Zweites Training
Früh am nächsten Morgen liege ich wach in meinem Bett. Ich kann nicht mehr einschlafen. Normalerweise würde ich jetzt in den Wald gehen, aber hier geht das nicht, da ich den Wald nicht kenne. Außerdem spuken mir noch die Worte des Prinzen im Kopf herum und er tut mir leid, genauso wie ich ihm leidtun muss.
Leise seufzend setze ich mich auf und starre aus dem Fenster.
Die Sonne ist noch nicht zu sehen, doch der Himmel ist bereits ein wenig dämmrig und die Sterne verblassen dort schon. Ich stehe auf und trete ans Fenster, als ich plötzlich ein Geräusch vom Gang vor meiner Tür höre. Es sind Schritte. Neugierig gehe ich zur Tür und öffne sie einen Spalt breit.
Die Höhle wird an einigen Stellen von Fackeln erleuchtet und im Licht sehe ich die Gestalt eines Elben auf dem Weg, er hat einen Bogen in der Hand und einen Köcher auf dem Rücken.
Es ist Prinz Legolas.
Für einen kurzen Moment erliege ich der Versuchung ihm hinterherzulaufen und mit ihm zu reden, doch dann halte ich mich erschrocken zurück. 'Ich wollte ihm doch nicht hinterherlaufen, egal wieso.'
Für mich ist der Prinz einfach nur ein Freund, wie er es vorgeschlagen hat, und ich will nichts von ihm.
Aber die Träume mit ihm verunsichern mich. Immerhin bedeutet das, dass mein Unterbewusstsein ihn irgendwie mag, und dass ich auch im Schlaf an ihn denke.
Mit einem energischen Kopfschütteln schließe ich die Tür leise wieder und lehne mich von innen dagegen. 'Ich will ihn nicht.' Dann gehe ich wieder zu meinem Bett und setze mich darauf, denn etwas anderes kann ich nicht tun. Ich betrachte, wie der Himmel heller wird und die Sonne langsam über dem Wald aufgeht, bis es an der Tür klopft.
"Herein!"
Bevor die Tür sich richtig öffnet weiß ich schon wer es ist: Die Dienerin von gestern.
"Guten Morgen, Herrin. Hattet ihr eine geruhsame Nacht?"
"Ja, danke."
Ich stehe wieder auf und gehe ins Bad, wo ich gestern schon meine Trainingskleidung hingelegt habe.
Kurze Zeit später komme ich wieder, lasse mir von der Dienerin die Haare machen und gebe ihr dann den Brief.
"Könntet ihr diesen Brief bitte zu einem Boten bringen? Er soll nach Bruchtal."
"Natürlich, Herrin. Einen schönen Tag noch."
"Danke, euch auch."
Vor meiner Tür auf dem Gang trennen sich unsere Wege und ich gehe zum Haupttor. Legolas hat meinen Bogen an eine Stelle gelegt, wo ich ihn mir jederzeit holen kann wenn ich will.
Also hänge ich ihn mir über die Schulter, schnappe mir einen Köcher mit Pfeilen und trete aus dem Tor hinaus.
Die Wachen beobachten mich, wie ich an den Rand des Platzes trete, den Bogen wieder von meiner Schulter hole und mich hinsetze, die Füße über dem tosenden Fluss unter mir.
Der Bogen liegt auf meinem Schoß während ich auf den Wald schaue und warte bis Legolas kommt. Dieser lässt sich ein wenig Zeit und ich werde unruhig. 'Ich will endlich weitertrainieren!'
Nach weiteren zehn Minuten kommt er aus dem Wald gelaufen und ich erhebe mich. Als er mich sieht winkt er mich über die Brücke zu sich und ich gehe zu ihm.
"Guten Morgen", begrüße ich ihn freundlich, doch er nickt nur und schaut mich nicht an. Ein wenig verwirrt senke ich den Blick und überlege fieberhaft was ich getan haben könnte.
Doch es will mir beim besten Willen nichts einfallen.
"Kommt", sagt Legolas knapp, aber dennoch höre ich das leichte Zittern in seiner Stimme. 'Was ist mit dem los?'
"Ist alles in Ordnung?", frage ich besorgt und bemühe mich mit ihm Schritt zu halten, denn er geht sehr schnell. Er dreht den Kopf und schaut mir in die Augen. Sein Blick ist verwirrt, erschrocken und irgendwie komisch. Doch all diese Gefühle gelten nicht meiner Frage, vielmehr etwas anderem.
"Ich-", beginnt er, bricht dann aber ab und wendet den Blick von mir ab. 'Meine ich das nur, oder wird er leicht rot?' Doch dann ist dieser Moment vorbei und er schaut mich wieder an, ohne eine Spur seiner vorherigen Unsicherheit.
"Ich hatte einen Traum, sonst nichts", meint er und schweigt dann. Ich dränge ihn nicht von seinem Traum zu erzählen und laufe ruhig neben ihm her, sofern das bei seiner Geschwindigkeit möglich ist.
"Ist es wegen meiner Frage von gestern?"
"Hm?", macht er, da ich ihn anscheinend aus seinen Gedanken gerissen habe.
"Liegt es an meiner Frage von gestern, dass ihr so zu mir seid?"
Da hebt er überrascht die Augenbrauen und schaut mich an.
"Nein! Ich-ich wo-wollte gar nicht... ich hab nicht..."
Nun kommt er vollkommen durcheinander und ich muss darüber lachen.
"Ist schon gut, ich sehe schon", meine ich und Legolas lächelt schüchtern.
Dann kommen wir auf die Lichtung, auf der wir bereits gestern trainiert haben und Legolas strafft die Schultern.
Er wirkt jetzt wieder gefasst und professionell.
"Gut, dann sehen wir mal was ihr von gestern noch könnt. Spannt einen Pfeil und schießt auf diesen Baum."
Ich nehme meinen Bogen, hole einen Pfeil aus dem Köcher und spanne die Sehne.
Kurz sortiere ich mich, dann atme ich aus und lasse den Pfeil los. Er trifft den Baum nicht sondern fliegt knapp daran vorbei, doch ich lasse mich davon nicht unterkriegen. Erwartungsvoll schaue ich den Prinzen an, der mit kritischem Blick meine Bewegungen beobachtet hat.
"Das war schon gut, aber ihr macht noch ein paar Fehler, die allerdings ganz normal für Anfänger sind."
Daraufhin zeigt er mir wie ich es richtig machen soll und lässt mich diese Bewegungen endlos wiederholen. Nur so gehen sie mir in Fleisch und Blut über, damit ich in jeder Situation sofort zum Bogen greifen kann ohne darüber nachdenken zu müssen. Dabei trainiere ich gleichzeitig meine Zielsicherheit und die Schnelligkeit mit der ich einen Pfeil ziehe und einlege.
"Ihr seid schon besser als am Anfang, aber ihr müsst noch viel üben", stellt Legolas während einer Pause fest und lächelt mir aufmunternd zu.
Wir sitzen unter einem Baum und essen eine Kleinigkeit, die Legolas mitgebracht hat.
Da schaut er nach oben und steht auf.
"Wie wärs, eine Kletterpartie?", fragt er mich mit einem schelmischen Glitzern in den Augen und streckt eine Hand zu mir aus.
"Gerne."
Ich ergreife sie und er zieht mich hoch.
"Könnt ihr denn klettern?"
Mit gespielter Empörung schaue ich ihn an.
"Aber klar."
Mit diesen Worten trete ich an den Baum heran und beginne hochzuklettern.
Der Baum hat viele dicke Äste und reicht hoch hinaus, er ist der höchste Baum auf der Lichtung. Ich bin schon auf der Hälfte, als Legolas an mir vorbeiklettert, schneller und eleganter als ich es vermag. Staunend bleibe ich stehen und schaue ihm von unten zu, wie er geschickt seine Arme und Beine koordiniert und schnell immer höher klettert.
Da stoppt auch er und grinst zu mir herunter. Unwillkürlich lächle ich auch und komme ihm hinterher. Endlich stehe ich neben ihm und er schaut mich warm an. Schnell drehe ich den Kopf weg und betrachte die Aussicht, die sich uns bietet.
Ich kann über den Düsterwald hinwegsehen, und irgendwo im Westen noch ganz schwach die Silhouette der Nebelberge ausmachen. Mit Wehmut schaue ich dorthin und plötzlich vermisse ich Elrond und Arwen.
"Hey, nicht traurig sein", sagt Legolas sanft und berührt meine Hand mit zwei Fingern. Überrascht zucke ich zurück, doch er lässt sich nicht davon beirren. Vorsichtig nimmt er meine Hand in seine und streicht mit dem Daumen über meinen Handrücken. Sofort kribbelt diese Stelle und mir wird warm, doch ich trete einen Schritt zurück und spüre, wie unter mir der Ast dünner wird. Ich will gerade etwas sagen, da rutsche ich mit einem Fuß von dem Ast, auf dem wir stehen und stürze nach unten. Ich rudere mit den Armen, pralle immer wieder auf Äste und versuche mich festzuhalten, als es mir schließlich gelingt.
Unbeholfen hänge ich an einem Ast fünf Meter unter dem Prinzen, der mich erschrocken anschaut. Stöhnend ziehe ich mich hoch auf den Ast und klammere mich daran fest.
Alles an mir tut weh und um mich herum sind Äste abgebrochen. Da steht Legolas plötzlich neben mir auf dem Ast und hockt sich zu mir.
"Was war denn das gerade?", fragt er und muss sich zusammenreißen um nicht laut loszulachen.
"Ein Absturz", murmele ich dumpf und setze mich auf. Legolas betrachtet mich mit vergnügt blitzenden Augen und hilft mir beim Aufstehen.
"Habt ihr euch verletzt?"
"Nein, aber ich will wieder zurück zum Palast."
Er nickt verständnisvoll und wir klettern wieder herunter. Legolas springt, als er nur noch drei Meter vom Boden entfernt ist, einfach nach unten und ich verdrehe die Augen. 'Jungs und ihr blödes Imponier-Gehabe.' Ich brauche ein wenig länger, doch endlich bin ich wieder auf dem Boden und wir gehen zum Palast. Mir ist der Vorfall unglaublich peinlich, aber Legolas sagt nichts dazu. Allerdings grinst er die ganze Zeit vor sich hin.
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