4. Die Entschlüsselung
Es war spät. Viel zu spät nach Alaiys Geschmack. Sie hatte einfach noch zu lange Fyn dabei geholfen das Glasauge weiter zu erforschen. Hatte neben ihm gesessen, Dinge nachgeschlagen und seine Erkenntnisse in Stichpunkten notiert. Viel war es aber nicht geworden. Nur zu der äußeren Hülle des Glasauges hatten sie bisher Erkenntnisse. Ihre Forschungen hatten stolpernd begonnen und noch immer wusste sie nicht, was sie von sich selbst halten sollte. Wie hatte sie sich auf so etwas einlassen können? Doch kaum das sie sich diese Frage stellte verspürte sie wieder die häusliche Atmosphäre, das Gefühl des Zusammenhalts, während sie mit ihm gearbeitet hatte. Nirgends hatte sie sich so fremd und wohl gleichzeitig gefühlt wie dort. Fyn vermittelte ihr eine Gleichstellung, ein seltsames Gefühl. Irgendwann hatte der ältere Herr mit dem Namen Effort, sie darauf hingewiesen, wie spät es war. Trotz dessen Erinnerung hatten sie noch einen weitere Stunde zusammengearbeitet, bevor Alaiy auf die nur spärlich beleuchteten Straßen trat.
Der Morgen würde in nicht mehr als zwei Stunden grauen und Alaiy wer noch immer unterwegs. Keineswegs fühlte sie sich aber müde oder gar erschöpft. Sie hatte selbst entschieden wieder in die Wohnung zurückzugehen, die sie ihr zuhause nannte. Fyn hätte ihr auch sein Sofa zur Verfügung gestellt, das hatte sie jedoch nicht gewollt. Sie wollte dem jungen Mann nicht zur Last fallen, schon gar nicht, weil sie sich erst so kurz kannten. Die Schwarzhaarige war selbst erstaunt, dass ihre Entscheidung nicht auf Misstrauen beruhte. Nein, sie hätte sich bestimmt sogar recht wohl in der Gegenwart von Fyn gefühlt, um zu schlafen. Vielleicht nahm sie ein kleines bisschen Eneg, wenn sie sich nicht ausgeruht fühlte und noch etwas des Schlafergänzungsmittels besaß. Aber erstmal musste sie nach Hause kommen. Der Flur war dunkel, strahlte ein Vorahnung des Unheils aus, dass vielleicht auf die beiden zukommen konnte. Alaiy hatte nicht vor, länger in der Dunkelheit zu verweilen, nicht wissend das diese ein guter Freund von ihr werden würde.
Wieder begrüßte sie die blecherne Stimme ihrer Mutter und Alaiy fragte sich, wie oft sie diesen Spruch schon gehört hatte. Allerdings wurde sie auch nicht müde dieser Stimme zu lauschen. Am liebsten war ihr aber das Lied, welches ihre Eltern zusammen in einen kleinen Anhänger aufgenommen hatten. Es klang leicht schief, war nicht professionell. Es rauschte leicht im Hintergrund und doch fand Alaiy diese Aufnahme am schönsten. Ihre Eltern lachten darauf und die Liebe, die sie zu ihr hatten, war einfach ersichtlich. Der Anhänger war ein kleiner zinnener Stein in der Form einer Träne. Der silbrige, ja durchscheinende Faden, an dem das Schmuckstück hing, zeugte davon, dass es aus einer älteren Herstellung und Zeit kam. Einer Zeit in der der Schmuck, nicht einfach durch Hautkontakt dort hielt, wo er bleiben sollte. Sicher verstaut befand sich der Anhänger in dem Safe der Wohnung und Alaiy hatte nicht vor diesen jemals zurückzulassen. Erst als sich hinter ihr die Tür schloss, verspürte sie die Müdigkeit und lies sich, nach einem Besuch in ihrem kleinen Badezimmer in ihr Bett sinken.
Einschlafen konnte sie trotzdem zuerst nicht. Das Glasauge hatte sie bei Fyn gelassen, hatte erst auf halber Strecke gemerkt, dass sie es dort vergessen hatte. Aber vielleicht war das sogar ganz gut so. So konnte sie nun testen, ob der Blonde wirklich so vertrauenswürdig war oder ob er sie hintergehen und das Glasauge für gutes Geld verkaufen würde. Alaiy würde es ihn nicht verübeln würde er letzteres tun, dafür war sie schon zu oft von irgendwelchen Menschen, vorzugsweise ihre Arbeitgeber hintergangen worden. Das Einzige, dass sie wahrscheinlich die nächsten Jahre quälen würde, war der Gedanke nicht das Geheimnis, um dieses Auge herausgefunden zu haben. Verlust würde sie nicht machen. Die Gesellschaft war heutzutage wirklich verkorkst. Seufzend starrte sie an ihre leere Zimmerdecke, fragte sich, ob der Sternenhimmel, den ihr Großvater zu ihrer Geburt an die Decke ihres alten Kinderzimmers gezaubert hatte, immer noch existierte. Fragen, welche sie sich normalerweise nicht stellen konnte. Sie war sonst immer zu beschäftigt. Schon sehr bald würde sie sich wieder eine Arbeit suchen müssen. Spätestens am Ende der Woche musste sie sich eine neue Einnahmequelle beschaffen haben, um diese Wohnung weiterhin bezahlen zu können. Nur ganz langsam glitt sie in einen schlaf.
Trompeten und Fanfarenklänge waren es die Alaiy nur wenige Stunden später aus den Bett fallen ließen. So plötzlich wie die Musik gekommen war, war sie nach einem Knall auch wieder verstummt. Die Schwarzhaarige verfluchte, dass ihre Wohnungstür, Geräusche von außen hereinließ, als stünde man oder in Alaiys Fall läge man direkt daneben. Angesäuert erhob sich die junge Dame wieder vom Boden auf und ließ eine Fluchsalve los. Warum zum Geier hatten die Vermieter miss hergestellte Haustüren einbauen lassen müssen? Oder warum spielten ihre einen Nachbarn immer solche Musik so laut ab? Alaiy schüttelte sich. Die Antworten waren ganz einfach. Für die Türen, weil die miss hergestellten günstiger waren und für alles andere, weil es heute kaum mehr Rücksicht gab. Nun jedoch war sie wach. Es dauerte nicht lange, da stand Alaiy gesättigt, frisch geduscht und startklar vor ihrer Wohnungstür und schloss diese hinter sich noch einmal gesichert ab. Der Himmel war dunkel und schwarze Wolken hingen dort oben. Bald würde es wieder regnen, aber wahrscheinlich viel heftiger als das letzte Mal. Alaiy konnte eigentlich schon die Sekunden zählen in denen es beginnen wurde zu stürmen. Und tatsächlich. Nach nur wenigen Schritten ergoss sich ein stetig mehr werdende Wasserfall über die Stadt. Es war fast so dunkel wie in der Nacht und die schwarze Umgebung war nicht hilfreich beim Erkennen dieser. Sie verschmolz zu sehr mit dem dunklen Regen. Der Regen durchtränkte Alaiy schon nach wenigen Minuten bis auf die Knochen und prallte stechend auf ihren Kopf, doch trotzdem kämpfte sie sich weiter. Bei solch einem Wetter war absolut niemand freiwillig draußen anzufinden.
Durch den Regen benötigte Alaiy für die Strecke zum Antiquitätenladen fast doppelt so lange, wie sie sie in der Nacht gebraucht hatte. Zudem setzte ihr der kaum vorhandene Schlaf zu. Eneg hatte sie nicht mehr genommen. Wollte sich den Rest der kostbaren Substanz noch für wichtigere Zeiten aufheben, denn so einfach kam sie nicht daran. In der Zeit, in der sie das Schlafergänzungsmittel von ihrem Arbeitgeber bekommen hatte, hatte sie immer etwas weniger genommen, als ihre Dosis war, um so etwas für spätere Fälle zur Hand zu haben. Manchmal fragte sie sich, wann diese Fälle eintreten würden. Zitternd stand sie vor der Ladentür. Drinnen war kein Licht an. Bei solchem Wetter lohnte es sich nicht den Laden zu öffnen. Es donnerte laut und schallend, als Alaiy gegen die Tür klopfte, wobei klopfte nicht wirklich das richtige Wort war. Viel mehr stemmte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf einmal dagegen und ließ ebenso ein Donnern verhören. Ihr tun wiederholte sie zweimal, bis ihr schließlich die Tür von Fyn geöffnet wurde. „Du meine Güte!", rief er aus und zog Alaiy sofort an ihrem Arm in den Laden. „Was machst du bei solchem Wetter da draußen?!", fragte er entsetzt und führte die tropfende junge Dame durch eine weitere Tür in einen Nebenraum, welcher als Wohnraum erkenntlich wurde.
„Bist du weitergekommen?", fragte sie nur und schaute ihn abwartend an. Ihr Zittern konnte sie nicht unterdrücken und sie war ihm sehr dankbar, als er ihr ein Handtuch reichte. Sanft rubbelte sie sich die Haare trocken und fragte sich, warum sie am Morgen überhaupt duschen, gewesen war. Hätte sie vorher einen Blick nach draußen geworfen, hätte sie sich diese Mühe auch sparen können. „Ja, allerdings solltest du dir erst mal etwas trockenes Anziehen.", antwortete Fyn und reichte ihr aus einem Schrank ein paar Klamotten. Wortlos nahm sie ihm die Klamotten ab. Eine Diskussion wollte sie nicht starten und sie wusste, dass ihre Kleidung keine von denen war, die sich sofort selbst trockneten. Fyns Klamotten schlackerten um ihre zierliche Gestalt, sodass die Schwarzhaarige trotz trockenen Klamotten darin fror. Sie musste improvisieren, damit ihr die Klamotten nicht abhandenkamen, wenn sie sich bewegte. Vier Knoten später hatte sie es aber geschafft und ging zum Arbeitszimmer Fyns. In seinem Wohnraum hatte sie sich nicht umgeschaut, wie sie es in jedem anderen Raum sonst ausführlich tat. Sie vertraute de Blonden auf eine seltsame Art und für sie schien sein sofortiges Kümmern der Beweis zu sein. Der Beweis, dass sie Fyn vertrauen konnte und das Band der Freundschaft tatsächlich zwischen ihnen existierte.
„Da bist du ja.", begrüßte Fyn sie und zeigte ihr sich wieder neben ihm niederzulassen. Neugierig setzte sie sich und schaute ihn abwartend an. „Nun...", machte es der Blonde spannend und grinste lächelnd. „Es ist vollkommen richtig ganz genau hinzuschauen. Ich habe fünf Vergrößerungsgläser gebraucht, um es ordentlich erkennen zu können und ein paar Teile fehlen noch, aber in diesem Auge wurde ein Bauplan oder etwas ähnliches eingearbeitet." Der Blonde zog unter den ganzen Unterlagen, welche auf dem Tisch lagen, eine grobe Skizze hervor. Es wunderte Alaiy überhaupt nicht, dass der Händler Elko-Papier verwendete, es verwunderte sie aber, dass sie dies erst jetzt bemerkte. Vielleicht, weil teilweise auch noch echtes Papier dazwischen lag. Das elektronische Papier zierte seltsame Zeichen mit Gegenständen. Alles war nur sehr grob skizziert, schwammig und verschwommen. „Ich habe mal so aufgezeichnet was ich sehe, auf der Rückseite ist die Inschrift des Glasauges.", erklärte er und ließ sich von Alaiy das Papier abnehmen. Dann widmete er sich dem Gestell unterm Schreibtisch, holte dieses herauf und stellte sich die Vergrößerungsgläser wieder ein.
Lange musterte Alaiy die Zeichnung, ließ diese ganz auf sich wirken, bevor sie sich einen der Stifte nahm und begann die groben Linien feiner nachzumalen. Dann löschte sie vorsichtig die grobe Skizze und tippte den konzentrierten jungen Mann an. „Sieht das in etwa so aus?", fragte sie und ließ ihn über die sauberere Zeichnung schauen. „Du kommst echt näher dran als ich...", murmelte Fyn nur und nickte. „Ich zeichne es dir grob vor, wenn du es verfeinern kannst.", meinte er und griff unter weiteren Unterlagen, um dort einen weiteren Stift hervorzuziehen. Still arbeiteten sie beiden ein Weilchen und die Skizze wurde immer präziser. „Du kannst das echt verdammt gut, so als hättest du es gelehrt bekommen.", machte ihr Fyn ein Kompliment und wusste dabei nicht, dass Alaiy wirklich einmal als Feinzeichnerin gearbeitet hatte und es dort gezwungener Maßen in nur wenigen Stunden hatte lernen müssen. Ansonsten wäre sie ihren Job wieder los gewesen. Hätte sie gewusst, dass sie trotzdem nach einem halben Monat gefeuert werden würde, hätte sie sich diese Mühe vielleicht nicht gemacht. Allerdings schien es jetzt doch seinen Vorteil zu zeigen.
„Danke.", sagte sie schlicht und konnte nicht wirklich mit dem Kompliment umgehen. Sie war es gewohnt, dass ihre Arbeit stumm hingenommen wurde oder lauthals kritisiert. Die Arbeit mit Fyn empfand sie als die bisher angenehmste Arbeit, die sie in ihrem gesamten Werdegang gemacht hatte. Vielleicht aber auch, weil sie diese hier freiwillig tat, was man von den anderen nicht behaupten konnte. Lange schaute sie sich die entstehende Zeichnung an. So wie es aussah schien dies wirklich ein Bauplan für ein bestimmtes Gerät zu sein. Die Beschriftungen daneben jedoch befanden sich, wie die Inschrift in einer verschlüsselten Schrift. Sie war nicht im Stande diese zu lesen, dafür erkannte sie viele der Bauteile. In unterschiedlichen Fabriken hatte sie eine Zeitlang einige davon hergestellt oder geprüft. Auf einem weiteren Elko-Papier begann sie diese Bauteile zu notieren. Bei drei Gegenständen jedoch wusste sie nicht um was es sich handelte. Sie musste darauf hofften, dass es Fyn tat.
„Ich glaube wir haben jetzt alles.", erlöste der Blonde sie von ihrer Arbeit. Auch wenn Alaiy keine Uhr hatte, ihr Zeitgefühl sagte ihr, dass es weit nach Mittag sein musste. Erschöpft lehnte sie sich zurück, mit ihrem Rücken an eines der Regale und entspannte ihre Glieder. „Du kennst die ganzen Teile?", fragte der Blonde überrascht und schaute sich ihre Notizen und das feine Abbild des sich im Glasauge befindenden Bauplans an. „Ja.", meinte sie nur knapp. Auch wenn sie theoretisch die Namen der Teile nicht wissen konnte, schließlich waren diese Namen nur für Konstrukteuren, Händler und Ersteller wichtig, hatte sie immer gut aufgepasst. Sie hatte es eben interessiert, was für Teile sie herstellte. Während andere Arbeiter schon nach wenigen Minuten vergessen hatten, von welchem Teil sie einen einzigen nicht maschinellen Arbeitsschritt übernahmen, hatte sie früher die Namen der Teile lautlos vor sich her gesungen oder einfach gelauscht, was so von den Arbeitgebern und Arbeitsaufpassern kam.
„Wir werden dies nachbauen, nicht wahr?", riss der junge Mann sie aus den Gedanken an die Gespräche der Arbeitsaufpasser. Die junge Dame hatte Mühe ihr angehendes Schmunzeln vor dem gleichermaßen enthusiastischen wie ernsten Blonden zu verstecken. Seine Art war auf verschiedene Weisen eigenartig und bisher wusste sie noch immer nicht wie sie damit umgehen sollte. Eine gewisse Distanz bestand, doch erschienen sie sich ebenso nah wie Familie. Ohne auf ihre Antwort zu warten, Fyn schien wohl fest davon auszugehen oder er nahm ihr schweigen als ja, fuhr er weiter: „Ein paar Teile müssten hinten in der Werkstatt noch zu finden sein. Allerdings müssten wir auch ein paar kaufen gehen." Der junge Mann stand auf, die Papiere noch immer in der Hand, stand auf und begann nachdenklich sich im Raum zu bewegen. So als suche er etwas, was aber nicht möglich war, da die Papiere ihm die Sicht versperrten. Er lief auch nur zweimal auf und ab, bevor er ruckartig zu Alaiy schaute und den Kopf lächelnd schief legte. „Wer von uns möchte auf den Markt?"
Es war sehr später Nachmittag als Alaiy in die Gassen der Mechanik-Marktstraße, die eigentlich keine wirkliche Straße war, einbog. Unter allen Händlerstraßen und Einkaufsmeilen war diese hier mit Abstand die zwielichtigeste und unehrlichste. Die meisten mechanischen Bauteile kaufte man eigentlich direkt vom Hersteller, wenn man denn das Geld dazu besaß. Weder Alaiy noch Fyn hatten das Geld dazu, also mussten die Angebote hier ausreichen. Die Häuser, welche diese Gassen bildeten, waren hoch und erdrückend. Licht viel kaum in die Gassen. Der Boden war sandiger und trotz des Sturmes am Morgen, an vielen Ecken trocken und staubig. Der Sturm war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben und doch durchzogen tiefere Matschpützen die Gassen. Für jemanden der dieses Wetter nicht kannte, musste es ein seltsames Phänomen sein. Hier war es jedoch normal. Froh ihre eigene Kleidung wieder tragen zu können, hatte Alaiy sich nur von Fyn einen schwarzen unscheinbaren Umhang über ihren Mantel aufschwatzen lassen. Hier war es gut, dass sie die Kapuze des Umhangs sich über den Kopf ziehen und somit ihr Gesicht durch den entstehenden Schatten versteckten konnte. Es war nicht viel los, doch die Gassen waren trotzdem besucht. Genau die Menge die Alaiy zum Untertauchen bevorzugte. Nicht zu wenig, um sofort von jedem gesehen zu werden und nicht zu viel, um sich durch die Menge quetschen zu müssen.
Fyn hatte ihr einige Händler gesagt, mit welchen er schon gehandelt hatte, bei denen sie es versuchen konnte. Einen hatte sie bisher gefunden, direkt am Anfang. Jedoch hatte der nicht gehabt was sie gesucht hatte. Wie sie alle Teile finanzieren wollten, hatten beide sich noch nicht überlegt. Im Gesamten würde es sie schon ein wenig mehr als ein Monatsgehalt kosten, etwas das Alaiy nicht zur Verfügung hatte. Sie hatte Sorgen, Fyn nicht. Der junge Mann schien generell immer Gutes zu sehen und wenig Negatives. Kurz bevor sie gegangen war, hatte er ihr einen Beutel in die Hand gedrückt mit den Worten, dies solle sie an einen bestimmten Händler verkaufen. Ihre Suche nach besagten Händler stellte sich jedoch als schwierig heraus. In dieser Meile war sie in ihrem Leben bisher nur einmal gewesen, weil ihr Öl für Miller ausgegangen war und ihre eigentliche Lieferung sich verspätet hatte. „Kann ich Ihnen behilflich sein?", fragte ein gebückter, eindeutig älterer Mann, mit einem verzerrtem Gesicht, einer eingeschnittenen Lippe und Ringen in den Ohren. Sein Rücken war krumm und sein eines Bein endete in einem metallenen Fuß. Seine Kleidung und seine Hände waren schmutzig, doch weder verwaschen noch geflickt. Er berührte sie nicht und das schätzte Alaiy sehr.
Viele Händler sahen aus als wollten sie sie sofort ergreifen, kaum dass sie erkannte hatten, dass Alaiy eine junge Frau war. Frauen wurden häufiger als leichtes Opfer angesehen und über den Tisch gezogen. Selbst in dieser Zeit war es kein Zuckerschlecken eine Frau zu sein. Teilweise weil noch höhere Erwartungen an diese bei der Arbeit gestellt wurden, als an die Männer. „Ich suche einen Händler mit dem Namen Aldruin.", erklärte sie und straffte unmerklich die Schultern. Ihr Körper war schon die ganze Zeit angespannt, doch nun spürte sie es selbst in ihren Knochen. „Aldruin, sagst du mein Kind?", leicht lachte er und deutete eine Verbeugung an. „Den hast du gerade gefunden." Er zeigte ihr seine Hand vor, aktivierte seinen augenscheinlichen Chipausweis und sofort wurde in der blutroten Schrift sein Name auf der Hand lesbar. Aldruin Garrer, seine Nummer war die 15. „Folge mir zu meinem Laden, dort kannst du mir preisgeben was du von mir erwünschst." Humpelnd setzte sich der Händler in Bewegung.
Die Schwarzhaarige folgte dem Händler zu einem kleinen Laden, dieser war wie die meisten hier auch nach draußen hin aufgebaut und besaß die charakteristischen Metalltische und Stäbe, welche ein schwarzes Tuch als Dach trugen. Alles war gepflegt und gut in Schuss, doch die Gebrauchsspuren wiesen darauf hin, dass es häufig verwendet wurde. „Nun, was führt dich zu mir, mein Kind?", fragte der Verunstaltete und trat hinter den Tresen. „Ich habe Waren für dich.", erklärte sie ihm und zog den Beutel von ihrer Schulter. Alaiy verzichtete auf eine Höflichkeitsform. Sie hatte nicht nur den Vornamen, sondern wurde selbst von ihm geduzt. Und wenn sie für ihn noch als Kind galt, so musste sie es jetzt nicht extra auf eine andere Ebene heben. „Dann lass mich mal sehen." Langsam und gemächlich holte Alaiy die Dinge aus dem Sack. Sie hatte zwar keine Ahnung, was sie dort auspackte, Fyn hatte ihr nur den ungefähren Wert der Gegenstände genannt, aber das machte ihr nichts aus. Aldruin jedoch schien ganz genau zu wissen um was es sich handelte und nahm sofort die Gegenstände in Beschlag um sie mit einer Lupe eingehend zu betrachten.
„Wie viel möchtest du für alles haben?", fragte der Händler und sie lächelte nur mild. „Wie viel würdest du denn dafür bezahlen?" Rau lachte der Händler auf. „Gewitzt, gewitzt...", lachte er und drehte die auf den Tisch liegenden Gegenständen weiter in den Händen hin und her. „Ich zahle jeden Preis, den du verlangst." Seine Stimme war ernst und seine Augen begannen wild zu funkeln. „Vorausgesetzt du kannst eine Runde Würfel gegen mich gewinnen, ansonsten bezahle ich den Preis, den ich dafür bezahlen möchte." Es war ein verlockendes Angebot einfach so viel Geld einnehmen zu können, wie man wollte, doch Alaiy war nicht ganz damit einverstanden. Wette und Glückspiel war nicht wirklich ihres. Vor allem wenn es so vage gestellt wurde. Und es war hier sehr vage gestellt. Ihr hatte es gereicht zu sehen, wie zwei ihrer Nachbarn durch Glückspiel in den Slums landeten. „Tut mir leid, ich bin nicht für Glückspiel zu haben.", lehnte sie also ab und klang dabei kälter, als sie selbst von sich gewohnt war. „Schon gut mein Kind!", zog der Händler sofort zurück und nannte ihr nun seinen Preis für die Gegenstände. Es war ein angemessener Preis. Sogar etwas über dem Wert den Fyn ihr genannt hatte. „Das ist ein Deal.", lächelte sie also und sie gesiegelten den Kauf mit einem Handschlag. Das sanfte Kribbeln, welches danach über ihre Hand fuhr, bestätigte die Zahlung des Händlers. Der Ausweischip Aldruins hatte ihnen die Zahlung per Hautkontakt ermöglicht.
Alaiy sah ruhig dabei zu wie der Händler nun seine Waren vom Tisch räumte und diese in Kisten im Hinterraum verstaute. „Mein Kind! Du bist ja noch da.", stellte er überrascht fest. Die Schwarzhaarige verkniff sich ein überflüssiges Kopfnicken. „Ich brauche bestimmte Teile. Das ist der wahre Grund, warum ich hier bin.", erklärte sie und reichte dem Händler den vorbereiteten Zettel. Darauf hatten sie die Namen der Bauteile notiert. Ein einziges Bauteil kannten sie aber beide nicht. Stattdessen hatte Alaiy eine Skizze von diesem Teil dazu gemalt. Rau lachte Aldruin auf. „So macht man Geschäfte!" amüsiert wandte sich der Verunstaltete ab. Er warf nur einen kurzen Blick auf die Namen, bevor er murmelnd die Teile aus seinem Laden einsammelte. Plötzlich stockte er in seinen Bewegungen. „Dieses Bauteil ist seit Jahren nicht mehr in Benutzung!", stieß er aus und kehrte zu Alaiy zurück, um auf das unbekannte Teil zu zeigen. „Was möchtest du damit, mein Kind?", fragte er und Neugier blitzte in seinen Augen. Alaiy ließ sich nicht anmerken, dass sie am liebsten zynisch mit „Etwas bauen, was soll man sonst mit Bauteilen machen?" geantwortet hätte verkniff es sich aber dann. Stattdessen schaute sie ihn nur ausdruckslos an, hob ihre Augenbrauen und musterte eindringlich den Händler. Sie musste klug handeln.
Tatsächlich hob der Händler keine Sekunde später beschwichtigend die Hände: „Schon gut, ich hab nie gefragt." Die Ohrringe klimperten als der Händler den Kopf schief legte und sich verschwörerisch vorbeugte. „Jedoch, dieses Teil..." Aldruin zeigte auf Alaiys Skizze. „...bekommst du nur an einem Ort. Ich kann es dir bestellen, wenn du das möchtest. Eine so reizende, angehende Dame möchte ich nur ungern in diese Gegend schicken. Keine Sorge. Ich gebe dir mein Ehrendaton auf die Ware." Aldruin war ein besonderer Händler. Er schien ganz genau zu wissen, wie er auf ihre Zweifel zu reagieren hatte. Dass er bei solch einer Aussage sogar einen Ehrendaton geben wollte, hieß schon etwas. Nein, es hieß mehr als etwas. Zu genau wusste Alaiy die Bedeutung von Ehrendatonen. Ihre Mutter hatte es ihr erklärt, nachdem ihr Vater damals hatte auch einen schwören müssen. Verstieß man gegen einen Ehrendaton war man sein Leben darauf für immer gezeichnet und wurde von der Gesellschaft verstoßen. Nur die Gnade des Allsehers war dazu in der Lage dies Rückgängig zu machen. „Damit bin ich einverstanden. Die Ware kommt unbeschädigt zu mir, nachdem ich dir das Geld dafür gebe.", sagte sie zu. Der Händler nickte und sie schlugen wieder ein.
„Ich habe nicht alle Teile da, aber die meisten. Ein paar Straßen weiter unten irgendwo auf der linken Straßenseite findest du eine Händlerin, die die restlichen Teile besitzt, die du suchst. Sag das du von mir kommst. Ihr Name ist Ramona.", erklärte Aldruin und schickte Alaiy wenig später mit einer gefüllten Tasche weiter. Erstaunlicher Weise hatte sie trotz dessen, dass sie nicht weniger vom Händler gekauft als verkauft hatte Profit gemacht. Besonders erstaunte sie aber der Betrag des Profits. Damit konnte sie ohne Umschweife die restlichen Teile bezahlen, ohne auf ihr eigenes Geld zugreifen zu müssen. Ramona war im Gegensatz zu Aldruin nicht schwer zu finden. Laut polternd, stolpernd und fluchend rannte ein Mann aus einem Laden heraus. Eine stämmige rothaarige Frau wollte ihm hinterher, als ein kleiner schmächtiger Mann sie festhielt. „Ramona! Beruhige dich wieder!", sagte der Schmächtige und schaute die Rothaarige eindringlich an. „Er wollte uns bestehlen!", herrschte diese und riss sich los, blieb aber stehen, wo sie war. Alle in der Straße schienen solche Szenen schon gewohnt zu sein, denn das Treiben ging ganz normal weiter. Alaiy jedoch war beobachtend stehen geblieben.
Der schmächtige Mann zog sich wieder in den Laden zurück und bediente einen weiteren Kunden. „Hey du! Was glotzt du so blöd?", pöbelte Ramona und innerlich zuckte Alaiy erschrocken zusammen. Die Händlerin war kräftig gebaut. Kräftiger als manch hart arbeitender Mann, den die Schwarzhaarige kannte. Ihre Haltung bewahrend trat sie näher und sagte fest: „Aldruin schickt mich zu einer Händlerin namens Ramona. Ich suche bestimmte Metallteile." Das verärgerte Gesicht der Händlerin veränderte sich zu einem leicht erstaunten, bevor sie einladend die Hand erhob.
„Aldruin also? Na dann, komm rein. Ich werde haben was du suchst!"
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