[06] Ein neues Zuhause

ES WAR BEREITS fast Morgen. Das Gewitter der vergangenen Nacht war verzogen und die ersten Sonnenstrahlen blitzten über den Dächern von Azuria City. Hatto schaute sich panisch in seiner Wohnung um. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Nur langsam kamen die Erinnerungen an den vergangenen Tag und schließlich auch an den eben geträumten Traum zurück. Er stand vorsichtig auf und streckte sich ausgedehnt.

»Ob ich es wohl jemals wieder schaffe, in meinem Bett zu schlafen?«, fragte er sich und blickte dabei aus dem Fenster, wobei sein Blick erneut wie von allein in Richtung des Marktes schweifte. »Dem Ditto wird es schon gut gehen. Mach dir keine Sorgen um Dinge, die dich nichts angehen, Hatto. Schon gar nicht um solche Viecher«, sprach er weiter zu sich selbst und begann sein Frühstück vorzubereiten.

Doch er konnte dieses wieder einmal nicht genießen, obwohl ihn dieses Mal weder der Postbote, noch sein Vermieter oder irgendetwas anderes dabei störte. Denn immer wieder blickte der Alte zu seinem rostigen Mülleimer, indem er das Ditto zum ersten Mal erblickt hatte, wie es ihn glücklich anlächelte, in der Hoffnung, ein neues Zuhause gefunden zu haben.

»Ach, verflucht!«, gestand sich Hatto schließlich ein, dass er nun doch wissen wollte, was Urite mit dem kleinen Kerl gemacht hatte und ob es letzte Nacht wirklich allein bei dem Gewitter im Markt bleiben musste.

Er zog seinen Anzug für besondere Anlässe an und machte sich auf den Weg zum Markt. Dabei lief er deutlich schneller, als er das sonst zu tun pflegte, wenn er einen der lästigen Pflichteinkäufe erledigen musste.

»Mashita, alles in Ordnung bei Ihnen? Wieso haben Sie es denn so eilig heute?«, rief ihm noch sein Vermieter, Herr Yachin hinterher, doch Hatto hörte ihn dieses Mal wirklich nicht und hatte ihn nicht nur, wie sonst üblich, absichtlich überhört.

Angekommen am Markt drängelte sich der Alte dreist an ein paar anstehenden Kunden vorbei und stellte sich an den Tresen.

»Hören Sie mal!«, rüffelte ihn daraufhin eine empörte Kundin mit einer dicken Perlenkette um den Hals an. »Warten Sie gefälligst hinten, Sie Grobian!« Die Dame fuchtelte mit ihrem lackschwarzen Handtäschchen vor Hatto herum, doch dieser beachtete sie gar nicht, sondern blickte sich suchend nach Urite und vor allem nach dem kleinen Ditto um.

»Herr Mashita«, ertönte Urites leicht genervte Stimme, als dieser mit ein paar Artikel aus seinem Lager, gefolgt von seinem höhnisch grinsenden Gengar in die Verkaufshalle zurückkehrte. »Haben Sie schon wieder ein Ditto zu reklamieren? Wenn nicht, dann warten Sie bitte wie jeder andere Kunde hinten in der Schlange.«

»Wo ist es?«, fragte Hatto knapp.

»Wo ist was?«, stellte Urite die verwunderte Gegenfrage.

»Das Ditto. Ich hoffe, Sie haben es bei dem Gewitter bei sich gehabt und nicht hier im Laden allein im Dunkeln gelassen«, wollte Hatto wissen und strengte sich sehr an, dabei möglichst gleichgültig zu klingen.

»Sieh an, da macht sich wohl doch jemand Sorgen um das kleine Vieh«, stellte Urite mit einem verschmitzten Grinsen fest.

»Wo denken Sie hin?«, versuchte Hatto sich herauszureden. »Ich kann mir lediglich vorstellen, dass es für Sie, nun, vielleicht unangenehm, ähm, schwierig werden könnte, wenn herauskäme, dass Sie dieses Pokémon schlecht behandeln und ich ... hm ... nun, ich mag mir nicht vorstellen, künftig nach Mamoria City in den Markt gehen zu müssen, wenn Sie hier schließen müssen.«

»Was reden Sie denn da?«, fragte Urite verblüfft. »Ist Ihnen das Gewitter nicht gut bekommen? Warum sollte ich meinen Laden schließen, wenn ich ein Ditto nachts hier allein ließe? Es hätte sich schließlich in eine Taschenlampe verwandeln und für sein eigenes Licht sorgen können, wenn es Angst im Dunkeln gehabt hätte. Außerdem gibt es hier genug Tränke und Beeren, von denen es sich ernähren könnte. Verhungert wäre es also auch nicht.«

Hatto nickte verlegen. »Schon gut, schon gut. Mir kam nur heute Morgen dieser Gedanke« Er spürte, wie ihm die Wangen rot anliefen. »Aber warum sprechen Sie von hätte und könnte? Ist es nicht hier gewesen?«, hakte Hatto nach und achtete dieses Mal nicht darauf, gleichgültig zu klingen.

»Nein. Wenn Sie es wissen wollen, das Ditto wurde gestern Abend von einem kleinen Jungen mitgenommen, dem bei einem Pokémon-Kampf sein einziges Pokémon dermaßen zugesetzt wurde, dass es die nächsten drei Tage im Pokémon-Center bleiben muss. Schade, denn es war ein mir völlig unbekanntes Flug-Pokémon. Ein Hoothoot oder so, und er -«

»Ist das so«, unterbrach Hatto Urites Bericht. »Wie sah der Junge aus? Ist er noch in Azuria City?«

»Soweit ich weiß ja«, antwortete Urite und zweifelte so langsam daran, den richtigen Herrn Mashita vor sich zu haben. »Er wollte heute eigentlich Misty herausfordern und den Quellorden gewinnen. Aber mit Hoothoot hatte er sein einziges Pokémon verloren und wollte nicht warten, bis es geheilt ist. So kam es ihm und auch mir ganz gelegen, als er Gefallen an dem herrenlosen Ditto fand. Ich denke, das Kleine ist nun in guten Händen, Herr Mashita. Es wird mich und vor allem Sie nicht mehr belästigen. Und nun würde ich gerne weiter meine Kunden bedienen. Einen schönen Tag noch.«

Urite wandte sich wieder der schnippischen Dame in der Kundenreihe zu, die Hatto einen letzten abwertenden und empörten Blick zuwarf, als der Alte niedergeschlagen den Markt verließ.

»Vielleicht ist es so am besten«, dachte er, als er aus dem Laden kam und den blauen Himmel sah, der nur von wenigen Wolken behangen war.

Es war jetzt nicht mehr so heiß wie noch vor ein paar Tagen und deutlich ruhiger auf den Straßen. Nur hier und da lümmelten noch einige Pokémon-Trainer auf den Wegen herum. Doch seltsamerweise störte es Hatto dieses Mal nicht. Im Gegenteil. Er gestand sich ein, wie er diese jungen Leute beneidete. Ein altes und längst vergessen geglaubtes Gefühl kam in ihm hoch, dasselbe Gefühl, dass er als kleiner Junge hatte, als er sich nichts sehnlicher wünschte, als einen Pokémon-Freund an seiner Seite zu haben.

»Ich bin zu alt für so was«, dachte er dann resignierend. »Soll der Kleine glücklich mit seinem Ditto werden. Dort geht es ihm besser als bei mir Stinkstiefel.«

Mit diesen Worten im Kopf entschied sich Hatto für einen kleinen Spaziergang. Es war lange her, dass er über die sogenannte Nugget-Brücke nördlich seiner Heimatstadt ging, und heute schien sie ihm besonders einladend zu sein. Er überquerte sie und rief sich noch mehr Erinnerungen aus seiner fröhlichen und unbeschwerten Kindheit ins Gedächtnis.

Auf der anderen Seite der Brücke angekommen lenkte der Lärm von zwei Jungen ihn von seinen Tagträumen ab. Im hohen Gras fing gerade ein Pokémon-Kampf an. Hatto entschloss sich, diesen zu beobachten. Einer der Jungen schien ihm jedoch irgendwie bekannt vorzukommen ...

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