14. Die Aufseherin

Erschrocken drückte sich Alaiy von der Mauer weg, stolperte zurück in die dichten Büsche, aus denen sie gekommen war. Schnell ließ sie ihre Beine nachgeben und drückte sich mit den Rücken an den nächsten dicken Baum. Die Überlebensbox drückte sich in ihren Rücken. Alaiy war sich selbst dankbar den Platatosetzling in diese gepackt zu haben, um sie sicherer zu verwahren. Nun wurde sie nicht wie die Mullbinden zusammengequetscht. Sie versuchte sich so leise wie möglich zu halten. Ihr Atem ging schnell und flach. Sie spürte das Adrenalin klar und deutlich, es wurde ihr fast unangenehm, weil es ihr sagte: Renn! Aber sie wollte nicht, konnte nicht. Ein ekliges Lachen erfüllte die Luft, rau und sadistisch. „Ach, Kumpane, wir werden sie aufreißen, ich hätte meinen Spaß daran, diese Ratte zu zerfleischen." Sie hörte die Schritte. Sie waren noch ein Stück entfernt, nicht weit. Die Schritte klangen auf dem harten Boden stumpf. Die Schuhe gaben fast klackende Geräusche von sich, wie Metall, das auf Metall traf. „Daran hättest du wahrlich deinen Spaß...", lachte der andere nicht weniger freundlich.

„Ich hoffe, die andere Ratte...", die Worte verklangen im Wind, im Rauschen der Blätter. Alaiy schluckte. Hart schlug ihr Herz gegen ihre Brust. Sie hatte das Gefühl es wolle herausspringen, sie zerreißen. Sie hatten Fyn. Sie hatten Fyn erwischt. Siedend heiß schoss die Angst durch ihre Venen. Erfüllte sie mit Schüttelfrost und Starre. Ihre Muskeln waren angespannt, sie hatte das Gefühl nichts und alles gleichzeitig zu sehen, soweit ihre Augen geöffnet waren. Sie brannten. Der Tropfen, der nass über ihre Wange lief war genauso unbedeutend, wie der Fakt, dass sie gerade an einer Entdeckung vorbei geschlittert war. Sie stolperte ein paar Schritte vor, weg von der Mauer. Klammerte sich erneut an einen Baum. Fyn war gefangen genommen worden. Sie glaubte nicht daran, dass es nicht Fyn gewesen war. Wenn es aber hieß, dass sie Fyn hatten, so bedeutete das auch, dass es gut war, dass sie ihn hatten. Er als ehemaliges Aufseherkind, hatte das Privileg einer öffentlichen Hängung, selbst bei betreten der Grenzgebiete. Alaiy hatte das nicht. Auch wenn sie nicht wusste, ob es ein schönes Privileg war.

Eilig kramte sie unter ihrer Jacke die Kette hervor. Sie spürte wie die Panik stieg, wie der Atem stockte, die Luft sich zuschnürte. Sie musste sich auf etwas anderes konzentrieren. Die Bilder des Flusses kamen zurück, begannen sie erneut zu ersticken. Fyns Anwesenheit hätte eine solche Panikattacke verhindert, hatte sie bisher verhindert, das Adrenalin bei der Flucht, doch nun, nun war es zu viel. Jetzt nach so vielen Malen, die sie gerade so der Panik entkam, war sie nun schneller da, als sie sie herunter kämpfen konnte. Die Schwarzhaarige schaffte es gerade noch so die Audio zu starten. Sie konzentrierte sich auf ihre lachenden Eltern, das schiefe Lied, das sie sangen. Es half. Sie wusste nicht, wie lange sie das Lied statisch wiederholte. Mechanisch immer und immer wieder, bis ihre Lunge ihr wieder Luftzufuhr meldete. Sie atmete wieder. Erleichtert ließ sie sich gegen den Baum sinken. Spürte nun wieder den Schmerz, den die Sachen in der Tasche bei ihr verursachten. Sie spürte die kühle, beißende Luft, roch den Wald. Sie schloss die Augen, wischte sich die Tränen weg und spielte nun ein letztes Mal das Lied ab. Noch immer klang es blechern in ihren Ohren.

Sie seufzte, dankte im Stillen ihren Eltern. Ihre Beine waren wackelig, während sie sich erhob. Ihr Hals brannte vom heftigen Atmen, Kopfschmerzen waren eingezogen. Nein, zurück würde sie nicht. Langsam, noch immer den Kopf nicht vollkommen klar, begann sie einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie folgte den Aufsehern. Der Mauer. Vielleicht war es keine gute Idee, doch die Einzige, die sie hatte. Die einzige Idee die sie zu Fyn bringen würde. Es dauerte nicht lange. Den restlichen Tag lief Alaiy die Strecke entlang. Folgte den Weg ihrer Freiheit oder ihres Verderbens.

Gebäude erhoben sich aus der Dämmerung. Die Fenster erleuchteten die Umgebung spärlich, aber ausreichend. Sie konnte die Häuser und deren näheren Umgebung erkennen, die Soldaten und Aufseher niederer Ränge waren erleuchtet. Stimmen wurden an ihr Ohr getragen und Alaiys Aufmerksamkeit wendete sich ihnen sofort zu. Sie konnte kein Wort verstehen, der Schall war zu undeutlich und genau sagen woher die Stimmen kamen konnte sie auch nicht. Plötzlich wurden sie stiller. Alaiy bekam das Gefühl, dass gleich etwas Großes passieren würde, wenn so eine Stille einkehrte. Es war eine Stille, die sie normalerweise nur vom Aufseher-Platz kannte. So bedrückend, so respektvoll. Alaiy zog sich wieder weiter in den Schatten zurück und folgte dem Waldrand zum nächsten Gebäude. Geräusche kamen daraus hervor. Tiefes Schnauben und leises Geklapper.

Dieses Gebäude war anders. Es bestand weniger aus den neuen Baumaterialien, sondern aus älteren. Gut in Stand gehaltene Holztüren zierten es. Es besaß ein großes Vordach und Eisenringe schmückten die Wände. Ganz kurz erhaschte Alaiy ein Blick durch eines der Fenster, stockte und drehte sich zurück. Pferde! Echte Pferde! Verdammt! Fassungslos starrte sie auf das schnaubende Tier, welches unruhig scharrte. Liebend gerne hätte sie ihre Hand zu es ausgestreckt, die Wärme eines echten Tieres gespürt. In ihr wuchs das Verlangen. Sie war einem echten Tier so nah wie noch nie. Ein bisschen fühlte sie sich wie eines der hochnäsigen Aufseherkinder, die mal wieder quengelten, weil sie etwas haben wollten. Fast vergaß sie wo sie eigentlich genau war und riss sich gerade noch rechtzeitig von dem Anblick los. Ein bisschen strauchelte sie zurück hinein in ein Gestrüpp, als ein Soldat hinterm Fenster das Tier aus der Box holte.

Tief atmete sie durch. Das war knapp gewesen. Ihre Konzentration sollte sie nicht noch mal so fallen lassen. Sie musste hier vorsichtig sein. Langsam schlich sie sich weiter um das Gebäude herum. Kurz wog sie ab, ob es eine gute Idee war auf den Dachboden zu klettern, doch dann entschied sie sich dafür. Die Leiter knarzte unangenehm unter ihren Füßen. Sie hoffte nicht damit abzustürzen. Oben lag überall Stroh und Heu und sie schlug sich durch das trockene Gras hindurch zu dem Fenster. Mit Leichtigkeit konnte sie von dieser Plattform, diesem Dachboden, zu den Tieren herunterspringen, vielleicht konnte ihr das noch nützlich sein, doch vorerst war sie ganz gut sicher hier oben. Als sie das Fenster öffnete wurden auch die Stimmen wieder klar. Der größere Platz, die die Gebäude umschlossen bildete sich vor ihr ab, während sie hinaus starrte. Die Erde erhob sich unter ihr schwarz, kein Laub, kein Blatt lag darauf, kein Grasbüschel wuchs. Links erkannte sie einige metallene Zäune, an die weitere Pferde gebunden waren. Nicht unweit dahinter erhob sich das Tor. Es war groß genug für drei der Pferde nebeneinander und mindestens auch mehrere Mann hoch. Jedoch bestand das Tor an sich wieder aus einem Material das Alaiy mehr als gut kannte. Es war dasselbe Leichtmetall, aus dem auch alle anderen Großtüren der heutigen Zeit bestanden. Es würde kaum mühe bereiten es zu öffnen. Weiter rechts erhoben sich schaurig die verschiedenen Gebäude, doch denen schenkte Alaiy keine weitere Aufmerksamkeit. Gefühlt alle Soldaten waren unter ihr auf dem Platz angetreten, schön in Reih und Glied wie es sich gehörte. Die Aufseher standen daneben, seitlich aufgereiht. Alaiy zählte mehr als dreißig Mann.

Sie alle starrten das Schauspiel vor ihnen zu. Für einen Moment hatte Alaiy Fyn gar nicht erkannt. Sein Haar und seine Kleidung waren schwarz, verschluckt unter Kohle, soweit sie es sehen konnte. Der Schmutz klebte ihm auch im Gesicht. Seine Hände waren auf seinem Rücken gefesselt, schön über Brust und Hals, sodass dieses Seil gleich als Leine funktionierte. Er kniete auf dem harten Boden, wurde von der Leine zu Boden gezogen, die dort an einem Eisenring befestigt war. Alaiy schluckte. Es sah nicht sonderlich gut aus. Sie war zu weit weg und Blut an ihm zu erkennen oder anderweitige Verletzungen, doch noch mehr besorgte sie die Frau, die vor ihm stand. Der Goldene Rand auf ihrer Aufsehermütze wies sie als eine noch höher gestellte Aufseherin aus, als der Aufseher, der ihre Provinz betreute. Sie war eine Kontrolleurin, eine Aufseherin, die sich um recht und Ordnung in der ihr zugeteilten Provinzen kümmerte. „Soo..." Sie zog das Wort unnötig lang, lief die Reihe vor Fyn auf und ab.

Ihre Stimme war kalt. Sie ließ Alaiy einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Es fühlte sich an als würde ihr Herz gefrieren. „Du hast es bis hierhergeschafft. Bist du Stolz auf dich?", fragte sie und blieb wieder vor ihm stehen. Fyn richtete sich so weit wie möglich auf. Er versuchte hinauf zu schauen. „Das ich hier bin, zeigt nur wie schlecht ihr seid, also ja.", antwortete er und Alaiy zog die Luft ein. Wie konnte er in dieser Situation nur provozieren? War Fyn verrückt geworden? Doch anders als erwartet wurde er nicht wegen den frechen Worten bestraft. Noch nicht, da war sich Alaiy sicher. „Und doch haben wir dich bekommen, mein Sohn." Es war die Art und Weise, wie die Aufseherin „mein Sohn" aussprach, bei der Alaiys sich sämtliche Härchen aufstellten. Es trifte voller Hass und Abscheu. Von etwas das die Schwarzhaarige nicht mal beschreiben konnte. Es war nicht das übliche meine-Kinder-Geschwafel, das war mehr. Weitaus mehr.

„Und nun?", fragte Fyn als sei es das einfachste der Welt. Seine Stimme war sarkastisch, provozierend. Es war als wüsste er ganz genau mit wem er sich anlegte. „Bist du jetzt stolz auf dich, dass du mich gefangen hast, Mutter?" Alaiy stockte der Atem und während Fyn einen scharfen Tritt in die Seite bekam, sickerte ganz langsam die Erkenntnis in Alaiys Kopf, was das „mein Kind" so anders gemacht hatte. Das war wirklich Fyns Mutter. Es war die Frau, die ihn geboren hatte, welche ihm gerade in die Seite trat. „Du bist schon lange nicht mehr mein Sohn!", spuckte sie aus und Fyn begann zu lachen. Es klang schäbig und unter Schmerz und stockte augenblicklich als sie ihm nochmal in den Bauch trat, doch das hielt ihn nicht ab zu antworten. „Natürlich nicht, du hast aber auch noch nie versucht meine Mutter zu sein." Ein weiterer Tritt, diesmal in Fyns Gesicht. Seine Lippe platzte auf, er spuckte Blut aus. Alaiy hatte das Gefühl den Schmerz selbst zu spüren. Wie hart musste es sein, wenn die eigene Mutter einen so behandelte? Sie war einfach fassungslos.

Konnte sie etwas unternehmen? Fieberhaft suchte sie nach einer Möglichkeit Chaos zu verursachen, das ihr so viel Zeit, Unaufmerksamkeit wie möglich verschaffen würde. Ihr Blick fiel auf die Pferde. Sie könnte sie frei lassen. „Wenn die Rundläufer zurück sind, werden zwanzig von euch den Vergelter zur Stadt bringen! Mit dem anrückenden Trupp, werden fünf von euch ziehen und forschen...", die Stimme der Frau plätscherte in Alaiys Hintergrund, während sie sich zu den Pferden hinunter lies. Vielleicht war es eine gute Idee. Vielleicht erwies sie sich aber auch als totaler Reinfall. Sofort steckten die Pferde, kaum das sie unten war ihre Köpfe neugierig zu ihr aus. Alaiy seufzte, während sie eine Box nach der nächsten öffnete. Für einen Moment war sie mehr als froh, dass es einfache Schlösser waren. Keine groß gesicherten, so wie die, die sie an den anderen Gebäude sah. Manche der Tiere kamen schon hinter ihr her getrottet. Beschnupperten ihr Haar und ihre Taschen.

Auf der einen Seite war Alaiy von den großen Tieren beängstigt auf der anderen Seite beruhigte es sie das es echt Lebewesen waren. Sie würden ihr weniger wehtun als die Metallpferde, die kleine Kinder nicht registrierten. Noch heute hatte sie eine Narbe an der Stelle, wo sie der Metallene Huf gestreift hatte. Es war mitunter eine der ekligsten Verletzungen, die sie gehabt hatte. Den Gedanken vertreibend, öffnete sie noch die letzten Boxen und dann die seitliche Tür. Ein Pferd begann hinter ihr zu wiehern, als es die angebundenen Artgenossen erblicke und trappte los. Alaiy stolperte mit, hoffte hinter dem Tier im Schatten zu verschwinden. Rufe wurden laut, als die freilaufenden Pferde entdeckt wurden, doch Chaos konnte man das keinesfalls nennen. In verzweifelter Aktion haute Alaiy mit einem lauten Pfiff einem der Tiere auf den Hintern, welches darauf erschreckte und ausschlug. Nur knapp konnte sich Alaiy retten, fast hätte es sie getroffen. Durch das erschreckte Pferd jedoch, stoben nun auch die anderen Auseinander und gerieten in Panik.

Die lauten Rufe vermehrten sich, die angebundenen Pferde wurden unruhig, manche rissen sich schon los, weil ein anderes Pferd im Tänzeln zu nah kam. Alaiy währenddessen schlug sich durch die Pferde durch, haute dem ein oder anderen anfeuernd auf die Oberschenkel, da sie merkte das dies effektiver war und band einige los. Langsam bildete sich das Chaos, das sie haben wollte. Die Soldaten versuchten die Pferde einzufangen. Sie verließen ihre Positionen und verstreuten sich. Die Befehle der Aufseherin gingen in dem wiehernden und hufgeklapperten Lärm unter. Derer Boden war, wie Alaiy erwartet hatte laut. Die Hufe und Hufeisen der Tiere klapperten mit lauten Donner darüber. Erzeugten damit wieder Lärm, der die Tiere in ihrer Aufgewühltheit noch mehr zerstreute. Endlich sah Alaiy eine Lücke und stob zu Fyn durch. Das Messer war schnell aus ihrem Schuh gefischt und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie es geschafft hatte das Seil an mehreren Stellen zu durchtrennen. „Alaiy...", murmelte Fyn erfreut, „...schön, dass du da bist." Sie starrten sich einen Moment in die Augen. Fyn lächelte sie sanft an. „Wir haben keine Zeit zu lächeln!", erwiderte sie und Fyn nickte nur langsam. Er versuchte sich das Blut von den Lippen zu wischen und verschmierte es damit eigentlich nur mehr über sein Gesicht. „Weißt du was?", murmelte er und spuckte erneut eine welle Blut aus. Seine Lippe sah übel aus. Die Aufseherin hatte sich keinesfalls zurückgehalten.

„Ich glaube ich weiß nun warum Edwardo dich dafür ausgewählt hat. Du hast es in deinen Augen." Verwirrt wollte Alaiy fragen, als sie Fyn gerade noch rechtzeitig zu Seite ziehen konnte, bevor ein Pferd sie überrannte. „Dort sind unsere Sachen.", teilte er atemlos mit und deutete dann auf eine weitere Reihe Pferde, die Alaiy bisher noch nicht gesehen hatte. Seine Beine waren wackelig und er sackte wieder in sich zusammen, als er versuchte aufzustehen. Die Seile hatten schöne Abdrücke auf seiner Haut hinterlassen und Alaiy konnte an seinem Bein eine weitere Wunde erkennen. Sie war nur notdürftig, von einem Soldaten wahrscheinlich verbunden worden. Nicht ordentlich nur zum Stillen der Blutung. Fyn gab dann doch wieder ein tolles öffentliches Hinrichtungsopfer ab und hatte schlussendlich wieder das Privileg dazu. Die Schwarzhaarige nickte verstehend und half Fyn aufzustehen. Sie hatten jetzt keine Zeit zu verlieren und wenn sie Fyn dafür tragen musste.

„Dann los!"

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