Kapitel 2

 
Als Leigh um achtzehn Uhr im Zimmer eintraf, bemerkte sie, dass die Fledermaus schon wieder vor ihr angekommen war. Sie hatte ihre Schuhe quer im Zimmer verteilt und eine Auswölbung in der Bettdecke sagte ihr, dass sie da war. Leigh öffnete ihren strengen Dutt, nahm ihr Haarband ab und wechselte zu einem gemütlichen Pferdeschwanz.

Sie schob die Schranktür auf, die mit einem leisen Kratzen zur Seite glitt. Ohne auf die Fledermaus zu achten, zog sie sich um, etwas Gemütliches an, nahm ihren Schmuck heraus und räumte den Rest ihres Koffers aus. Das Abendessen war anstrengender als ich gedacht hatte. So viele Informationen auf einmal waren echt zu viel für mich. Und Fledermaus hat sich noch immer nicht vorgestellt. Was soll ich jetzt eigentlich den ganzen Abend machen?

Ihr Pferdeschwanz schwang freudig hin und her, als sie aus dem begehbaren Kleiderschrank marschierte und sich mit einem Buch in der Hand auf der gelben Couch niederließ. Sie las eigentlich gern, kam aber nur sehr selten dazu. Jetzt war der perfekte Moment für eine gemütliche Abendlektüre, fand Leigh, um sich ein bisschen von ihrer Umgebung abzulenken. Ein spitzer Gegenstand bohrte sich in ihr Gesäß, als sie sich zurücklehnte, um es sich gemütlich zu machen. Leigh stand reflexartig auf und griff zu dem kleinen eckigen Gegenstand, auf den sie sich gesetzt hatte. Es war das Kärtchen, welches die Schüler angesteckt bekommen hatten und scheinbar gehörte es der Fledermaus, welche es achtlos auf die Couch geworfen hatte ohne an Leigh zu denken, die sich blindlings daraufsetzen könnte. Die Aufschrift prangte klar und deutlich auf dem Kärtchen: Dorothea Ridgeback. So heißt sie also. Dorothea, spricht man das Englisch oder Deutsch aus? Leigh beschloss, ihr das Kärtchen später zu geben und sie zu fragen. Aber erst lesen... Sie wollte sich gerade niederlassen, als sie Stimmen aus der Küche hörte, die sie sich mit einem anderen Zimmer teilten. „Glaubst du die sind schon wieder zurück?" „Na klar, was sollten sie denn machen?" „Ein bisschen zu den Jungs rüber vielleicht..." Ein Kichern war zu hören. „Mach dich nicht lächerlich Alemee..."- „Du bist gemein."- „Bin ich nicht... Au! Geh von mir runter!" Mit einem heftigen Rumpeln sprang die Tür auf und ein Gewirr aus Armen und Beinen stürzte herein, woraufhin Leigh entsetzt zusammenzuckte und die beiden entgeistert ansah. Oben lag ein kleines dickes Mädchen. Seine braunen Haare fielen ihm zerzaust ins Gesicht und es war vor Zornesröte angelaufen. Unter ihm lag eine lange, dünne Afrikanerin mit Federohrringen und einer goldenen Halskette mit tellergroßem Anhänger, der ziemlich laut klirrte, als die beiden hinfielen. Das kleine Mädchen rappelte sich angestrengt auf und strich mit einer schnellen Handbewegung die Haare hinters Ohr, um wieder einigermaßen korrekt auszusehen. Die Afrikanerin rieb sich den Ellbogen und verzog das Gesicht vor Schmerz. „Na toll gemacht, Ramona!", murrte sie und richtete sich auf. Die beiden sahen sich um, dann trafen sich die Blicke von Leigh und den beiden Mädchen. „Uhm... Hi!", stotterte die Braunhaarige. „Wir sind von nebenan und wollten euch mal kennenlernen... Wo ist denn das zweite Mädchen?", fragte sie und streckte ihren Hals um sich in dem Zimmer umzusehen. „Flederm- ich meine, meine Zimmerkollegin, liegt im Bett. Kommt ruhig rein." Leigh musste sich ein Lachen verkneifen, denn das Mädchen, das Ramona genannt wurde, war so rot angelaufen, dass es auf einer Tomatenplantage gut getarnt wäre. Die zwei kamen herein und ließen sich auf dem dreckig gelben Sofa nieder, welches Leigh mittlerweile ins Herz geschlossen hatte. „Unser Zimmer ist in Ausscheidung-von-Hunden-Braun eingerichtet..." Ramona verzog das Gesicht. „Der Architekt hier hatte einen merkwürdigen Geschmack." Leigh prustete los. „Ausscheidung-von-Hunden-Braun ... Wie schön hast du das denn umschrieben!" „Ach ja...", meinte Ramona grinsend „Das hier" (Sie zeigte auf die Afrikanerin) „ist Alemee Soyinka und ich bin Ramona Müller." „Ich kann mich selbst vorstellen", murrte Alemee, lächelte aber gutmütig und streckte Leigh die Hand entgegen.

„Ich bin Leigh Lysandra Hondrus – aber nennt mich nur Leigh... Ich würde zu gern euer Ausscheidung-von-Hunden-braunes Sofa mal sehen."

Darauf konnte Alemee nur grinsend die Augen verdrehen.

„Das können wir uns nachher ansehen. Hast du vergessen, dass wir Hausübung haben?" Leigh schnaubte genervt und maulte: „Hausübung. Bevor der Unterricht überhaupt begonnen hat. Das fängt ja sehr gut an. Meiner Meinung nach hätte die Schulsprecherin die

Zettel schreddern können." Daraufhin brach Alemee in ein Gekicher aus und japste: „Einen Aufsatz. Über uns selbst. Zweihundert Wörter. Geht's noch? Dabei wollte ich so gern den Whirlpool heute Abend auschecken."

„Es gibt einen Whirlpool?", fragte Leigh schockiert.

„Jupp", grinste Ramona. „Unten im Keller des Internats gibt's einen. Soll ja ziemlich groß sein. Und eine Sauna gibt's da auch." Sie schüttelte den Kopf. „Wartet mal. Das ähnelt ja einem Sternehotel. Wir bringen die Hausübung hinter uns und gehen runter. Ich will das sehen." Leigh hatte leuchtende Augen bekommen und zog ihren Collegeblock hervor. Die zwei anderen Mädchen nickten zustimmend und holten ihre Sachen aus dem Zimmer.

„Wie soll ich jetzt auf Anhieb hier etwas aus dem Ärmel ziehen?", fragte Alemee, als sie wieder da waren.

„Uhm? Improvisieren. Etwas erfinden. Du hast einen zwei Jahre alten Golden Retriever und lebst glücklich mit deiner Familie in Hier-Wohnort-einfügen. Du gehst jede Woche in den Schachverein und zeichnest gerne", schlug Ramona vor. „Das kling wie die Beschreibung eines alten Knackers. Das kann nicht dein Ernst sein!" „Doch, doch, ich denke das passt gut zu dir." „Hey..."

Leigh hörte den beiden schon nicht mehr zu, denn sie war tief in ihren Aufsatz versunken. Das Schreiben ging ihr leicht von der Hand, sie schrieb sehr gerne und das Thema war ja auch nicht das schwerste. Sie war sehr überrascht, wie viel ihr einfiel und hatte schon eine halbe Seite voll, als Alemee und Ramona es für adäquat hielten, mit ihren Streitereien aufzuhören und einen Stift in die Hand zu nehmen.

Einige Zeit später legte Leigh den Stift beiseite, zufrieden mit ihrem 321 Wörter starken Werk und bemerkte, dass Dorothea hinter ihr stand. Leigh brachte ein „Hey" hervor.

Dorothea aka Fledermaus nickte nur.

Alemee und Ramona hatten Dorotheas Anwesenheit bemerkt und brachen in Begeisterung aus. Sie begrüßten sie überschwänglich, schüttelten ihre Hand (gegen Dorotheas Willen) und bewarfen sie mit Fragen. „Oh man", schwärmte Alemee, „Du hast so den coolen Stil! Wie heißt das gleich? Aja ich bin Alemee." Leigh konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Dorothea sie etwas verstört ansah und sich vorstellte. „Genau." Leigh war wieder eingefallen, dass sie das Kärtchen von Dorothea noch hatte und holte es hervor. „Hier, das hast du liegen gelassen." Leigh streckte es Dorothea entgegen und lächelte, doch diese winkte nur ab. „Das kannst du wegwerfen, ich brauch es nicht mehr."

„Aber im Unterricht vielleicht noch."

„Ist mir egal." Sie gähnte und ließ sich auf die Couch sinken.

„Na dann", sagte Leigh und ließ das Kärtchen in ihre Hosentasche verschwinden. „Hast du die Hausübung schon gemacht?"

„Sehe ich so aus?", antwortete Dorothea.

„Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich bin Leigh. Freut mich dich kennen zu lernen."

„Mich freut's nicht...", sagte Dorothea mit einem spöttischen Grinsen.

„Ähm – was? Jeden freut es, mich kennen zu lernen, ich bin so toll."

„Ja ja Leigh, lass dir das nicht zu Kopf steigen", sagt Ramona und patschte Leigh freundschaftlich auf den Kopf. Alemee und Dorothea hatten sich zurückgelehnt und Leigh grinste. Sie packte ihren Aufsatz weg und sah in die Runde. „So. Können wir jetzt bitte in den Whirlpool nach unten gehen?"

Leigh öffnete vorsichtig die Augen. Wo bin ich? Ihr Kopf war müde, vernebelt und ein lautes Schrillen lag in der Luft. Der Wecker. Vorsichtig tastete sie nach ihrem Handy und fiel dabei halb aus dem Bett. Leigh hing mit dem Oberkörper über der Bettkante. Ach ja. Das Internat, die Schule. Langsam kam Leigh wieder zu sich und wurde richtig wach. Ihr Handy war unter das Bett gerutscht und plärrte laut und kaum auszuhalten weiter. Dorothea kam aus ihrer Bettdecke hervorgekrochen. Sonnenstrahlen schienen auf ihr Gesicht. „Mach das aus, oder hegst du den Wunsch zu sterben?" „Danke, sehr nett." Leigh griff unter das Bett und mit einer kurzen Handbewegung stoppte sie den Ton.

„Oh Mann"

Die Müdigkeit ließ sich nicht abschütteln und das Bett war so warm und behaglich, als wollte es Leigh nicht aus den Fängen lassen. Nach einem fünfminütigen Kampf mit ihrem Gewissen überwand sie sich, stellte ihre Beine auf den Boden und stand vorsichtig auf, während sie sich den Kopf hielt. Sie war gestern erst sehr spät eingeschlafen, nachdem sie mit Alemee und Ramona vom Whirlpool zurück gekommen war.

Leigh entschied sich für ein grünes Top und eine schwarze Hose, als sie vor ihrer Kleidung stand. Als Dorothea noch immer nicht aus dem Bett herausgekommen war, nachdem sich Leigh umgezogen und die Haare gemacht hatte, schnappte sie sich ein Kissen und warf es mit voller Wucht auf das blonde Mädchen. „Spinnst du?" Dorothea war mit einem Satz auf den Beinen und ging knurrend auf Leigh zu.

Ups.

„Ich bin im Bad", sagte diese hastig, rannte durch die helle Tür und sperrte hinter sich zu.

Das Bad war riesig. Eine große Badewanne mit Dusche zog sofort den Blick auf sich, da sie silberne Verzierungen an der Seite hatte. Das Waschbecken befand sich in einer Nische in der Wand. Leigh putze sich die Zähne und frisierte sich innerhalb von fünf Minuten. Als Leigh wieder das Zimmer betrat, saß Dorothea fertig gekleidet in ihrem Totengewand auf der Couch (Leigh war sich sicher, dass sie unter ihren geschminkten Augenringen echte befanden) und schlug aggressiv auf ihr Handy ein. „Was machst du da?"

„Halt. Stopp. Sprich mich vor dem Frühstück nicht an."

„Dann halt nicht..." Fledermaus. Leigh verdrehte die Augen.

Sie schnappte sich ihr Handy und klopfte bei Alemee und Ramona an. „Sind gleich fertig!", hörte man gedämpft durch die Tür und zwei Sekunden später stürzten die beiden durch den Türrahmen, darüber streitend, wer zuerst den Aufzug betreten dürfe. „Guten Morgen. Auch schon wach?", schmunzelte Leigh. „Nicht witzig...", murmelte Ramona, deren Haare in alle Richtungen stur abstanden. „Lasst uns frühstücken gehen", gähnte Alemee.

Sie fanden sich im Speisesaal des Mädchentrakts wieder. Es gab ein riesiges Buffet und plötzlich merkte Leigh, welchen Wolfshunger sie verspürte. „Wow, sieht das gut aus", staunte Dorothea, die bis jetzt noch nie einen positiven Kommentar hervorgebracht hatte. Es stapelten sich Croissants, Brötchen, Vollkornbrote, Toastbrot und alles Mögliche auf den Tablets. Daneben standen Glasschüsseln mit allen nur denkbaren Marmeladesorten, Haselnussaufstrichen, Butter und Margarine. Außerdem reihten sich Eier, Käse, Schinken und Obst auf den Servierplatten. Das war längst nicht alles. Man konnte essen, was das Herz begehrte. Leigh lud sich auf ihren Teller auf, um kurz darauf festzustellen, dass Dorothea einen ellbogenhohen Stapel auf ihrem aufgebaut hatte und den jetzt mühsam zu ihrem Tisch transportierte. Die drei Mädchen setzten sich zu ihr und Leigh nippte an ihrem Cappuccino. „Wann beginnt der Unterricht?", fragte Ramona. „Mensch, hast du nicht aufgepasst, gestern?", meckerte Alemee. „Ja sorry."

Leigh musste lächeln. Schön langsam war sie froh darüber, hier zu sein. Alemee und Ramona, die sich gegenseitig nervten, und sogar Dorothea gegenüber, die meistens nichts sagte, hatte sie eine gewisse Zuneigung entwickelt, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob diese auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie fummelte an einer Haarsträhne, die widerspenstig aus ihrem Dutt hervorgetreten war. Dorothea hatte ihren Essenstapel bereits um zwei Brote ärmer gemacht. „Wie viel isst du bitte? Ich dachte Ramona isst hier von uns am meisten ...", staunte Alemee amüsiert. „Willst du sagen, ich sei fett?", keifte Ramona.

„Nein, aber dick."

„Sag das nochmal!"

„Du bist dick."

Dorothea nippte an ihrem Tee, während sie mit einem kleinen, goldenen Gegenstand spielte. „Das Geheimnis besteht darin, schnell zu essen, aber gut zu kauen."

„Das glaubst auch nur du", schnaubte Ramona genervt. „Du bist nicht dick..." Leigh lauschte interessiert den Gesprächen ihrer Internatskolleginnen.

„Dorothea, hast du die Hausübung gemacht?", fragte Leigh. „Ja", maulte die Fledermaus, „während ihr beim Pool wart." Leigh nickte grinsend. Sie war wohl wie eine Mutter rübergekommen. Sie aß ein Croissant.

Die Klasse sah aus wie jede andere Schulklasse auch, außer dass hinten eine popelgrüne, riesige Ledercouch stand, auf der ungefähr sechs Mädchen und ein Junge herumlungerten. Dorothea wuchtete ihre Schultasche auf den erstbesten Platz. „Och nee, bitte nicht vorne sitzen...", knurrte Alemee. Leigh ließ sich neben Dorothea nieder. „Jetzt geht's wohl los. Der Unterricht beginnt in zehn Minuten." Sie holte einen Block und ihr Federmäppchen hervor.

Ramona und Alemee entschlossen sich schließlich doch dazu, sich neben die beiden zu setzen.

Leigh fröstelte plötzlich. Ich hätte mich doch wärmer anziehen sollen. Es ist total kalt. Ist das Fenster offen? Leigh blickte zu dem Fenster, welches leicht gekippt war. Eine schneidende Stimme erklang hinter ihr.

„Wenn das nicht Ridgeback ist."

Dorothea erstarrte.



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top