Eins - Ganz friedlich
Das gleichmäßige Rattern des Zuges geht in dem hämmernden Bass des Technoremix unter wie ein Kieselstein im Wasser. Die Musik donnert einfach auf mich ein und fühlt sich trotzdem an wie gleichmäßige Wellen, in denen mein Körper sanft entlang treibt. Ganz langsam.
Ganz friedlich.
„Alter, gib ma' die Flasche rüber", fordernd streckt mir Corvin die unter Silberringen versteckte Hand entgegen. In seinen dunkelblauen Augen, die beinahe die Farbe des vor den Zugfenstern vorbeiziehenden Nachthimmels haben, glitzert bereits der Alkohol, der sich durch die Adern von uns beiden brennt.
Schweigend reiche ich ihm das halbleere Bier und beobachte, wie der Siebzehnjährige die bräunliche Flüssigkeit hinunterkippt, als käme er nach drei Tagen ohne Trinken aus der Wüste. Als Corvin meinen Blick bemerkt, grinst er amüsiert und schmeißt die Flasche zu ihren Vorgängern, die sich bereits zusammen mit einer leeren Zigarettenschachtel auf dem Boden stapeln.
Dabei steht „Rauchen und Trinken nicht erlaubt" in Großbuchstaben auf dem Schild über unserem Müllhaufen, aber wen juckt das schon. Wir beide haben schon ganz andere Verbote missachtet.
"Viel besser, dass wir zusammen an den Arsch der Welt fahren", brabbelt der Schwarzhaarige seine Gedanken aus, während er die harte Sitzbank wie eine verdammte Couch ausnutzt und an die hölzerne Decke starrt als könnte er dort Sternbilder erahnen.
Wer weiß, vielleicht kann er es ja auch? Bei dem, was er immer so raucht, gar nicht so unwahrscheinlich.
Auch ich spüre inzwischen die Wirkung des Joints, die in Form von absoluter Entspannung durch meinen Körper kriecht und jede meiner Muskeln lahmlegt. Sogar meine Zunge döst einfach nur seelenruhig in meiner Mundhöhle, unfähig auch nur ein Wort zu formen.
Ich liebe es.
Wie der Rauch meine Probleme wegbläst und meine Gedanken vernebelt. Wie Magie, die alles zum Guten wendet. Zumindest für begrenzte Zeit.
Sogar die Luft fühlt sich weicher an als sonst, schmiegt sich an meine Haut wie der Mutterleib, was ironisch ist, wenn man bedenkt, wie viele Stunden und Polizisten mich von dieser Frau trennen.
Es amüsiert mich, dabei ist es in keiner Weise witzig, dass ich sie nach meiner Entlassung nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen habe, da ihre Hände zu diesem Zeitpunkt bereits in Eisen gekettet waren. Fliegender Wechsel nennt man das wohl, alle Sportler sollten sich an uns ein Beispiel nehmen.
Aber wie mein Onkel schon immer zu sagen pflegte: Die Kellhebers sind immer gut im Knast vertreten.
„Woran denkste' ?", Corvins Stimme ist dunkler als sonst, wie immer wenn er getrunken hat. In letzter Zeit fast immer. Doch ich bin der letzte, der ihm eine Predigt halten sollte.
Wortlos zucke ich mit den Schultern, weil Reden zu anstrengend wäre. Weil das Gras meine Zunge so angenehm taub werden lässt und ich sie nicht aufwecken möchte. Ich will einfach nur die Ruhe in meinem Körper genießen und die Freiheit in vollen Zügen schmecken. Einfach nur durch die nicht vergitterten Fenster in den Nachthimmel starren und Alkohol trinken, ohne dass ich mich dazu vor irgendwelchen Wärtern verstecken muss.
„Isch denk an Marie. Wie denkste is sie?" Corvin ist so aufgeweckt, so zappelig.
„Spießig." Meine Antwort verpufft in dem kleinen Zugabteil wie der Rauch seiner Zigarette, die er lässig zwischen zwei Fingern hält.
„Isch hab gar kein Bock auf so 'ne alt' Leute Siedlung. Die hassen uns sicher alle", nuschelt Corvin und trotz meinem benebelten Gehirn, das nur langsam wie ein altersschwacher Rechner funktioniert, bemerke ich seinen lallenden Unterton.
Sie werden uns in der Tat nicht mögen, aber ihm werden sie seine schlechten Angewohnheiten verzeihen. Wie könnten sie auch ihm, dem süßen Jungen mit dem schwarzen Lockenkopf, den Alkohol und dir Drogen übel nehmen? Ich dagegen spüre die Blicke schon auf mir, wie sie mich vorwurfsvoll durchbohren, als wäre ich ein Schwerverbrecher. Nur weil meine kindlichen Züge verblasst und meine Haare noch immer den raspelkurzen Gefängnishaarschnitt haben. Alte Leute mögen sowas nicht.
Alte Leute mögen mich nicht.
Ich hole tief Luft, inhaliere den Rauch von Corvins Kippe, der meinen Körper mit wohliger Gleichgültigkeit erfüllt, während der Zug laut ratternd in den Bahnhof einfährt.
Sollen sie mich doch hassen.
Feedback und Kritik ist gerne gesehen(:
Eure Meinung zur Kapitellänge?
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