Wie es begann, ...

Der Generalschlüssel passte nicht und in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass man sie aufs Korn genommen hatte. Resigniert ließ Sophia sich auf die unebenen Steinfliesen sinken. Zum Nachdenken brauchte man Zeit, die sie nicht mehr hatte. Die Uhr hatte getickt. Die Sekunden waren verronnen. Jetzt ging der Countdown in den Minusbereich. Die Zeit floss dahin. Wie kaltes Wasser, das von unten beleuchtet wurde, durch eine versunkene Sonne. Kaltes, klares Wasser in der Farbe von ... 

Kornblumenblau. Das war die Farbe von Pangaea. Nun ja, zumindest die Farbe, in der wir diesen neuen Planeten bevölkern sollten. Kornblumenblau waren die Kleidungsstücke - die Erstausstattung - die wir alle trugen, als wir an Bord der Nostromo saßen. Das Raumschiff machte seiner Bezeichnung alle Ehre. Es war ein Schiff, das mit seiner Größe sicherlich an Noahs Arche herankommen würde. Ein Monstrum, ein intergalaktisches Kreuzfahrtschiff bei dem wirklich alles inklusive war. Ich saß in dem großen Foyer auf der untersten Ebene. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass meine kleine Koje im dritten Stock mich im Laufe der viermonatigen Reise so sehr erdrücken würde. Tatsächlich hielten sich die meisten anderen Reisegenossen ebenfalls hier unten auf. Hier war auch die Toilette immer in Reichweite, falls einem schlecht wurde.

Man hatte das Interieur schlicht aber gemütlich gestaltet. Bequeme graue Sessel standen in Grüppchen in dem taghell ausgeleuchteten Foyer. Ein paar Pflanzen hatte man auch aufgestellt. Die Wedel einer großen Bergpalme kitzelte mir mit ihren feinen Blättern in den Nacken. Ich saß da und las in einem Buch - das einzige, das ich mir mitgenommen hatte. Bald würden wir Pangaea bevölkern und unsere eigenen Bücher schreiben.

„Seid ihr bereit?", rief ein junger Mann mit kurzem rötlichen Haar. Er war mir die ganze Fahrt über immer wieder aufgefallen und das nicht gerade im positiven Sinn. Wie ein verwirrter Kreisel huschte er an Bord der Nostromo mal hierhin, mal dorthin und nervte die anderen. Er hatte die Koje direkt neben mir und war, der Geräuschkulisse von Poltern bis Hämmern nach zu urteilen, dauerhaft schwer beschäftigt.

Als ich ihn hier wieder antraf, verdrehte ich die Augen. Natürlich war ich bereit. Und selbst wenn nicht, es brachte so wenige Sekunden vor dem Eintritt ins Wurmloch rein gar nichts, nicht bereit zu sein. Die Fahrt durch dieses sagenumwobene Portal, das Zeit und Raum in einen Mixer packte und einmal ordentlich durcheinander wirbelte, war keine Überraschung. Tatsächlich hatten viele Angst vor dem Wurmloch. Sie fürchteten, nicht in dem Zustand auf Pangaea zu landen, in dem sie von der Erde aus gestartet waren. Hinter vorgehaltener Hand sprach man davon, dass Menschen miteinander verschmelzen oder Körperteile verrutschen konnten. Dabei war das aus meiner Sicht schlichtweg Unsinn. Das hatte mich nicht von der Reise abhalten können.

Insgesamt hatten sich gut fünftausend Mutige gefunden, die nichts auf die wilden Gerüchte gaben. Beworben hatten sich viel mehr Menschen, aber die Auswahlkriterien waren streng und die Aussicht auf eine One Way-Reise war auch abschreckend. Das Mindestalter von fünfundzwanzig Jahren hatte ich selbst auch nur gerade so erreicht - drei Monate hatten den Ausschlag gegeben. Ich seufzte, als ich schon wieder die Stimme des Rothaarigen hörte - sie näherte sich mir sogar - und ich hielt mir das Buch demonstrativ vors Gesicht. Damals dachte ich, dass ich mich hinter den Buchdeckeln vor ihm verstecken wollte. Heute weiß ich, dass tief in mir drin - auch wenn ich es damals um nichts in der Welt zugegeben hätte - diese Furcht vor dem Wurmloch, vor Pangaea, vor mir selbst, vor allem, bereits ihre Wurzeln geschlagen hatte.

Als wir das Wurmloch erreichten, saßen alle entweder auf einem Sofa oder im Schneidersitz auf dem Boden. Stille füllte die Nostromo aus, als sei es ein Sakrileg, bei der Durchfahrt auch nur ein Wort zu sagen. Man hatte uns einen kurzen Abriss davon gegeben, dass ein Wurmloch eine Verbindung zwischen zwei durch Raum und Zeit getrennten Dimensionen war und ja, zu den potenziellen Risiken hatte man in einem Nebensatz auch etwas erwähnt. Übelkeit, vorübergehender Schwindel - nichts, was man nicht auch von einer Schmerztablette bekommen konnte. Ein interstellarer Jetlag sozusagen. Die Technik war so weit fortgeschritten, dass keine Lebensgefahr mehr von dem Portal ausging und es keinen Grund zur Sorge gab, solange man sich an die Regeln hielt.

Worauf man uns nicht vorbereitet hatte, war das, was wir zu sehen bekommen würden. Wohl aus gutem Grund. Wenige Minuten vor dem Wurmloch kam eine kurze Durchsage, die mich in ihrer Nüchternheit an einen Supermarktbesuch erinnerte. Doch statt: „Wir öffnen Kasse zwei", sprach die computerprogrammierte Stimme: „Achtung. Wir passieren in Kürze das Wurmloch". Die Trivialität, die aus der emotionslosen Stimme sprach, brachte mich beinahe zum Lachen. Der Rothaarige blieb wie angewurzelt stehen und schien auf etwas zu warten. Ich fragte mich, was es war, das ihn wie einen Hasen in Schockstarre versetzte, dann spürte ich es auch.

Ein unangenehmer Tinnitus legte sich auf meine Ohren und augenblicklich begann auch unser Raumschiff sich zu verändern. Die Nostromo wurde vor meinen Augen in die Länge gezogen wie ein zäher Kaugummi. Langsam dehnte sich das Schiff und ich hatte das Gefühl, durch ein umgekehrtes Vergrößerungsglas zu sehen. Dann drehte sich alles, als würde man das Raumschiff wie ein Handtuch wringen. Leise Panik kroch in meine Brust, als ich sah, wie der vorhin noch so ausgeflippte rothaarige Flummi plötzlich an der Decke hing. Ich schnappte nach Luft. Fast wollte ich mich schon mit dem Gedanken abfinden, dass ich mit dem Arm im Rücken auf Pangaea landen würde, da zog eine andere Region meines Körpers ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Plötzlich begann meine Lunge zu kribbeln, als sei darin ein aufgestöberter Ameisenhaufen. Ich hatte das Bedürfnis, zu husten, bekam konnte aber gleichzeitig nur schwer atmen, als würde ich versuchen, die dünne Luft auf einem Berggipfel einzusaugen. Als wir das Wurmloch endlich überstanden hatten, zog das Raumschiff sich wieder langsam in Form und es war erleichtertes Plaudern zu hören. Mein normaler Atem setzte wieder ein, doch das Kribbeln blieb und ich sah mich um, ob noch jemandem außer mir unwohl geworden war. Aber ich blickte nur in neugierige und ereignishungrige Gesichter. Ich kam zum Schluss, dass ich die Einzige sein musste. Doch warum? Ich hatte den Gesundheitscheck mit Bravur bestanden. Was war los?

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