[08] Ist es Liebe?

»ICH MUSS ES mir endgültig aus dem Kopf schlagen«, dachte Hatto, als er traurig den Weg weiterging. Er kam an das ehemalige Gebäude des Pokémaniacs Bill vorbei. Er hatte bereits vor ein paar Jahren Azuria City verlassen. »Vielleicht hätte er dem Ditto helfen können?«, dachte er und machte sich dann wieder auf den Heimweg.

Auf der Nugget-Brücke waren ein paar Angler damit beschäftigt ein Karpador nach dem anderen wieder frei zu lassen. »Diese Vieher können noch weniger, als mein kleines Ditto«, murmelte Hatto vor sich hin und kicherte dabei heiter.

Wieder in seiner einsamen und sich erneut aufheizenden Dachgeschosswohnung angekommen, machte sich Hatto ein wenig Mittagessen. Sein Appetit war nicht besonders groß, die Hitze und die Aufregungen der letzten Tage hatten dem älteren Herrn doch mehr zugesetzt, als er sich eingestehen wollte. Dennoch fühlte er sich irgendwie gut. Er war zwar traurig, was auch seit langer Zeit nicht mehr vorgekommen war, aber dennoch war er gleichzeitig auch befreit. Er fühlte sich, als ob eine Last von ihm abgefallen wäre. Und er fühlte noch etwas. Etwas sehr Schönes, wie Hatto zugeben musste.

LIEBE.

Hatto hatte es liebgewonnen, dieses kleine Ditto. Dessen war sich der Alte nun bewusst geworden. Dieses Geschöpf war so unvoreingenommen und glücklich, als es unverhofft erst in seinem Mülleimer und einen Tag später auf Hattos Tisch saß. Es lächelte ihn mit seinem breiten Mund und seinen Knopfaugen an und schien dabei die ganze trostlose, einsame und mit uraltem Inventar voll gestellte Wohnung zu erhellen. Doch Hatto erkannte es nicht, wollte es nicht erkennen. Nun war es zu spät. Er hatte das einzige Wesen auf der Welt verloren, das er liebhatte und das ihn ebenso liebte.

Ein Schmerz durchfuhr Hattos Brust und dann heulte er los. Er weinte wie ein kleines Baby. Auch das hatte er seit ewig langer Zeit nicht mehr getan. Er ließ seinen Gefühlen einfach freien Lauf und ihm war es egal, ob es einer seiner Nachbarn hören könnte. Er weinte nicht nur wegen des Dittos. Er beklagte nun sein ganzes bisheriges Leben seit dem Tag, an dem seine Frau starb und er sich selbst in das verwandelte, was er heute war.

Ein unausstehliches Ekel.

Jedoch musste er auch einsehen, dass es nicht so leicht sein würde, dieses einsame Leben zu ändern. Wie könne er nach all den Jahren der Zwietracht, Missgunst und abfälligen Bemerkungen auf seine Mitmenschen zugehen? Würden sie ihn jemals in ihr Leben lassen? Ihm verzeihen, einfach nur zuhören? Hatto erschien es selbst unmöglich. Nach der Geschichte mit dem Ditto, bei der er sich in seiner unausstehlichen Sturheit selbst übertroffen hatte, konnte er nicht einmal mehr von Urite verlangen, dass er ihn mit ehrlicher Freundlichkeit bediente. Auch seinem Vermieter kam er gestern nicht gerade respektvoll entgegen. »Wenn er mich im nächsten Monat vor die Tür setzt, könnte ich es ihm nicht mal verübeln«, schniefte Hatto und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel seines kleinkarierten Hemds aus den Augen.

Er holte ein paar Mal tief Luft und knipste seinen Röhrenfernseher an. Doch er starrte nur teilnahmslos auf den verrauschten Bildschirm. Plötzlich fühlte er sich in seiner eigenen Wohnung fehl am Platz. Sie kam ihm so leer und sinnlos vor. Wie hatte er nur all die Jahre Tag ein Tag aus so leben können? Hatto beschloss, an diesem Tag früher als sonst üblich ins Bett zu gehen. Immerhin heizte sich die Dachwohnung wieder sehr auf und der Alte konnte soundso keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Er ging ins Bad, um sich bettfertig zu machen, als plötzlich etwas seine Aufmerksamkeit erhaschte. Etwas auf seinem Regal mit den Handtüchern schien sich bewegt zu haben. Könnte es sein, dass das Ditto zurückgekehrt war? Vorsichtig ging Hatto zum Regal, welches nun wieder still und stumm wie immer zu sein schien. Hatte er sich die Bewegung nur eingebildet? War der Wunsch Vater der Wahrnehmung? Doch dann sah er es ganz deutlich – eines der weißen Handtücher, die noch alle aus dem gemeinsamen Besitz von ihm und seiner Frau stammten, bewegte sich.

»Ditto? Bist du es, mein Kleiner?«, flüsterte Hatto und ging vorsichtig weiter. »Es tut mir leid, dass ich so gemein zu dir war. Wenn du möchtest, kannst du bei mir bleiben. Mir ist es egal, ob du dich in ein anderes Pokémon verwandeln kannst oder nicht. Du sollst niemals wieder allein sein, das verspreche ich dir.«

Hatto stiegen Tränen in die Augen, als er zum ersten Mal offen über seine Gefühle sprach. Doch leider war es seiner Mühe umsonst. Unter dem Handtuch befand sich nichts und es verwandelte sich auch nicht in das kleine Ditto.

»Ich hab' es wohl nur mal wieder unordentlich zusammengelegt und nun ist eine Falte in sich zusammengefallen«, gestand sich Hatto ein. »Ditto wird niemals zu mir zurückkehren.« Traurig machte Hatto mit seinem ursprünglichen Vorhaben weiter und legte sich anschließend schlafen.

Es dauerte nicht lange, bis er in einen dumpfen aber diesesmal traumlosen Schlaf fiel. Kein düsterer Raum, kein Ditto. Als er wieder aufwachte, fühlte sich Hatto noch müder als zuvor. Es hatte sich über Nacht kaum abgekühlt und die Sonne war noch nicht aufgegangen.

»Ich hatte gehofft, es wäre schon später«, knurrte Hatto enttäuscht, beim Blick auf seinen Wecker. »Nicht schon wieder so ein heißer, sich endlos hinziehender Tag.« Mühevoll quälte er sich aus dem Bett und streckte seine müden alten Knochen.

Später beim Frühstück hörte Hatto die ersten Pokémon-Trainer auf den Straßen. Er widerstand dem Wunsch zum Fenster zu gehen, um zu sehen, ob sein Ditto vielleicht bei einem von ihnen zu sehen war. Als die Sonne stieg und es sich in seiner Wohnung erneut aufzuheizen begann, entschloss Hatto, wieder nach draußen zu gehen und er hatte sich eines ganz fest vorgenommen: Er wollte von diesem Tag an freundlicher zu seinen Mitmenschen und Mitpokémon sein.

»Einen schönen guten Morgen, Herr Yachin!«, rief er seinem Vermieter entgegen, der gerade vom Briefkasten kam. »Ich hoffe, die Hitze macht Ihnen und Ihrer Frau nicht allzu schwer zu schaffen. Wie geht es Ihrem Maschock? Hier habe ich eine Beere, geben Sie es ihm und sagen Sie ihm vielen Dank für die tüchtige Arbeit an unseren Wasserleitungen.« Hatto nickte noch einmal freundlich und hinterließ einen verdattert dreinblickenden Yachin, der nicht wusste, ob er wach war oder noch träumte.

»I- Ihnen auch einen schö- schönen Tag, Ma- Mashita«, stammelte er kaum hörbar und ging kopfschüttelnd, mit einer saftigen Beere in seiner kleinen fleischigen Hand zurück in seine Wohnung.

Hatto ging als Nächstes zum Markt, um sich auch beim dortigen Verkäufer Urite gut zu stellen.

»Urite, wie geht es Ihnen bei der andauernden Hitze?«, rief er ihm entgegen, als er ihn vor dem Laden sah, wie er gerade eine neue Lieferung annahm.

Urite schaute verwirrt zu Hatto und wandte sich danach sofort wieder dem Lieferanten zu. Als mit diesem alles geklärt war, begann er die Kisten in den Laden zu tragen. Auch sein Gengar war ihm dabei behilflich und griente Hatto erneut viel wissend an.

»Ich helfe Ihnen, Urite. Ich kann zwar nicht die schweren Kartons tragen, aber auch Kleinvieh macht Mist«, tönte Hatto fröhlich und schnappte sich eine der kleineren Paletten.

»Ich, ähm, danke schön«, nuschelte Urite ungläubig. »Womit habe ich das denn verdient?«

»Sie stehen bei jedem Wetter den ganzen Tag hier drinnen und erfüllen Ihren Kunden jeden Wunsch. Nun ist es an der Zeit, dass sich die Kunden auch mal bei Ihnen erkenntlich zeigen«, verkündete Hatto stolz. »Ah, wie ich sehe haben Sie wieder Eis und kühle Tränke. Sehr schön. Ich nehme davon auch gleich etwas. Behalten Sie das Wechselgeld. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Urite.«

Urite fasste sich an die eigene Stirn, um zu testen, ob bei ihm nicht vielleicht ein Hitzeschlag bevorstünde. Nur sein Gengar schaute kopfnickend hinter den alten Mann her, der heute deutlich leichter und weniger gebeugt zu gehen schien.

Hatto lutschte das erste Eis am Stiel seit vielen Jahren und verließ Azuria City für einen Spaziergang in der Natur. In den Bäumen sangen viele Taubsis, krächzten Habitaks und durch die Luft schwirrten einige Smettbos und schienen im Reigen zu tanzen. Ein Bibor kreuzte seinen Weg und blickte den Alten grimmig an. Hatto erwiderte seinen düsteren Blick mit einem freundlichen Grinsen. Daraufhin schien sich die Laune des stachelbewährten Pokémon deutlich zu erhellen und es flog scheinbar leichter und glücklicher weiter.

Hatto atmete tief durch und genoss seinen Spaziergang. Er fühlte sich prächtig und unter den Bäumen und im hohen Gras schien auch die Hitze durchaus erträglich zu sein.

Seine Ruhe wurde jäh unterbrochen, als er um die nächste Biegung kam und dort ein Mädchen sah, mit braunem Wuschelhaar und ein paar Büchern unterm Arm. Sie schien geweint zu haben und nach etwas oder jemanden zu suchen.

»Was hast du, Kleine?«, sprach Hatto sie vorsichtig an und merkte, wie schwer es ihm nach wie vor fiel, auf fremde Menschen zuzugehen.

»Es ist weg!«, schluchzte das Mädchen und Hatto fielen ihre langen Vorderzähne auf. »Ich habe alles genauso getan, wie es in meinen Büchern steht. Aber dann hat es plötzlich angefangen zu weinen und ist weggelaufen. Ich kann es nicht finden. Es hat sich bestimmt verlaufen und hat furchtbare Angst.«

»Was? Was hast du verloren, Kind?«, fragte Hatto nach und legte seine rechte Hand auf die linke Schulter des Lockenkopfes.

»Mein Ditto!«, gab sie zur Antwort und fing wieder an zu weinen.

Hatto spürte einen heftigen Stich im Herzen.

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