[05] Der Alptraum
DER REGEN PRASSELTE unnachgiebig gegen die geschlossenen, aber teilweise locker in den Angeln hängenden Fensterläden. Immer wieder zuckten grelle Blitze und grollten heftige Donnerschläge durch die Luft. Hatto lag noch immer schlafend in seinem Sessel, das Kinn auf seine Brust aufliegend. Immer wieder zuckte er kurz zusammen, doch keiner der lauten Donnerschläge konnte ihn aufwecken. Jedoch, und das konnte man nur an seinen rastlosen Augen erkennen, die unter den geschlossenen Lidern hin und her wanderten, lag Hatto in schweren Träumen. Diese schienen ihn ebenso in Sorge zu versetzen, wie die anderen Menschen in Azuria City die entwurzelten Bäume in ihren Gärten und auf den Straßen sowie die allmählich volllaufenden Keller, die das Unwetter verursachten.
Hatto fand sich in einem engen und nahezu vollständig dunklen Raum wieder. Das einzige Licht, das er sah, drang durch einen Türspalt, warf einen trüben Strahl auf den Boden und erreichte etwas, das aussah wie ein Regal. Er konnte nicht erkennen, was auf dem Regal stand. Er vermutete allerdings, dass es etwas sehr Großes sein müsse, denn es erinnerte ihn an die Warenregale in Urites Einkaufsmarkt.
Wie aus dem Nichts wurde der kleine Raum auf einmal hell erleuchtet und kurz darauf ließ ein grausamer Donner die Regale und auch den erschrockenen Hatto erzittern. Er hörte den Regen gegen die großen Schaufenster trommeln und so einsam und allein, nicht wissend, wie er überhaupt an diesen Ort gekommen war, spürte Hatto einen Anflug von Angst in sich aufsteigen.
Doch er riss sich wie immer zusammen und begann, sich der Tür zu nähern, durch die der Lichtschein kam.
KAM.
Denn das Licht war verschwunden! Hatto hatte sich bei dem Blitz und Donner reflexartig umgedreht und in der nun vollständigen Dunkelheit die Orientierung verloren.
Es war jetzt komplett still, bis auf sein eigenes schweres Atmen, und er konnte nicht die Hand vor Augen sehen. Nun konnte er es nicht mehr leugnen – er war in Panik geraten. Hatto hatte das Gefühl zu fallen, doch bewegte sich in Wahrheit keinen Zentimeter vom Fleck. Unsicher begann er die Arme auszustrecken und nach etwas zu greifen, an das er sich festhalten konnte. Nach ein paar wackligen Schritten spürte er vor sich einen größeren Gegenstand, dem Anschein nach ein weiteres Regal. Er klammerte sich daran fest und schwor sich, von nun an keinen Schritt mehr zu tun, bis er gefunden werden würde.
In diesem Augenblick blitzte und donnerte es erneut so heftig, dass Hatto sich die Ohren zuhalten musste und so das Regal einen Augenblick losließ. Als er es wieder fassen wollte, schien es nicht mehr an seinem Fleck zu stehen. Er tastete und fühlte unbeholfen in der Luft herum und wusste nicht, ob er sich lächerlich oder einfach nur hilflos fühlen sollte. Er musste ein jämmerliches Bild abgegeben haben, doch zum Glück konnte ihn niemand sehen. Oder etwa doch?
Ein Geräusch ließ Hatto erneut zusammenschrecken. Doch dieses Mal war es nicht das Gewitter draußen, sondern kam von innerhalb des düsteren Raums.
»Hallo? Ist jemand hier?«, fragte Hatto ungewohnt zögerlich ins schwarze Nichts um sich herum. Nichts weiter passierte. »Nur eine Einbildung. Deine Nerven spielen dir einen Streich, Hatto«, versuchte sich der Alte selbst zu beruhigen. Doch in diesem Augenblick hörte er wieder etwas. Als ob sich eine Kiste bewegen würde, doch er konnte nicht das Geringste erkennen, so sehr er sich auch bemühte und die müden Augen zusammenkniff.
Hatto focht einen Kampf mit sich selbst aus: Sollte er lieber hier stehen bleiben und auf Rettung warten oder sollte er in die Richtung des Geräuschs gehen, um herauszufinden, wer ihm in dieser absoluten Dunkelheit Gesellschaft leistete?
»Sei kein Narr, Hatto!«, sprach er wieder zu sich selbst. »Wenn es hier ist und dir was Böses will, dann kommt es so oder so auf dich zu. Stell dich lieber gleich deinen Ängsten und gibt diesem Was-auch-immer erst gar keinen Grund, dich für eine leichte Beute zu halten.« Mit geballten Fäusten vorm Gesicht schritt Hatto vorsichtig durch die Finsternis und tastete bei jedem Schritt zunächst mit dem Fuß, ob ihm etwas im Weg stand, bevor er diesen endlich auf den Boden setzte.
Er hielt angespannt inne, als er erneut ein seltsames Geräusch hörte. Dieses Mal klang es wie ein wehmütiges Jammern. Wer auch immer sich noch in diesem Raum befand, schien ebenso unglücklich mit der Situation zu sein, wie Hatto.
»Hallo? Wer ist denn da? Bist du ein Kind? Bist du allein? Bitte antworte doch, ich tu dir nichts«, versprach Hatto mit heiserer Stimme und stellte sich im selben Moment die Frage, ob man ihm dies wirklich glauben würde. Ihm, dem stoffeligsten Stoffel, den die Welt je gesehen hatte. Er ertappte sich dabei, wie er anfing, über sich selbst und sein eigenes Verhalten zu kichern. »Mich würde vermutlich nicht einmal ein Ertrinkender in seine Nähe lassen«, murmelte er vor sich hin.
Dann gab es wieder ein Geräusch. Dieses Mal schien es sich auf ihn zuzubewegen und Hatto nahm instinktiv wieder seine Verteidigungspose ein. Wieder hörte er ein Wimmern. Es schien jemand zu weinen. War es doch ein kleines Kind, welches sich hierhin verirrt hatte? Gerade als er mit weit aufgerissenen Augen den dunklen Raum nach dem Verursacher der Geräusche absuchte, erhellte ein weiterer greller Blitz diesen für einen Bruchteil einer Sekunde in fast taghellem Licht und Hatto hatte ihn in diesem kurzen Moment sehen können, den Unbekannten. Oder besser gesagt, das Unbekannte. Denn mit ihm in dem finsteren Raum befand sich niemand Geringeres als das kleine Ditto, welches Hatto unfreiwillig aus dem Markt mit nach Hause genommen hatte.
»Ditto!«, rief es ihm hoffnungsvoll entgegen, als es ebenfalls erkannte, wer mit ihm in dieser unfreundlichen Gegend festsaß.
»Du schon wieder, du kleiner Störenfried«, sagte Hatto und blickte dabei ungefähr in die Richtung, in der das kleine Pokémon saß. »Das hätte ich mir ja fast denken können.« Jetzt vernahm Hatto ein weiteres, kontinuierliches Geräusch. Es klang, als ob etwas Schleimiges über dem Boden, genau in seine Richtung flutschte. Es dauerte eine Weile, bis das Geräusch nachließ und schon spürte Hatto, dass sich etwas Weiches, Zitterndes an seine Beine schmiegte.
Sein erster Impuls war es, das Ditto in gewohnt forscher Art von sich zu stoßen, aber er musste sich eingestehen, dass er in diesem Raum sehr dankbar für seine Gesellschaft war. Hatto beugte sich also zu dem kleinen Pokémon herunter und nahm es auf den Arm. Ditto zitterte wie Espenlaub und weinte ängstlich.
»Schon gut, Kleiner«, begann Hatto es etwas verhalten zu trösten und das Ditto schien langsam ruhiger zu werden. »Hat Urite dich einfach hier eingeschlossen und ganz allein gelassen? Das muss ja furchtbar für dich sein. Vor allem bei diesem grässlichen Wetter.«
Genau in diesem Augenblick erhellte erneut ein unangenehm gleißender Blitz den Raum, der nahezu gleichzeitig mit einem mächtigen Donnerschlag kam. Hatto erschrak fürchterlich und auch das Ditto bekam einen riesigen Schrecken, wodurch es von Hattos Armen fiel und kläglich nach ihm rief.
»Hey, Kleiner! Wo-wo bist du denn auf einmal hin? Ditto!«, rief Hatto dem Pokémon nach, doch es schien, als würde sich Dittos angsterfüllte Stimme immer weiter von ihm entfernen. Schlimmer noch – als würde es in einen tiefen Abgrund genau zu Hattos Füßen stürzen. Einen so tiefen Fall würde es nicht überleben, auch, wenn Dittos sehr elastisch und widerstandsfähig waren.
»Dittooooo!«, schrie Hatto an seinen Füßen herunter, doch die Stimme des Kleinen war nun kaum noch zu hören.
Ein heftiger Schmerz in der Brust ließ den Alten unsanft aus seinem Schlaf erwachen.
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