Die Gewinner

»›Gewinner sind, wie soll man sagen,

jene, die wie alle sind.

Sie tragen stolz um ihren Kragen

Den Strick, den er zum Angeln nimmt.‹


Durch ihre Körper rammt der Haken

Seiner Angelschnur

Die besten Würmer taugen

Ihm zum Tode nur.«


Es war ganz nebelig gewesen. Die Sonne war schon längst untergegangen, als ein angelnder Mann mit weißem Rauschebart am Pier saß und über die tosende See blickte. Welle um Welle peitschte an die verrottenden Holzpfeiler, die das Anglerhaus stützen. Ein kalter Wind zog ihm in diesem Moment um die Nase und ihm schauderte es. Seine tiefen Falten zuckten, ein Auge feste ihm und mit dem linken sah er in den tiefen Abgrund, der sich vor ihm offenbarte. Unendlich schien es ihm, das Nichts, das leere Nichts, in welches er hinab sah, in die Tiefen, die seiner Hand entsprangen.

Und dann kam plötzlich er vorbei. Ein junger Knabe, er müsste vielleicht acht, maximal zehn gewesen sein, der sich zu jenem Angler setzte und hinauf in sein Gesichte sah. »Was fischt du dort?«, fragte er so dann, ganz unschuldig und unerfahren, eine Antwort erwartend und über selbige sicherlich staunen. »Ich angle all jene«, begann der Mann so dann zu sprechen, »die sich in meine Angel flüchten.«

»In deine Angel flüchten? Was meinst du damit?« Der große, bärtige Mann stand auf, stapfte über den Pier und holte aus einer verzierten Truhe, die aus ganz altem Holz bestand, welches wohl noch älter als die Erde selbst gewesen sein musste, mehrere kleinere und größere Fänge vergangener Tage. »Sieh hin«, sagte er, und der Junge blickte sie an. Sie waren so schön gewesen, wie sie dort lagen, einer schöner als der andere.

»Und du sagst, sie kommen freiwillig zu dir?«

»Ja«, entgegnete der alte Mann und verstand, wohin die Frage führen würde.

»Sieh, mein Sohn, sieh hinab in diese Tiefen. Sieh in die Schicksale, die sich vor dir präsentieren. Ich angle mit einer einzigen Schnur, eine Schlinge, die ganz unschuldig erscheint, weil sie so schön ist. Ich habe sie gewebt, vor vielen, vielen Jahren - und bis heute erweist sie mir gute Dinge.«

Der Kleine verstand nicht so recht. Eine Schlinge, um zu angeln?

»Das Material der Schlinge bekam ich von ihnen selbst. Sie lieferten es mir, als ich sie fragte, was sie begehren. Und sie zeigten es mir und ich benutzte es. Ich benutzte es gegen sie, weil es das war, was sie verdienten. Sie wissen um ihr Schicksal und dennoch tun sie nichts, um sich ihm zu widersetzen. Sie sehen in der Schlinge ihre Zukunft, ihr Glück, sie tragen sie mit Stolz, weil sie jeder trägt. Früher dachte ich, es wäre nur eine Erscheinung, aber heute weiß ich, sie wählen sich ihren Tod zum Freund.«

»Kann jemand entkommen?«

»Sie können alle entkommen. Ich fange sie nicht mal, glaub mir, meine Angelschnur hängt nur hinab und sie wissen von ihr. Aber sie begeben sich in sie freiwillig.«

»Hast du nicht Angst, dass sie eines Tages alle sterben werden? Glaubst du nicht, du als Fischer, dass du sie auslöschst?«

»Mein Sohn, sieh, ich hoffe es. Die, die ich hier angle, die so stolz und mutig über ihre eigene kleine Welt stolzieren, sie sind es, die nicht zu ihr gehören. Hätten sie den Mut, nicht in meine Schlinge so gehen, so würden sie überleben. Sie sind feige, sie sind unwürdige Kreaturen, von denen ich denke, dass es falsch war, auch nur einen von ihnen jemals erschaffen zu haben. Einer sollte zeigen, wie gefährlich es war, aber meine Aufgabe, mein Gedanke dahinter, versagte. Wieder einmal wird mir präsentiert, dass ich nicht göttlich bin. Ich kann sie alle erschaffen, mit einem großem Ziel, das, was ich für sie bestimmt habe, und doch können sie sich ändern. Es ist wie ein Virus, eine krankheit, die sich unaufhaltbar verbreitet. Es ist eine Pest, die nicht erkannt wird. Und die, die sie dann doch sehen können und sich dem Schicksal dieser Schlinge bewusst werden, die alles daran tun würden, nicht in sie hineinzulaufen, um weiter zu leben, um glücklich zu sein, damit sie selbst sein können, sie sind es, die wohl die schlimmsten Leiden ihrer Welt erfahren werden. Nicht den Schmerz des Todes derer, die, wenn sie zu mir hinauf kommen, realisieren, was sie eigentlich getan haben, sondern jenen Schmerz, für das Leben und sein eigenes Glück zu leben, ausgeschlossen zu werden. Denn so gilt es noch immer: Darum ist es Zier, ganz einsam zu sein. Als Beweis dafür mir: wer ist, ist allein. Wer wirklich ist, mein Sohn, wer ist, wie er sein will, derjenige wird alleine sein, einsam, mal mehr, mal minder.«

»Und warum tun sie das?«

»Es ist einfacher gleich als anders zu sein. Sieh, die Menschen sind glücklich. Sieh doch, wie sie lächeln, wenn sie alle so sind wie die anderen. Wie sie dieselben Frisuren tragen, mal mit Brille, mal ohne, wie sie aussehen, was sie tun, was alle machen. Ein jeder ist gleich und doch sprechen sie davon, individuell zu sein. Vielleicht sind sie es. Individuell gleich. Ein Format, dass schon viele benutzt haben, um an ihren Thron zu kommen. Die einen verstehen es vielleicht nicht und sie sehen in der Schlinge, die ich ihnen auswerfe, auch keine Gefahr, denn sie denken darüber nicht nach. Die anderen aber, und das sind beinahe alle, sie wissen davon und sie tun es, sie lieben, sie würden nicht mehr damit aufhören. Sie sterben lieber an ihren Zigaretten, als auf sie zu verzichten. Denn der Tod ist ein Teil von ihnen selbst geworden, ohne, dass sie es wirklich wahrgenommen haben. Sie sind glücklich im Leben, sie sind siegreich, sie stehen auf dem ersten Treppchen, weil sie jahrelang trainiert haben. Sie leben und sterben für ein Schicksal, das so viele vor ihnen ergriffen haben, weil es einfach ist. Es ist einfacher, es ist leichter, ein leben zu leben, dass schön und gut aussieht, als eins, das vielleicht schwer erscheint, aber umso ertragreicher ist. Ich mache ihnen keine Vorwürfe dafür, dass sie so handeln, es war meine Schuld, ich habe es in die Welt gesetzt und nun versuche ich alles, um es wieder zu verändern. Ich versuche, die Pest, die ich ins Leben gerufen habe, aufzuhalten und ich bin so stolz über jeden, der mir dabei hilft. Es ist meine Dankbarkeit, die jedem einzelnen gebe.«

»Du sagst, du seist nicht böse, aber doch wirkst du so unglücklich.«

»Ich bin es, ich bin sehr unglücklich. Denn die Schande, die du vielleicht noch gar nicht wahrgenommen hast, ist der Umgang jener, die so stolz in meine Schlinge laufen, mit jenen, die es nicht tun. Die nicht von mir heraufgezogen werden wollen, in dieser Kiste landen möchten. Sie sind es, die die eigentlichen Krieger sind, die so stolz auf sich sein sollten, auf ihren Mut, auf ihre Taten, die alles dafür tun, um ihr eigenes Schicksal zu finden. Und dennoch erreicht sie meine Dankbarkeit nicht. Ich bin zu schwach, ich bin nicht göttlich, ich kann nichts für sie tun außer ihre Schänder in diese Kiste zu tun.«

»Was wird mit der Kiste passieren?«

»Die Kiste wird vergessen. Das ist der letzte Trumph, das Schach-Matt in diesem Spiel, das Ass im Ärmel, das letzte, was ich geben kann. Ich gebe die Unendlichkeit der Leere, ich gebe denen, die nichts sind, nichts zurück. Sie werden Vergessene im Spiegelsaal derer sein, die um so vieles kämpfen mussten, die selbst waren, die alles in Kauf nahmen, meine Unfähigkeit, den Schmerz, die Schänder, sie werden letztlich gewürdigt werden. Und dennoch betrübt es mich, dass ich es nicht mal schaffe, für sie alle einen Platz einzuräumen.«

»Sie überdauern ihren Schmerz und werden dennoch vergessen?«

»Nicht alle Menschen sind von mir. Aber diese sind es. Umso trauriger stimmt es mich, sie nicht alle schätzen zu können, sie nicht zu beschützen, die an einen anderen Platz gehen werden als die, die im Spiegelsaal sind und jene, die in meiner Kiste ihren Platz gefunden haben. Das Leben ist nicht gerecht, nicht mal ich könnte es ändern, auch nicht du, ein Niemand. Vielleicht würden sie es selbst schaffen, eines Tages, aber es würde immer einen geben, der nur an sich selber denken würde. Und so würde es auch passieren, dass die anderen es ihm nacheifern würden. Manchmal ist das Leben Liebe, doch am Ende gibt es keinen Kuss. Manchmal bleibt ein Leben unerfüllt - trotz aller Bestreben, glücklich zu sein. Es passiert, mein Sohn, es passiert zu jeder Sekunde, an jedem Tag, immer dann, wenn du deine Augen geöffnet hast und einen Atemzug machst.«

»Was passiert mit denen, die in der Kiste sind? Ist sie nicht bald voll?«

»Die schönsten und besten, die sich in ihrem Leben ergötzt haben deshalb, weil andere so viel Leid erfahren mussten, sie sind es, die ich als neue Schlinge verarbeiten werde. Sie sind die Würmer der Angler, sie sind die Köder, sie sind jene, die gefressen werden, weil sie es nicht anders verdient haben, weil sie sich ihr Schicksal gewählt haben. Sie sind der Schmied und sie sind ihr Produkt. Sie tauschten ihr irdisches Glück mit dem unendlichen. Sie rannten, um auf den ersten Metern zu siegen und dafür erhielten sie ihren Preis, einen unfairen, einen dreckigen, einen verschandeten. Und so gierig sie sind, so erhalten sie auch in unserer Welt ihren Preis, weil sie danach lechzten. Sie wollten und waren immer die ersten, die besten, so sind sie auch hier. Sie sind meine besten Köder.«

»Und worum geht es dir dabei?«

»Vermutlich würde man sagen: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Aber das hier, das, was du vor siehst, wenn du die Augen öffnest und nichts dagegen tust, um die anderen zu schützen oder selbst in die Schlinge läufst, dies ist kein Licht. Dies ist keine Hoffnung, dies ist der Schatten, in den ich dich entführt habe. Dies sind die tiefen Abgründe alljener Schicksale, die den Mut hatten, selbst zu sein. Sie sind kein Licht, sie sind schwarz, sie sind die letzten, sie sind die Verlierer.

»Und wie heißen die, die du hier geangelt hast?«

»Dies, mein Sohn, dies sind die Gewinner.«

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