11. Das Fieber
Alaiy wusste nicht, wie sie so geistesgegenwärtig gewesen sein konnte, den Kompass aus Fyns Jacke zu fischen. Doch damit gestaltete sich ihr zurechtfinden deutlich einfacher. Kalter Wind blies durch den Wald und Alaiy fröstelte. Sie musste sich definitiv beeilen wieder zu dem Antiquitätenhändler zurück zu kommen. Einen geeigneten Platz hatte sie gefunden, er lag nicht unweit von der Stelle entfernt, an der sie Fyn zurückgelassen hatte. Zuerst musste sie den jungen Mann dorthin bringen und dann konnte sie sich darum kümmern ein paar Äste, Gestrüpp und ähnliches mal zusammen zu zimmern. Sie wusste zwar nicht, ob es so funktionieren würde wie sie sich das dachte, aber sie brauchten Schutz vor dem Wind. Schutz vor der beißenden Kälte die sich in ihre Glieder fraß. „Hörst du mich?", fragte sie und kniete sich erleichtert neben den Blonden. Ein Teil von ihr hatte schon befürchtet, diesen nicht mehr aufzufinden, sollte sie zurückkommen. Ihre Erleichterung schwang aber sofort wieder in eine stechende Sorge um. Der Blonde war blass, seine Augen zu, seine Lippen blau und sein Atem so flach, dass sie für einen Moment befürchtete, dass er nicht mehr atmete. Doch sie konnte die Wärme seines Atem an ihrer Handfläche spüren.
„Komm zu dir, komm schon.", versuchte sie ihn aufzuwecken, doch es brachte nichts. Sie hatten zwar vor nicht allzu langer Zeit in dieser Kälte geschlafen, doch ein weiteres Mal sollten sie das nicht machen. Erst recht nicht in Fyns Gemütszustand. Das war viel zu gefährlich und dieser Gefahr wurde sie sich jetzt noch ein weiteres Mal bewusst. Sie wischte sich hektisch ihre Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte noch einmal zu den Rucksäcken. Sie hingen noch immer an dem Ast und ihr war klar, dass sie diese später holen würde. Zuerst war der Blonde dran. Sie griff den Antiquitätenhändler unter den Armen und musste ihn wohl oder übel über den Boden ziehen. Fyn stieß unverständliche Laute aus, während Alaiys Arme zunehmend protestierten. An der Statur des Blonden erkannte sie, dass er durch die viele körperliche Betätigung zwar schon an Gewicht verloren hatte, doch es reichte um Meilen nicht aus, um auf Alaiys mögliches Tragegewicht zu kommen. Den Blonden jedoch für wenige Sekunden abzulegen wollte sie jedoch auch nicht. Der Boden war noch immer schlammig und das Wasser floss in kleinen Bächen und Fugen den Hang hinab. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis sie den fiebernden Körper dort hatte, wo sie ihn haben wollte.
Sie legte Fyn auf eine Stelle des Abhanges ab, die für einen Moment gerade lief, gestützt durch einen untendrunter liegenden Stein, bevor er noch steiler wieder dorthin führte, woher sie kamen. Das Regenwasser floss rechts und links an dieser Stelle ab, sodass es, abgesehen vom Regen doch sehr trocken war. Zumindest so weit wie man trocken definierte. Auf der anderen Seite jedoch, waren sie hier sehr ungeschützt dem Wind gegenüber, sodass Alaiy das Gefühl bekam ihre Kleidung wäre auf ihrer Haut festgefroren. Ihre Finger zitterten und waren teilweise schon bläulich angelaufen, während sie mit ihrer letzten Kraft und dem Messer aus ihrem Schuh Tannenzweige abbrach. Sie brauchte viel länger als sie selbst erwartet hatte um mit den Tannenzweigen, Laub, Moos und längeren Stöcken, die sie schaffte abzubrechen ein solides Tippi zu bauen. Es reichte gerade so aus, sie einseitig vorm Wind zu schützen und vor dem weiteren Regen, der auf sie niederprasselte. Sie hatte vollkommen den Überblick über die Tageszeit verloren, wusste nicht, ob es noch hell oder dunkel war. Ihre Glieder schmerzten, vor Kälte und der Nässe, der Anstrengung der letzten Stunden. Der Antiquitätenhändler schlief noch immer, regelmäßig hatte sie kontrolliert, dass er noch atmete. Ihre Angst ihn zu verlieren hatte sie immer weiter dazu angetrieben weiter an diesem Unterschlupf zu bauen.
„Alaiy?", nuschelte Fyn und löste damit verschiedene Flashbacks in Alaiy aus. Sie konnte wieder Amalia vor ihrem inneren Auge sehen, wie das schwache Mädchen sie um Wasser und Essen bat. Alaiy darum bat ihrem Vater ihre letzten Worte auszurichten. Bis heute hatte Alaiy es nicht geschafft, diese Bitte zu erfüllen. Die letzte und einzige Bitte die Amalia je an sie gehabt hatte. Schwer biss sich die Schwarzhaarige auf die Lippe, sie durfte sich jetzt nicht von ihrer Vergangenheit ablenken lassen. „Ich bin da.", antwortete sie und der Schmerz zog durch ihre Brust. Das hatte sie auch zu Amalia gesagt. „Wir müssen weiter, oder?" Die Stimme des Blonden brach, er hustete, zitterte und keuchte schwer, während Alaiy ihn nur festhalten konnte. „Vorerst nicht.", antwortete sie ihm und zog ihn näher an sich sie hoffte darauf, ihm so die Wärme geben zu können, die er brauchte. „Aber du musst in Sicherheit.", murmelte Fyn vor sich her. „Sie sollen dich nicht fassen...". Er war nicht ganz bei Sinnen, fieberte, doch sprach er Worte die Alaiy tief berührten. Er sorgte sich um sie. Natürlich tat er das. Ihre Verbindung zueinander Wuchs, bestand nicht länger aus stupider Reisebegleitung. An sich hatten sie keinen Grund bei dem anderen zu bleiben, aber sie taten es.
Familie. Das war das Wort, welches Alaiy ergriff. Unbegründete Sorge dem anderen gegenüber. Schon wieder. Vielleicht sollte sie sich doch darauf einlassen. Einfach zulassen. Sich Fyn ganz öffnen. Sie fühlte sich Unbehagen. Bevor ihr die Tränen kamen und sie begann stumm zu weinen. Sie hatte sich gesträubt. Hatte sich gestäubt dem Antiquitätenhändler näher zu kommen, obwohl sie es die ganze Zeit getan hatte. Sie war ihm nähergekommen. Jetzt, jetzt in der Stille des Fieberwahns begriff sie die Art, wie ihr Herz tickte. Seit Ewigkeiten fühlte sie wieder. Richtig. Vollkommen. Die Gesellschaft hatte ihr das genommen. Hatte ihr gezeigt wie Überleben, das Zusammenkauern des Herzens funktionierte. Die Wut auf das System, die Herrschaft stieg in ihr. Sie würde fliehen. Mit Fyn. Mit diesem Menschen an ihrer Seite. Und deswegen würde er ihr auch nicht unter der Hand wegsterben. Nicht so wie Amalia. Die Verzweiflung der Schwarzhaarigen ließ mit einem Moment nach. Sie war klar, konnte denken und fühlen und folgte ihrem Instinkt. In einer ruhigen Minute holte sie schnell die Rucksäcke. Zurück bei Fyn, flößte sie ihm eine der Essenstütchen ein, aß selbst nur eine halbe. Dann hielt sie Wache. Die Müdigkeit zog nach wie vor durch ihre Glieder, aber sie würde nicht aufgeben.
„Sie verstecken das alles!", stieß Fyn aus und weckte damit die Schwarzhaarige, welche sich selbst einfach nicht mehr wachhalten konnte. „Wer?", fragte sie verwirrt und müde. „Das alles!", rief der Blonde in leichter Panik aus. „Die ganze Vergangenheit! Woher wissen wir wer wir sind?!" Seine Stimme klang panisch, er hatte wirklich Angst. „Niemals!", rief er aus und drehte sich zu Alaiy. Die Schwarzhaarige konnte nun den gläsernen Ausdruck in seinen Augen erkennen, das vom Fieber ausgemergelte Gesicht. „Niemals lassen sie uns etwas wissen und ich dachte ich hätte ein gutes Leben. Aber ich erfahre nichts! Und forsche an nichts! Sinnlos! Es ist so sinnlos gewesen!" Die Tränen bildeten sich in den glasigen blauen Augen und Fyn wischte sich selbst einmal mehr als nervös durchs Haar, bevor er Alaiy am Kragen packte. Erschrocken wollte sie zurückweichen, doch er schaute ihr so intensiv in die Augen, dass Alaiy nicht anders konnte, als ruhig zu bleiben. Er wollte ihr nichts Böses. Das hatte er bisher nie gewollt, hatte ihr nie etwas getan. Jetzt würde er ihr auch nichts tun. „Dann kommst du.", murmelte Fyn und seine Augen leuchteten einen Moment ganz ohne den Schleier des Fiebers. „Du bringst die Möglichkeit der Vergangenheit. Du schenkst mir Wissen... Wissen über alles, dass ich nicht sah... und du bist so... stark..."
Zu gerne hätte Alaiy noch mehr gehört, doch Fyn sackte kraftlos an ihrer Brust herab, keuchte schwer. Dieser Aufstand, war zu viel für seinen Körper gewesen. „Dankeschön...", murmelte Alaiy zurück, wissend das der Antiquitätenkenner es nicht mehr hören konnte. Er war wieder in den Scchlaf gesunken. Die Schwarzhaarige glaubte nicht daran, dass nur das Fieber an den leicht verwirrenden Worten schuld war. Sie glaubte, dass ihre nun gelöstere Haltung ebenso seinen Beitrag tat. Der Antiquitätenhändler kam ihr mehr wie eine Person vor, die doch gerne Gespräche führte und doch hatte er kaum ein Wort mit ihr auf ihrer Reise gewechselt. Weil sie vom vorneherein nicht wollte. Ihm gezeigt hatte, dass sie kein Interesse hatte. Und wenn es nur die Körperhaltung gewesen war. „Lass uns das zusammen zu Ende gehen.", murmelte sie und wischte dem Blonden den Schweiß von der Stirn. Nun konnte sie reden. In den Wachphasen von Fyn erzählte Alaiy Märchen. Märchen längst vergangener Zeit. Die Märchen, die ihre Mutter ihr vorgelesen hatte. Sie wusste zwar nicht mehr alle Einzelheiten, doch es reichte vollkommen aus.
Gerade, als Alaiy das achte Märchen zu Ende erzählt hatte lächelte Fyn sie an. Sie lagen zusammengekuschelt auf einer der Decken hielten sich gegenseitig mit ihrer Körperwärme warm. Ihre Vorräte neigten sich dem Ende zu. Die Schwarzhaarige hatte fast alle Essensbeutel an den Blonden geopfert, während sie selbst sich einen eingeteilt hatte. Übrig waren nur noch zwei und somit war klar, dass sie bald die Platatopflanze aktivieren mussten, um weiterhin zu überleben. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie wirklich hier saßen. Es mussten definitiv mehrere Tage sein. Doch es hatte sich gelohnt. „Ich denke, ich bin so weit in Ordnung, dass wir weiterreisen können.", meinte Fyn und seufzte. Alaiy konnte das verstehen. Obwohl es in ihrer gebauten, improvisorischen Unterkunft andauernd reinregnete und sie öfters raus gemusst hatte, um es auszubessern, es einmal sogar über ihren Köpfen zusammengebrochen war, so war es jetzt doch recht bequem. Sie hatten sich, so komisch es klang, ein wenig eingelebt und nun mussten sie es verlassen.
Alaiy nickte zustimmend. „Wir haben bisher noch keinen weiteren Plan, wo wir uns befinden. Irgendwann werden sie uns hier finden." „Es ist nur eine Frage der Zeit.", stimmte er ihr zu und löste sich vorsichtig von ihr. Sein Körper war noch immer nicht bei den vollen Kräften, doch es musste ausreichen. Es glich schon fast einem Wunder, dass sie bisher hier nicht gefunden wurden. „Es wäre echt schön mal wieder trockene Kleidung zu haben.", murmelte der Antiquitätenkenner und wagte einen Blick in den Himmel. Durchs Blätterdach und Nadeldach konnte er Wolken erkennen, doch sie waren weißer. Der Regen prasselte auch nicht mehr allzu schlimm auf sie nieder. „Vielleicht haben wir ja bald Sonne.", stimmte Alaiy in diese Hoffnung ein. Die Sonne war greifbar und auch wenn es die letzten Tage geregnet hatte, so war doch kein weiteres Gewitter aufgekommen. Nur der Wind blies so eisig wie zuvor.
„Dann las uns zusammen Packen."
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