ODINS HÜHNCHEN
»JETZT HAUT ENDLICH AB!« Umgeben von einem Gewirr aus Federn, Schnäbeln und Krallen bahnt sich Drummel den Weg zurück vom Ufer des Vänersees zu seinem Bruder Knöl und ihrer Mutter Lura. Nachdem sie die anderen Füchse entdeckt haben, lassen die aufgebrachten Blässgänse von ihrem Angreifer ab.
»Das waren keine Graugänse, du Dummel-Drummel.« Knöl faucht seinen Bruder an, welcher sich zahlreiche Federn aus dem Schlund husten muss.
»Das weiß ich selbst. Aber wie sollen wir die eine Schar unter den tausend anderen an diesem riesigen See finden?«, rechtfertigt Drummel seine gescheiterte Suche nach Runars Schar mit dem schwarzen Gänserich.
»Indem du die Augen aufsperrst!«, stutzt ihn seine Mutter zurecht. Lura, die schwarze Füchsin, hat es sich zum Ziel gemacht, Rache an Pablo zu verüben. Rache, weil er sich ihr in den Weg gestellt hat, als sie eine der Graugänse erbeuten wollte. Aber auch dafür, dass er es wagt, mit seinem schwarzen Gefieder ebenso selten und besonders zu sein, wie sie es war. Denn Lura hatte diese Einzigartigkeit einst mit großen Qualen bezahlen müssen, während Pablo von seinem Besitzer verhätschelt und verwöhnt worden war. Nun wird er von vielen wilden Tieren bewundert und beschützt. Etwas, dass sie ihm nicht gönnte. In ihren Augen war in Schweden nur Platz für ein schwarzes Tier und dieses wollte gefürchtet und respektiert werden.
»Lasst uns weitergehen. Irgendwo müssen sich die Gänse aufhalten. Ihre dicke Hausgans muss schließlich auffallen. Also haltet weiter Ausschau nach dem schwarzen Vogel.« Strammen Schrittes trabt die Silberfüchsin voran, ihre weiße Schwanzspitze leuchtet im Licht der aufgehenden Sonne.
»Mutter, wir sind beinahe drei Tage am Stück unterwegs gewesen. Wir brauchen eine Pause«, versucht Drummel die Suche zu unterbrechen. »Der Vänersee ist zu groß. Wir werden Runars Schar nie und nirgends finden.«
»Richtig, der See ist riesig. Genau aus diesem Grund dürfen wir nicht ruhen«, widerspricht ihm seine ehrgeizige Mutter. »Am Ufer und vermeintlich unter dem Schutz der zahlreichen anderen Wasservögel fühlen sich die Gänse sicher. Niemals sonst haben wir erneut eine derartige Chance, den schwarzen Gänserich zu erwischen, als hier und jetzt. Wir müssen sie finden, bevor sie weiterfliegen.«
Lura duldet weder Aufschub noch Widerspruch. Sie hatte einmal bewiesen, dass sie ein Ziel erreichen kann, und sie will es wieder tun. Der Vänersee, auch Vänern genannt, macht es der Füchsin aber alles andere als einfach. Mit einer Länge von 150 km und einer Breite von 81 km kann er nicht an einem Tag umrundet werden. Die Gänse, die sie sucht, könnten überall sein.
»Sollen wir uns aufteilen? Dann schaffen wir mehr Strecke und können ...«
»Was können wir?«, unterbricht Lura Knöls Idee. »Quer über den See schreien, wenn einer von uns Runars Truppe gefunden hat? Wolltest du das vorschlagen? Oder die gesamte Distanz nach einem ausgedehnten Erholungsschlaf erneut zurücklegen, um uns Bescheid zu sagen? Bis dahin sind die Gänse längst über alle Berge. Wir brauchen eine effektivere Methode.«
»Fliegen müsste man können«, sinniert Drummel vor sich hin.
»Red keinen Unsinn!«, spottet Lura. »Bevor Füchse fliegen lernen, machen Mäuse Jagd auf Eulen. Lasst uns keine Zeit verlieren. Der Tag hat erst begonnen und wenn wir wachsam sind, werden wir schon von Weitem mitbekommen, wo die schwarze Gans steckt.«
Eilig traben die Silberfüchsin und ihre Söhne durch das Unterholz. Sie können nicht zu nah ans Ufer heran. Dort würden sie entdeckt werden und ein zweites Mal will keiner von ihnen von hysterischen Wasservögeln gejagt werden. Noch wichtiger ist es jedoch, dass die Graugänse aus Schonen nicht merken, dass Lura ihnen auf den Fersen ist.
Der Dunst des Morgens hat sich längst verzogen als die Füchse an einer Stelle ankommen, die sie vor neuen Herausforderungen stellt.
»Hier ist kaum Deckung. Wir müssen uns noch weiter vom Ufer entfernen. Verflixt! Wenn das so weitergeht, finden wir den schwarzen Schnösel niemals.« Lura stößt mit ihrer Pfote einen Hühnergott zur Seite. Der Stein mit dem Loch in der Mitte landet hinter einem Felsen. Von dort dringen nun zeternde Laute zu den drei Jägern.
»Was soll denn das? He? He?« Ein kleiner grau gestreifter Vogel mit hellroten Federn an der Halsseite schnellt hervor. »Wart ihr das? Habt ihr einen Stein nach mir geworfen? Sagt schon! Sagt schon!«
»Mutter, warum labert der komische Vogel alles doppelt?« Knöl fühlt sich von dem Flattermann genauso wenig bedroht, wie der Rest seiner Familie.
»Keine Ahnung.« Lura atmet einmal kräftig aus. »Hör zu, wir haben keine Zeit für deine Befindlichkeiten. Wenn du nicht möchtest, dass wir dich zum Frühstück vernaschen, schlage ich vor, dass du wieder hinter den Felsen verduftest und uns nicht weiter auf den Geist gehst.«
»Hör auf unsere Mutter. Nach dem langen Fußmarsch habe ich ziemlichen Hunger«, tritt Drummel auf den Vogel zu. Dieser denkt gar nicht daran, zu verschwinden, und stellt sich breitbeinig vor den Raubtieren hin.
»Ich weiß genau, dass es Absicht war. Jawohl! Jawohl! Warum sonst solltet ihr einen Hühnergott mit einem Hühnergott bewerfen?« Unruhig tippelt der kleine Schnepfenvogel vor Luras Schnauze auf und ab.
»Lass ihn uns von seinem Leid erlösen, Mutter«, schlägt Knöl vor und kichert. »Er ist nicht bei Sinnen. Er hält sich für einen Gott.«
»Ich bin ein Odinshühnchen. Was denkt ihr, warum ich so heiße. Was? Was?« Der freche Kerl plustert sein Gefieder und dreht sich um.
»Glaubt man es denn?« Mit einem Satz hat Lura das Hühnchen eingeholt und positioniert sich zähnefletschend vor ihm. »Wage es nicht noch einmal, mir den Rücken zuzukehren! Dir ist offensichtlich nicht bewusst, in welcher Lage du dich befindest. Wir sind schlecht gelaunt und hungrig. Nenn mit nur einen Grund, warum wir dich nicht fressen sollten?«
»Mutter?« Drummel schleicht sich gesenkten Hauptes an die schwarze Füchsin heran. »Mutter, hör mal?«
»Stör mich nicht, Drummel. Oder willst du, dass er wegfliegt?«
»Ähm, ja. Eigentlich schon.«
Drummels Bruder Knöl kneift ihn wütend in die Schulter. »Was soll das denn? Lass Mutter ihn erledigen. Ist zwar nicht viel dran, aber wir brauchen jeden Bissen, den wir kriegen können.«
»Ich weiß. Aber haben wir nicht eben darüber gesprochen, dass es gut wäre, wenn wir fliegen könnten«, legt Drummel seine Gedanken offen.
»Jetzt verliert er auch seinen Verstand. Mutter, wir sollten ihn zurücklassen.« Knöl verpasst seinem Bruder ein paar Schläge mit seiner buschigen Rute.
»Nein, mein Junge.« Auf Luras Gesicht macht sich ein listiges Grinsen breit. »Drummel hat recht. Wir müssen fliegen, um Runars Schar zu finden. Aber uns werden mit Sicherheit keine Flügel wachsen. Er hier hat welche.« Die Füchsin stupst das Odinshühnchen mit der rechten Vorderpfote an.
»Natürlich habe ich Flügel«, beweihräuchert sich dieses selbst und präsentiert seine volle Spannweite. »Ich bin ein geschickter Flieger. Ihr müsstet sehen, welch kunstvolle Techniken ich beherrsche. Nicht wahr? Nicht wahr?«
»Uns ist egal, wie kunstvoll du fliegst. Hauptsache, du ermittelst, was wir suchen, und sagst uns, wo wir es finden können.« Lura setzt sich und gibt dem Vogel mehr Raum.
»Jetzt verstehe ich«, keift Knöl und hüpft einmal in die Luft. »Du willst ihn als Spion einsetzen.«
»Ganz recht«, bestätigt die Silberfüchsin. Ihre weiße Schwanzspitze wippt von einer Seite zur anderen. »Wenn er nicht möchte, dass wir ihn verspeisen, muss er sich für uns als nützlich erweisen. Also, Odin. Was sagst du?«
»Nichts! Nichts! Ihr habt mich mit einem Stein beworfen. Ihr müsst etwas für mich tun, um das wieder gutzumachen.« Mit einem kräftigen Nicken macht Odin klar, dass er nicht mit sich verhandeln ließ.
»Schön. Du hast recht«, lenkt Lura nach einer kurzen Pause ein. »Unser Kennenlernen war nicht perfekt. Wir haben Fehler gemacht. Ich entschuldige mich hiermit in aller Form bei dir, dass ich diesen Hühnergott in deine Richtung geschleudert habe. Auch möchte ich für das Fehlverhalten meiner Söhne um Verzeihung bitten.«
Drummel und Knöl werfen sich fragende Blicke zu. Doch ihre Mutter weiß, was sie tut.
»Lieber Odin. Wenn du uns diesen Gefallen tun würdest, dann gebe ich dir mein Wort, dass wir drei dich vor allen Gefahren schützen werden. Kein Raubtier wird es wagen, Jagd nach dir zu machen. Bei schlechtem Wetter kannst du unter unserem weichen und warmen Fell Unterschlupf finden. Sofern es uns möglich ist, werden wir dir bei der Nahrungssuche behilflich sein und –«
»Ist gut! Ist gut!« Die schmeichelnden Wörter der Füchsin haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Mit geschwellter Brust stolziert Odin auf und ab. »Das hört sich nach einem fairen Deal an, meine Dame. Es ist durchaus begrüßenswert, einem göttlichen Geschöpf wie mir, allen nötigen Respekt und Schutz zu gewähren. Dennoch möchte ich zuvor erfahren, um welche Art Gefallen es sich handelt. Was soll ich für euch erledigen? Was? Was?«
»Nichts Gefährliches. Etwas, wofür man gut und schnell fliegen können muss«, antwortet Lura und zwinkert ihren Söhnen zu.
»Das kann ich! Das kann ich!«, posaunt Odin voller Stolz und Vorfreude heraus.
»Dann flieg los und suche Runar und seine Graugänse aus Schonen. Es ist ein schwarzer Gänserich unter ihnen. Du kannst sie nicht verfehlen. Wenn du sie gefunden hast, kehre so schnell wie möglich zurück und sag uns, wo wir die Gänse finden.«
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