Erinnerungen

Als sie abgestiegen ist, läuft Jedwiga sofort ein paar Schritte weit von mir und Heras weg. Irgendetwas macht ihr zu schaffen, das spüre ich ganz deutlich, also gehe ich ihr hinterher.
"Jedwiga", sage ich leise und nähere mich ihr vorsichtig von hinten. Doch sie reagiert nicht, sondern starrt in die Richtung aus der wir gekommen sind. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt und ihr ganzer Körper steht unter Spannung. Behutsam löse ich ihre linke Hand und verschränke ihre Finger mit meinen.
"Hey, was ist los?"
Aufmerksam schaue ich sie von der Seite her an und bemerke, dass sich eine Träne in ihrem Augenwinkel gebildet hat. 'Oh nein, was soll ich jetzt machen?' Bei so etwas bin ich immernoch ein wenig hilflos, da ich nie weiß was ich tun soll. Doch Jedwiga weint nicht.
"Es ist alles in Ordnung, aber dieser Ritt... er hat mich so sehr an den Ritt zum Hof meiner alten Familie erinnert. Dazu heißt das Pferd auch noch Heras, genau wie mein Hengst damals und das Ereignis hat in einer Woche seinen 210. Jahrestag."
Sie schluckt und senkt den Kopf. Kurzerhand lege ich meine linke Hand an ihre rechte Wange, hebe ihren Kopf sacht an und lege meine Lippen auf ihre. Der Kuss ist nur kurz, aber ich lege all meine Gefühle für Jedwiga hinein.
"Ich bin für dich da", flüstere ich und streichle mit dem Daumen über ihre Wange. Sie schaut mich an und nickt, dabei fällt ihre einzelne Träne auf ihre andere Wange. Zärtlich wische ich sie weg und ziehe Jedwiga dann in eine innige Umarmung.
Kurze Zeit später reiten wir weiter, dieses Mal ich vorne und Jedwiga hinter mir, immer höher den Hang hinauf. Heras konnte sich zwar ein wenig ausruhen und neue Kräfte schöpfen, aber wir schonen ihn dennoch indem wir ihn nur im Schritt gehen lassen.
Schließlich schlagen wir unser Lager an der oberen Baumgrenze auf, gleich neben dem Eingang zum Paß und essen eine Kleinigkeit.
"Es wird Regen geben", meint Jedwiga und kuschelt sich enger an mich. Ich nicke, das habe ich auch schon gerochen.
Dieses Mal übernimmt Jedwiga die erste Wache und ich darf schlafen, bis ich sie ablösen muss.

Später in der Nacht wache ich auf und Jedwiga ist nicht mehr neben mir. Kurz befühle ich mit der Hand den Boden an der Stelle, an der sie gesessen hat als ich einschlief. Sie ist noch warm, also ist sie noch nicht lange weg. Lautlos stehe ich auf und schaue mich um. Sofort entdecke ich sie und eile zu ihr, sie steht auf einem Felsvorsprung, den Bogen in der Hand und starrt in die Nacht hinaus. Mit einem Handzeichen bedeutet sie mir leise zu sein als ich mich neben sie stelle. Da höre ich es: ein langezogener, schriller Schrei, der unmöglich von einem Ork stammen kann. Bedrohlich schwingt er in der Luft und es liegt Hass und Mordlust in ihm. Als er verstummt ist schaue ich Jedwiga an.
Ihre Pupillen sind vor Schreck geweitet, aber sie bleibt ruhig und gefasst.
"Was war das?", frage ich sie.
"Ich habe keine Ahnung, aber während du geschlafen hast sind noch zwei weitere dieser Schreie zu hören gewesen. Was auch immer sie verursacht hat, ist ganz nah."
"Wir sollten verschwinden. In wenigen Stunden geht die Sonne auf, bis dahin könnten wir bereits fort sein."
Doch Jedwiga schüttelt den Kopf.
"Nein, das ist viel zu gefährlich. Schon bei Tag ist die Überquerung des Paß gefährlich, bei Nacht aber ist es reinster Selbstmord. Auch wenn wir Elben sind, Heras wird es nicht schaffen, er wird ausrutschen und zu Tode stürzen!"
"Und was machen wir stattdessen?"
"Wir können nur warten bis es hell wird und hoffen, dass es nicht näherkommt."
Mit diesen Worten dreht sie sich um und geht zurück zu Heras, der bei den Schreien unruhig den Kopf gehoben hat, um ihn zu beruhigen.
Einen Moment lang starre ich noch in die Macht hinaus und hoffe etwas zu entdecken, doch ich sehe nichts. Die Sterne blinken unschuldig am dunkelblauen Himmel und senden ihr kaltes, silbernes Licht zu uns hinunter.
Dann folge ich Jedwiga.

Die restliche Nacht lang passiert nichts mehr, nicht einmal die Schreie sind zu hören. Ich bleibe wach und Jedwiga schläft, allerdings nicht lange, denn beim ersten Sonnenstrahl wecke ich sie und wir ziehen weiter. Wir steigen nicht auf Heras' Rücken sondern ich führe ihn am Zügel hinter mir her.
Schon bald tauchen wir in die Schlucht zwischen zwei Bergen ein, die den Paß durch das Nebelgebirge bildet und müssen nun vorsichtiger sein.
Wir kommen langsamer voran als vorher, da wir Heras nicht verlieren wollen. Wenn er fällt, haben wir kein Essen und kein Wasser mehr. Zwar wäre das nicht so schlimm, da wir nicht so viel Nahrung brauchen, aber das Wasser wäre eher das Problem.
Eine Weile lang gehen wir schweigend voreinander her, Jedwiga schreitet voran und ich folge ihr mit Heras.
Unsere Schritte hallen leise in der Schlucht und tief unter uns kann ich einen Fluss rauschen hören.
Bald wird es heller und die Reise geht nun leichter und schneller voran.
Besorgt betrachte ich Jedwiga von hinten. Ihre Schritte sind sicher, ihre braunen Haare fließen über ihre Schultern und ich kann ihre spitzen Ohren erkennen. Ihr Bogen hängt auf ihrem Rücken, zusammen mit dem Köcher. Eigentlich sieht sie aus wie immer, aber ich kenne sie gut genug um zu wissen, dass sie etwas bedrückt. 'Warum will sie es mir nicht sagen? Oder hat es etwa mit dem baldigen Jahrestag des Todes ihrer Menschenfamilie zu tun?'
Gegen Mittag hole ich etwas zu Essen aus Heras' Satteltasche und reiche es Jedwiga nach vorne. Sie schenkt mir ein kleines, dankbares Lächeln, dann isst sie und geht schweigend weiter.
Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle und ich schlucke um ihn weg zu bekommen. 'Was ist mit ihr los?'
Die nächsten Stunden gehen wir weiter, bis wir an eine Höhle im Fels kommen, in der wir bequem übernachten können. Sogar Heras passt hier rein und wir legen unsere Sachen auf den leicht sandigen Boden. Die Höhle ist nicht besonders groß und nach einer kurzen Inspektion stellen wir fest, dass sie auch orkfrei ist.
Mit einem Seufzen lässt Jedwiga sich auf den Boden sinken und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Felswand. Sie winkelt ihre Beine leicht an und legt ihre Arme auf ihre Knie.
Wortlos setze ich mich vor sie und schaue sie unverwandt an bis sie es bemerkt und den Kopf hebt. Schweigend mustern wir uns und ich lege den Kopf schief.
"Was ist los?", frage ich leise und Jedwiga senkt den Blick. Mit ihrer Schuhspitze malt sie Muster in den Sand, antwortet aber nicht. Da stehe ich energisch auf und setze mich direkt neben sie. Ernst schaue ich sie an und meine Stimme ist fast schon bedrohlich, als ich sie erneut frage.
"Jedwiga, was ist los?"
Sie schreckt zurück und schaut mich erschrocken an. Meine Miene wird weicher und ich schaue ihr tief in die Augen.
"Ich sorge mich um dich. Ich will nicht, dass du traurig bist, das habe ich mir geschworen als du verwundet warst und ich mir meine Liebe zu dir eingestand. Lass mich dir helfen."
Ich hebe die Hand und lege sie an ihre Wange, dann breite ich den anderen Arm aus. Nach kurzem Zögern kuschelt sie sich an mich und ich hebe sie kurzerhand seitlich auf meinen Schoß.
"So, und jetzt sag mir was dich bewegt", sage ich zu ihr, meine Arme um sie geschlungen und das Gesicht ganz nah an ihrem. Ich spüre ihren Atem und rieche ihren Geruch, lasse mich davon aber nicht ablenken.
"Naja, ich... ich habe Angst. Angst vor den Orks, Angst vor dem Ding, was da so geschrien hat und irgendwie auch vor der Reaktion meines Vaters wenn er erfährt, dass wir verlobt sind. Aber ich spüre auch einen Schatten über mir, der versucht sich meiner Seele zu bemächtigen."
Ihre Worte werden zu einem Flüstern und ich lege schützend beide Arme um sie.
"Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendetwas passiert, das schwöre ich dir. Wegen deines Vaters würde ich mir keine Sorgen machen, er hat uns doch schon seinen Segen gegeben."
Sie schaut mich an und ich erkenne erleichtert wieder Hoffnung in ihren Augen. Dann lege ich sanft meine Lippen auf ihre und ziehe sie enger an mich. Sie lässt es geschehen, erwidert den Kuss und legt eine Hand auf meine Brust.
Schließlich lösen sich unsere Lippen voneinander und ich betrachte glücklich ihr Gesicht.
"Ich liebe dich."
"Ich liebe dich auch", flüstert sie zurück.

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