Verlust
•drei Wochen später•
Ich trainiere gerade Schwertkampf, allerdings diesmal nicht mit meinem Vater, sondern mit einem der Wachen.
Laut ihm habe ich enorme Fortschritte in den letzten Wochen gemacht, und auch ich bemerke ein paar Veränderungen. Ich bin kräftiger und geschickter geworden. Auch mein Selbstbewusstsein wächst mit jedem Lob, welches ich bekomme, aber auch mit jeder Kritik, durch die ich mich verbessern kann. Ich lerne im Unterricht fleißig und weiß jetzt schon deutlich mehr als bei meiner Ankunft. Mittlerweile verlaufe ich mich auch nicht mehr so oft, wenn ich einen Raum suche und ich verbringe fast jeden Abend mit Arwen. Wir beide entwickeln eine enge Freundschaft und auch die Beziehung zu meinem Vater wird besser. Mir geht es hier in Bruchtal gut und ich fühle mich sehr wohl. Jeden Elb, der mir auf den Gängen entgegen kommt, begrüße ich mit einem Lächeln im Gesicht.
Doch heute ist irgendetwas anders. In letzter Zeit habe ich öfters an Bahel, Angathel und Derian gedacht, mich gefragt wie es ihnen wohl geht, ob sie mich vermissen. Bahel bestimmt.
"Eine kleine Pause", meint mein Trainer zu mir und ich lasse mich auf eine Steinbank am Rande des Platzes fallen. Es ist heiß heute und ich schwitze in meiner Trainingskleidung, die eigens für mich angefertigt wurde. Die Übungen von heute haben mich geschafft und ich atme schwer. Am liebsten würde ich etwas trinken, aber damit muss ich bis zum Essen warten. Nach zehn Minuten stehe ich wieder auf und das Training geht weiter.
Die Wache nimmt mich hart ran, aber am Ende beherrsche ich die Übungen, die er mir aufgetragen hat mit nur wenigen Fehlern.
"Das habt ihr sehr gut gemacht, ihr werdet nochmal eine exzellente Kriegerin."
Ich lächle die Wache fröhlich an und verneige mich kurz zum Abschied.
"Vielen Dank."
Ich will schon gehen, da stürmt plötzlich ein Reiter auf seinem Pferd in den Hof, springt ab und eilt zu der Wache. Diese hat vor lauter Schreck ihre Waffe gezogen, doch der Reiter ist ein unbewaffneter junger Mann.
Er ist schmutzig und eine Wunde klafft an seinem rechten Arm. Seine braune, einfache Kleidung ist zerrissen und seine schwarzen Haare kleben förmlich an seinem Kopf. Gehetzt schaut er sich um und stürzt fast bei dem Versuch zu der Wache zu gelangen. Diese lässt das Schwert fallen, fängt den Mann auf und stützt ihn.
Ich komme zu ihnen, aber ich kann nicht helfen, stattdessen kümmere ich mich um seine Stute. Sie ist schweißüberströmt, an ihren Beinen sind Schlammspritzer und sie lässt erschöpft den Kopf hängen.
Sanft tätschele ich ihren Hals und spreche ihr gut zu, damit sie mir folgt. 'Was ist da passiert?'
Ich nehme die Stute an den Zügeln und bringe sie zum Stall, während die Wache den völlig entkräfteten Mann ins Innere des Hauses bringt. Im Stall sattele ich die Stute ab, gebe ihr Futter und Wasser, bürste und striegele sie und reibe sie mit Stroh ab.
"So meine Gute. Ruh dich aus."
Ich schließe die Holztür und inspiziere das Zaumzeug. Die Verarbeitung kommt mir bekannt vor, aber ich kann mich nicht genau daran erinnern. Mit einem Schulterzucken hänge ich es an einen Haken zu den anderen Sachen und verlasse den Stall.
Es ist nun Essenszeit, und nachdem ich gegessen, getrunken und mich umgezogen habe, gehe ich zu dem Zimmer, in dem der junge Mann untergebracht wurde.
Seine Wunde wird gerade von einer Elbin versorgt, als ich leise ins Zimmer komme und die Tür hinter mir schließe. Elrond befindet sich auch hier, er schaut mich an und nickt mir zu, dann hört er wieder aufmerksam und ernst dem Mann zu, der stockend und mühsam erzählt. Ich stelle mich neben meinen Vater und lausche der Erzählung.
"Sie kamen mitten in der Nacht... Orks... und einen Troll hatten sie wohl... auch."
Der Mann keucht vor Schmerz auf, dann redet er weiter.
"Sie haben alles zerstört, die Häuser... alles. Und getötet haben sie. Dann zogen sie weiter, Richtung Norden, zu den Höfen."
Vor Entsetzen weiten sich meine Augen und ich verkrampfe mich.
'Die Höfe! Meine Familie!'
"Welche Höfe? Wo?!", rufe ich aufgeregt und mit Panik in der Stimme. Ich trete nah an den Mann heran und schaue ihn eindringlich an.
"Wo, bitte sagt es mir."
Er schaut mich verwirrt an.
"Bist du nicht die Elbe, die bei Derian gelebt hat?"
"Ja, ja genau die bin ich! Bitte, wo sind die Orks hingegangen?"
Da schaut er mich mitleidig an und senkt den Kopf.
"Es tut mir so leid."
"Nein!"
Mit weit aufgerissenen Augen realisiere ich was das heißt. Eine Welle der Verzweiflung bricht über mir zusammen und reißt mich fast um, doch ich bleibe stehen. Stattdessen stürme ich aus dem Zimmer und den Gang hinunter zu den Ställen.
"Jedwiga!", versucht Elrond mich aufzuhalten, doch ich höre ihm nicht zu. Ich will nur noch eins: zu meiner Familie.
Außer Atem gelange ich zum Stall, reiße die Tür auf und laufe zu der Box von Heras, meinem Hengst, der bereits aufgeregt tänzelt. Das Futter der Elben hat ihn kräftiger werden lassen, sein Fell glänzt, aber ich habe keinen Blick dafür. Ohne Zaumzeug oder Sattel springe ich auf seinen Rücken, halte mich an seiner Mähne fest und trete ihm mit den Fersen in die Seiten. Sofort springt er vorwärts, galoppiert aus dem Stall, über den Hof, an Elrond und Arwen vorbei und weg von Bruchtal. Bei höchster Geschwindigkeit fliegen wir fast über den Boden den Weg zurück, den wir vor mehr als drei Wochen gekommen sind. Ich presse mich eng an Heras' Hals, um dem Wind so wenig Widerstand wie möglich zu bieten und treibe ihn immer mehr an. Doch er spürt meine Angst, meine Verzweiflung und gibt alles. Während wir reiten sind meine Gedanken bei meiner Familie. 'Nein, nein, das darf nicht sein. Nicht sie, nicht Bahel. Ihnen ist nichts passiert, bitte, sie leben noch.' Den Weg, für den wir vorher eineinhalb Tage gebraucht haben, legen wir in wenigen Stunden zurück. Heras' Geschwindigkeit ist atemberaubend und er fliegt über den Weg, durch den Wald und schließlich über die Felder. Doch was ich in der Ferne sehe, lässt meine Panik nur steigen. Eine schwarze Rauchsäule steigt über der Stelle, an der der Hof liegt, auf.
Endlich gelangen wir auf den Hof, doch der Anblick der sich mir bietet ist schrecklich. Die Scheune ist niedergerissen und verbrannt, der Zaun zur Koppel der Pferde liegt flach am Boden und überall sind Fußspuren von Orks im schwarz gebrannten Boden. Aber am schlimmsten ist das Haupthaus. Die Vordertür ist aus den Angeln gerissen, die Fensterscheiben zertrümmert, und im Dach klafft ein riesiges Loch, aus dem noch immer Rauch dringt. Ruß klebt an den Wänden und im Gehege der Ziegen ist der Boden mit dem Blut der Tiere getränkt. Die Kadaver liegen alle in einer Ecke, verkohlt und verstümmelt. An manchen Stellen flackern noch kleine Feuer, aber ansonsten ist niemand da. Kein Tier, kein Mensch, nichts.
Ich springe in einem Satz von Heras und stürme auf das Haupthaus zu.
"BAHEL! DERIAN! ANGATHEL!", rufe ich panisch und stürze in das Haus hinein. Doch dann bleibe ich stehen. Nichts ist mehr so wie ich es kenne, der Tisch ist zerstört, die Feuerstelle ebenfalls, Ruß ist überall und es stinkt. Nach verbranntem Fleisch.
"Nein! Nein, nein, nein!", schreie ich und durchsuche die Trümmer. Da entdecke ich etwas, was alles in mir zerstört. Zwei verkohlte Skelette. Ein kleines und ein größeres, Bahel und Angathel. Mit einem Aufschrei stürze ich auf sie zu, falle auf die Knie und schluchze hemmungslos. Schmerz durchbohrt mein Herz, ein Schrei bildet sich in meiner Brust und dringt explosionsartig nach draußen.
"NEEEEEIIIN!"
Ich vergrabe meinen Kopf in den Händen und sacke in mich zusammen. Dann rappele ich mich auf, Tränen strömen über mein Gesicht und ich kann kaum etwas sehen. Und doch bemerke ich das kleine Holzpferdchen in einer Ecke. Es ist halbwegs unversehrt, und ich nehme es kurzerhand an mich. Dann laufe ich nach draußen und suche nach Derians Leichnam.
Nach kurzer Zeit finde ich ihn hinter dem Haus, erkenne allerdings nur an seinen Haaren, dass er es ist, oder besser war. Der Körper ist zerfleischt und voller Blut. In einer Hand hält er ein schartiges Schwert, doch es hat ihm nichts genutzt. In diesem Moment zerbricht endgültig etwas in mir und tiefe, unendliche Trauer ergreift meine Seele. Wie in Trance gehe ich zurück auf den Hof, doch da breche ich in mich zusammen und falle auf die Knie. 'Warum Bahel? Warum meine Familie? Sie waren so jung.' Tränen fallen auf meine Hände und auf mein nun schmutziges Kleid, doch sie sind mir egal. Der Boden ist kalt und es ist feucht, doch auch das ist mir egal. Ich sehe nur die verkohlten Kadaver meiner Familie, die ich seit ich klein war kannte und fühle den Schmerz, der mich innerlich verschlingt. Heras ist da, doch ich beachte ihn nicht. Auch als sich Hufgetrappel dem Hof nähert, blicke ich nicht auf. Jemand steigt ab, kommt mit langsamen Schritten auf mich zu und kniet sich neben mich.
"Jedwiga", sagt eine ruhige Stimme. Es ist Elrond, doch ich rühre mich nicht. Da zieht er mich an seine Brust, schiebt einen Arm unter meine Knie und hebt mich mit Leichtigkeit hoch. Widerstandslos lasse ich es geschehen, auch als Elrond mit sicheren Schritten zu seinem Pferd geht, mich daraufsetzt und hinter mir aufsteigt. Heras folgt uns, als wir dem zerstörten Hof den Rücken kehren und den Weg nach Bruchtal zurückreiten. Meine Tränen fließen, und ohne Elronds Arme, die um mich geschlungen sind, wäre ich einfach vom Pferd gefallen. 'Nein.'
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