die grimmigen Dämonen in Harlekine. Das Werk der Vettel. Als wüsste sie, dass ihr von ihnen keine Gefahr mehr droht, so weit, wie ihr Revier nun reicht.
Steiler und steiler wurde der Boden unter ihnen, bis er beinahe senkrecht vor ihnen aufragte, höher als die höchsten Türme der Kathedralen. Der Wasserlauf tobte als Kaskade die Felswand hinab und benetzte Fell und Kleidung mit unzähligen Tröpfchen. Algen klebten an den Hauern der Statue daneben, das erste Grün, das Neshira auf der Insel sah. Seine Augen waren mit wütenden Strichen durchkreuzt, als hätte die Vettel ihn geblendet.
Hass stieg in Neshira auf. „Wenn ich dieser Hexe begegne, wird sie für diesen Frevel bezahlen."
Ana folgte ihrem Blick. „Das sollte sie."
„Ich denke, ich werde dem Hort der Vettel einen Besuch abstatten, nachdem ich den Tempel gefunden habe." Neshira prüfte sie Schärfe der gewellten Speerspitze, lang wie ein Arm.
Ana füllte ihren Wasserschlauch in dem Teich, der sich unterhalb des Falls gebildet hatte. „Der Bach fließt durch den Tempel", sagte sie. „Ich dachte, wir könnten ihm einfach folgen, doch das", sie wies auf die Felswand, „müssen wir umgehen."
„Dann führe mich."
Eine Spalte in der Felswand war der einzige Weg hindurch, und sie folgten ihr. Seitwärts schoben sie sich durch die Lücke, einen abschüssigen Pfad hinauf, feuchte Steine knirschten unter ihren Füßen. Kein Sonnenstrahl fiel zwischen die massiven Felswände. Über ihnen leuchtete ein Streifen wolkenfleckiger Himmel.
„Gibt es zu Tempeln keine sicheren, geheimen Wege?", wollte Ana wissen und befreite ihren Umhangsaum von einem Felsvorsprung. „Die Shinaru werden kaum jedes Mal hier entlang gegangen sein."
„Viele Tempel sind so erbaut, dass es eine Herausforderung darstellt, sie zu erreichen. Zwar hortet der König Schellen kein Wissen, doch die Shinaru ziehen es vor, dass keine Fremden ihre Künste erlernen." Neshira duckte sich unter einem zwischen den Steinplatten klemmenden Stein hindurch. „Sonst wäre es viel zu einfach, sie zu entdecken."
„Und falls jemand mit einem Luftschiff dorthin segelt?"
„Zu Lebzeiten der Shinaru hätte jeder, der nicht eine Flagge mit dem Siegel der Kaiserin führt, begriffen, warum nicht nur die Gnome, sondern auch die Kitsune als Erfinder der Feuerwaffen gelten." Der Geschmack von Schwarzpulver und das Donnern der schweren Kanonen, die Mündungen größer als ein menschlicher Kopf, hingen noch immer in Neshiras Erinnerungen. Es war ein Tag gewesen, an dem die Shinaru geblutet hatten, doch das noxische Imperium hatte alles verloren. Eine Flotte. Eine Armee. Einen Teil ihres mächtigen Rates. Sie hatten begriffen, dass die Kitsune stärker waren, als sie wirkten. „Gab es noch Lebende bei dem Tempel?"
„Mir sind nur Geister begegnet. Manche waren die der Shinaru, manche waren gebundene Dämonen. Und die Statuen." Ana blickte hinauf, wo das Ende der Spalte als fernes Licht zu erkennen war. „Sie wurden lebendig."
Neshira lächelte und dachte an das Geräusch von splitterndem Holz unter steinernen Fäusten. An das stumme Brüllen von Dämonen aus Schiefer und das Klirren der Ketten, die sie als Waffen schwangen.
„Den Tempel selbst habe ich nur aus der Ferne gesehen. Ich musste mich an der Grenze zwischen dem Gebiet der Hexe und dem der Dämonen halten. Beide wollten mich töten, und ich konnte ihnen nur entkommen, indem ich von einer Seite auf die andere wechselte."
Die Kluft spie sie auf ein abfallendes Feld aus Schotter, die Sonne blendete sie. Letzte Flecken aus Schnee glitzerten gleißend weiß. Bei jedem Schritt rutschten Steine unter ihren Füßen weg und kullerten dem Tal entgegen.
Stets hielt Neshira Ausschau nach der Vettel, doch sie war nicht zu sehen. Einzig ihre Aura hing über dem nackten Gestein, schien das Licht der Sonne zu dämpfen und gab Neshira das ständige Gefühl, beobachtet zu werden. Sie wusste, eine Vettel konnte mit ihrem Habitat verschmelzen. Sie würde sie erst sehen, wenn sie ihr bereits zu nahe war.
Neshira und Ana hielten sich eng an den aufragenden Steinwänden, erklommen eine nicht vollends natürliche Treppe aus mannshohen Stufen und endeten auf einem kaum eine Fußlänge breitem Grat. Zu beiden Seiten fiel der Berg steil ab, so tief, dass ein einziger falscher Tritt einen langen Fall und gebrochene Knochen bedeutete. Der Wind ließ ihren Mantel flattern und drohte, sie in die Tiefe zu reißen. Es war, als müsste sich das Gebirge ins Unendliche erstrecken, ein Meer aus Fels und Stein, doch nach nur wenigen Meilen brach es unvermittelt ab. Ein Splitter eines hohen Gebirges, schwebend in den rätselhaften Nebeln, emporgeschleudert von purer, dämonischer Zerstörungswut.
Eine Windbö trieb den Dunstfetzen am Ende des Grats beiseite und entblößte die Statuen dahinter. Zwei Hunde aus Stein, groß wie Pferde, mit wallenden Mähnen, Halsbändern aus Perlen und Glöckchen und den gleichen emporragenden Hauern wie die riesigen Dämonen zuvor, standen am Ende des Grats Wache. Keine Farbe verunzierte das dunkle Gestein, orangefarben glühend in der Abensonne. Mit jedem Schritt den Grat entlang wurde die Aura der Vettel schwächer, als vertrieben die grimmig gefletschten Zähne der Hunde die dunkle Magie.
„Wir kommen näher an den Tempel", verkündigte Neshira und schritt beschwingter voran. Nicht mehr lange, und sie würde einen Weg finden, die Hexen ein für alle Mal zu besiegen.
„Mindestens einen Tag noch werden wir brauchen." Ana warf einen skeptischen Blick zu der bereits niedrig stehenden Sonne. „Wir sollten uns einen Lagerplatz suchen."
„Lieber im Gebiet der Vettel oder dem der rachsüchtigen Geister?", fragte Neshira amüsiert.
„Dem der Geister. Mit denen sind wir wohl notfalls auf besserem Fuße."
„Ich habe genug Hexen getötet, dass ich auch mit denen fertig werden würde, sollten sie uns angreifen", erwiderte Neshira überzeugt.
„Wann haben Sie begonnen, Hexen zu jagen?", fragte Ana mit einem neugierigen Blick über die Schulter.
„Vor der Zweiten Katastrophe war ich eine Ratsgräfin, eine von fünfen in der Grafschaft, die wir uns gesichert hatten. Als wir dort ankamen, entdeckten wir die Spuren einer Heidevettel, die eine Nymphe gefangen hielt. Wir töteten die Vettel und befreiten die Nymphe, und bald haben wir gemerkt, dass sie nicht die einzige war. Sie war der Teil eines Zirkels. Eine nach der anderen rotteten wir aus, bis unsere Völker in Frieden leben konnten." Neshira blickte hinauf zu den Gipfeln. Der Wind schnitt durch ihre Kleidung, und sie zog ihren zerschlissenen blauen Mantel enger um sich.
„Und Eleutheras Zirkel? Wann sind Sie ihm begegnet?"
Still fragte sich Neshira, ob Ana sie verhörte, oder ob sie ehrlich interessiert an ihr war. Sie entschied, dass es nicht von Belang war. Die toten Hexen würden ihr keine Nachteile mehr bringen. „Nach der Katastrophe habe ich Dämonen gejagt, und alles, was die Alte Welt nach der Katastrophe ausgespuckt hat. Eines Tages wurde ich auf eine Frau angesetzt, die wohl vor der Katastrophe mehrere Dörfer in ihren Bann geschlagen hatte. Ich habe sie als eine Meervettel erkannt und getötet. In ihrer Hütte habe ich einen Zirkelstein mit dreizehn Augen gefunden. Zwei davon waren geschlossen. Ich habe daraus meine Schlüsse gezogen."
„Und Sie haben die Vetteln des Zirkels verfolgt, wie schon vor der Katastrophe", ergänzte Ana.
„Ja." Neshira setzte elegant über einen tiefen Spalt im Gebirgskamm. „Wie kommt es, dass Sie mit den Hexen zu tun haben?"
„Nicht mit den Hexen", berichtigte Ana, so leise, dass Neshira sie über den heulenden Wind kaum verstehen konnte. „Nur mit Eleuthera."
Neshira hob überrascht den Blick von dem schmalen Boden. Ana drehte sich nicht um, ihre Haare hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und flatterten in den Böen. „Was hat sie getan?", knurrte Neshira, ohne den verhaltenen Hass auf die Seuchenvettel vollends aus ihrer Stimme bannen zu können.
„Sie hat gehorcht."
Neshira stutzte. „Wem?"
„Dem Mann, den sie glaubt zu lieben."
Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen. „Misha Durensky." Neshira hatte von ihm gehört, ein Vampir, der bereits die Kriege um Alt-Adhrin gesehen und für Nox das Land erobert hatte. Die Canwy Roch um die Frau, die die Banshee beschworen hatte, hatten von ihm erzählt, ein strenger, finsterer Herrscher über eine Stadt namens Cinderport, bekannt für seine Waffen und Luftschiffe.
Ana spuckte den Berghang hinab, eine merkwürdig grobe Handlung für eine Frau ihrer Eleganz. „Eleuthera kam in das Dorf, in dem ich lebte. Sie und Durensky. Durensky befahl ihr, es dem Erdboden gleichzumachen, und sie gehorchte, ohne zu zucken. Ich musste zusehen, wie meine Familie innerhalb von Sekunden von einer Krankheit dahingerafft wurde, für die es keine Heilung gab, wie Hunde, zerfressen von der Seuche, die Kinder zerrissen, mit denen meine Schwester noch Tage zuvor gespielt hatte. Wie Durenskys Soldaten meine Freundinnen schändeten und der Mann, den ich eines Tages heiraten wollte, von Pferden über die Dorfstraße geschleift wurde, weil er es gewagt hatte, sein Gewehr auf Durensky anzulegen. Durensky hat sein Blut getrunken, und ich saß in meinem Versteck und konnte die Augen nicht von ihm abwenden." Sie blickte aus den Augenwinkeln zu Neshira, Tränen schimmerten auf ihren Wangen. „Er hat mein Zuhause, meine Heimat, zerstört, und ich will, dass er dafür bezahlt."
Neshira beobachtete, wie Anas Finger sich um den Schwertgriff krümmten. „Das tut mir leid", sagte sie lahm. „Ich schwöre Ihnen, Eleuthera wird dafür bezahlen."
„Es ist nicht einmal ihre Schuld", sagte Ana beherrscht.
„Was soll das heißen? Sie hat Ihre Familie getötet und unzählige andere vor ihnen. Sie hat ganze Wolkeninseln ausgelöscht, nur weil sie ihr in die Quere kamen. Es gibt Inseln, die gesprengt wurden, weil man Angst vor den Nachwirkungen ihrer Seuchen hatte!"
„Sie tut es nicht für sich", entgegnete Ana hohl.
„Für wen sonst? Sie gehorcht niemandem."
Ana wandte sich abrupt um, so heftig, dass Neshira einen schnellen Schritt nach hinten trat. Steine lösten sich unter ihren Füßen und fielen hinab in die Tiefe. „Haben Sie mir nicht zugehört?", fauchte Ana. „Sie gehorcht Durensky wie ein abgerichteter Hund. Sie tut, was er will. Er gaukelt ihr vor, sie zu lieben, und bringt sie mit seinen süßen Worten dazu, ihn zu lieben. Das ist es, was Vampire seines Alters können, und er nutzt es zu seinem Vorteil. Er will ein Reich erschaffen, in dem Vampire tun können, was sie wollen, in dem sie ihren Hunger am Blut der Bürger stillen und nach Belieben herrschen können. Das ist Durenskys Ziel, und Eleuthera ist nichts anderes als ein Werkzeug." Sie drehte sich um und schritt energisch dem Ende des Grats entgegen, wo er in eine Schlucht zwischen zwei Bergflanken mündete. Die Hunde schienen jeden ihrer Schritte zu beobachten.
Neshira folgte ihr, tief in Gedanken versunken. Sie hatte Durensky nie eines zweiten Gedankens gewidmet. Er war nicht mehr gewesen als der Ehemann ihrer Erzfeindin, ein weiteres Hindernis, das sie überwinden musste, um sie zu töten. Doch wenn Ana die Wahrheit sagte, war Eleuthera nicht die Bedrohung, für die Neshira sie hielt.
Sie konnte Ana Evengrey nicht trauen, dessen war sie sich bewusst. Ana war eine Fremde, jemand, der behauptete, sie zu einem Tempel des König Schellen zu führen. Scheinbar ohne einen Nutzen. Falls der Preis für Anas Wissen war, dass Neshira Eleuthera und Durensky tötete, dann würde sie ihn mit Freuden zahlen. Kurz hoffte Neshira, dass Ana in ihren Erzählungen fortfuhr, doch sie hüllte sich in gedankenverlorenes Schweigen.
Der Wind sang an ihrem Ohr, und sie drehte es in die Richtung. Etwas huschte an ihr vorbei, ein Spiel von Wolkenfetzen und Schatten. Misstrauisch verlangsamte Neshira ihren Schritt. „Ana, warten Sie. Etwas ist hier." Sie meinte, Glöckchen klingeln zu hören. „Geister, zeigt euch!", verlangte sie.
Nichts geschah. Einzig der Wind heulte über den Bergkamm.
Ana wies auf die Schlucht, und Neshira nickte. Langsam, Schritt für Schritt, schoben die Frauen sich über den Grat.
Der linke der beiden Hunde schnellte auf sie zu, eine so plötzliche Bewegung für die zuvor regungslose Statue, dass Neshira zusammenzuckte. Ana sprang vor, rollte sich ab, und die Steinkreatur landete dort, wo sie noch einen Wimpernschlag zuvor gestanden hatte. Das Knirschen von Stein auf Stein klang wie brechende Knochen.
Neshira trat einen Schritt zurück und streckte das Glöckchen um ihren Hals der Bestie entgegen. „Wächter des Tempels!", rief sie. „Ich bin eine Dienerin des König Schellen! Lasst uns passieren!"
Die steinernen Klauen des Hundes zerschmetterten den Pfad vor ihr. Im letzten Moment warf sie sich nach hinten. Anscheinend rieche ich noch zu sehr nach Dämon, als dass sie mich als Shinaru erkennen.
Das Klirren von Metall auf Stein ließ den Hund herumwirbeln, erstaunlich trittsicher auf dem schmalen Weg. Neshira duckte sich unter dem steinernen Schweif des Hundes weg und sah, wie Ana mit ihrem Schwert gegen den Hund ausholte. Doch die Klinge schlug nicht einmal eine Kerbe in die Schnauze des Tieres.
Die Kreatur setzte eine Pranke nach hinten, eine nach vorn. Mit dem Sturm schien es Atem zu holen, sein Knurren ließ den Boden unter Neshira vibrieren.
„Ana, lauf!", schrie Neshira.
Ana blickte zu ihr, im gleichen Moment, in dem der Hund bellte, ein einziger kurzer Laut, der hundertfach verstärkt von den glatten Steinwänden widerhallte. Die Druckwelle warf Ana nach hinten, sie fiel und rutschte über die Kante.
„Ana!", brüllte Neshira. Diese elende Bestie. Sie sammelte Magie um ihre Hand, bis sie von zuckenden Blitzen umgeben war. Ihr Fell stellte sich auf, in ihren Ohren summte es. Sie nahm Anlauf, sprang auf den Rücken des Hundes und rammte ihr die Handkante auf den Hinterkopf.
Risse durchzogen die glatte Steinhaut, Brocken sprangen von dem massiven Körper und flogen hinab in die Tiefe. Der Hund heulte stumm, brach auf dem Grat zusammen und versuchte sogleich, sich wieder auf die Pranken zu erheben. Bei jeder Bewegung schien er mehr in sich zusammenzufallen.
Neshira landete vor ihm auf dem Grat, rollte sich ab und erhob sich erneut. Vor ihr bäumte sich der Hund auf und stürmte auf sie zu.
Sie sprang, schwang sich an ihrem Speer herum und trat ihm nacheinander mit beiden Füßen gegen den Kopf. Der Hund zersplitterte zu Felsbrocken, die die Bergflanke hinab rollten. Steinscherben prasselten um Neshira hinab.
Neshira beugte sich hinab und half Ana auf den Grat. „Geht es dir gut?"
„Ja." Ana klopfte sich die Kleidung ab und hob ihr Schwert auf.
„Danke", sagte Neshira.
„Wofür?"
„Dafür, dass du ihn angegriffen hast. Wenn du ihn nicht abgelenkt hättest, würde ich nun nicht mehr hier stehen."
Ana lächelte und blickte zu dem zweiten Hund, der mit seinen mächtigen Krallen Furchen in den steinigen Boden schlug und nur auf sie zu warten schien. „An ihm müssen wir auch vorbei."
Mit einer schnellen Handbewegung entzündete Neshira die Blitze um ihre Hand erneut. „Betrachte ihn als besiegt." Siegessicher rannte sie auf den Hund zu, ihre Pfoten trommelten über den Pfad. Der Hund fletschte drohend die Zähne und duckte sich sprungbereit zusammen.
Er sprang im gleichen Moment, in dem sie unter ihm hinweg rutschte und hinter ihn wieder auf die Beine kam. Wütend wirbelte er herum, und sie schlug ihm mit aller Kraft die Hand mit den Blitzen gegen den Kopf. Blitze züngelten über seinen Körper und ließen seine Haut platzen. Sein halber Kopf fehlte.
Die steinerne Pranke traf sie mit voller Wucht und warf sie gegen die Steinwand der Schlucht. Schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen. Der Blitzzauber zuckte auf und erlosch. Aus der Ferne hörte sie, wie Ana ihren Namen rief. Neshira versuchte, sich auf die Beine zu stemmen, doch es gelang ihr nicht, als habe der Schlag ihr alle Kraft geraubt. Als hätte ihr Körper vergessen, wie man sich bewegte.
Das dumpfe Donnern von Stein auf Stein wurde lauter. Der Hund stürmte auf sie zu, ohne sich darum zu kümmern, dass bei jedem Sprung Teile von ihm abfielen.
Neshira schnappte nach Luft und stemmte die Arme unter sich. Beinahe gaben sie nach, doch sie beherrschte sich und kämpfte sich auf die Knie. Ihr Blickfeld flimmerte, der Hund verwischte zu einem Schleier aus Granit. Unbeirrbar stürmte er auf sie zu.
Plötzlich sprang Ana vor und rammte das Schwert zwischen das splitternde Gestein. Der Hund strauchelte und heulte stumm auf, das Kreischen von Stein auf Metall ließ Neshiras Ohren schmerzen. Wütend riss er mit seinen brechenden Klauen den Boden auf, nur um erneut auf Neshira zuzustürmen, doch mehr hatte sie nicht gebraucht.
Sie sammelte die heilende Macht des König Schellen in ihrer Hand, ein warmer, goldener Schein, und drückte sie über ihrem Herzen in ihr Fell. Rasend schnell breitete sich die Magie in ihrem Körper aus, ein Gefühl, als tauche sie in ein warmes Bad an einem sicheren Ort. Ihre Stärke kehrte zu ihr zurück, die Dunkelheit in ihren Augenwinkeln wich dem Glühen der Kraft ihres Gottes.
Flink rollte sie sich beiseite, und der Hund kam schlitternd vor der Felswand zum Stehen. Steinsplitter flogen in alle Richtungen. Neshira rammte ihren Speer in den Boden, schwang daran herum und trat ihm mit beiden Füßen gegen den Kopf.
Der Hund fiel nicht, doch sie ließ sich nicht beirren. Wieder und wieder schlug sie auf ihn ein, mit bloßen Händen, gestärkt von jahrelangem Training und eiserner Disziplin. Stück für Stück fiel er auseinander, seine Teile vermischten sich mit den Felsen um sie herum.
Ein letzter Tritt, und der Hund zerbrach. Ein Stück seiner Brust, das, auf der das Glöckchen lag, fiel neben ihr zu Boden.
Neshira sah sich zu Ana um, die ihr malträtiertes Schwert aus den Überresten des Hundes befreite. „In nächster Zeit werde ich mit diesem Schwert wohl niemanden bekämpfen können", murrte Ana.
„Wir finden eine neue Waffe für dich", beruhigte Neshira sie.
„Hier?" Ana sah sich um. Nacktes Gestein erstreckte sich in alle Richtungen.
„Die Geister der Shinaru tragen zuweilen Katanas mit sich. Sie kann man auch als Sterblicher nutzen."
Ana schnaubte amüsiert und blickte die Kluft zwischen den beiden Felswänden hinauf. Die Sonne verbarg sich bereits hinter der Bergflanke, die Schatten waren tief und unergründlich. „Wir sollten rasten."
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