[04] Die Last der Vergangenheit
DER REST DES Tages verlief ohne weitere Störungen für Hatto. Gegen 17 Uhr klopfte sein Vermieter, Kouki Yachin an seiner Tür und verkündete stolz, dass die Wasserleitungen repariert sind und auch das Warmwasser wieder angeschaltet wurde. »Jetzt können Sie wieder eine schöne warme Dusche genießen, der Herr«, konnte sich Yachin einen kleinen Seitenhieb auf den nach wie vor grimmigen Hatto nicht verkneifen. »Aber wo haben Sie denn Ihr entzückendes Ditto gelassen?«, fragte er anschließend und blickte sich suchend in Hattos Wohnung um.
»Dort wo es hingehört. Danke.«
RUMMS
Die Tür flog Yachin vor der Nase zu, und so ging er kopfschüttelnd wieder die Treppen hinunter zu seiner Wohnung. Hatto holte währenddessen seine verpasste Dusche vom Morgen nach und genoss sowohl die Ruhe als auch das angenehm warme und reine Wasser. Im Anschluss bereitete er sein Abendbrot vor und hoffte, dass er auch dieses nun ungestört zu sich nehmen konnte. Sein Wunsch wurde ihm gewährt. Alles bleib still und friedlich, so wie Hatto es seit Jahrzehnten mochte. Für einen Bruchteil einer Sekunde ertappte sich Hatto jedoch dabei, wie er an das kleine Ditto dachte.
In diesem Moment fing der eben noch leicht bewölkte Himmel an, sich mit dunkelgrauen Gewitterwolken zuzuziehen, und ein greller Blitz erhellte die Wohnung des alten Mannes für einen Augenblick, so dass sein eigener Schatten kurz bedrohlich groß und verzerrt an der Wand ihm gegenüber zappelte.
»Wirke ich so auf andere?«, fragte sich Hatto daraufhin und war im selben Augenblick selbst über diese Frage erstaunt. »Umso besser. So lassen sie mich wenigstens in Frieden und gehen mir nicht auf die Nerven«, redete er sich sein eigenes grimmiges Auftreten schön.
Doch unweigerlich kam ihm just in diesem Augenblick erneut das Ditto in den Sinn.
»Das dumme Ding hatte keine Angst vor mir«, dachte er laut und verzog verbittert den Mund, der von einem silbrigen Dreitagebart umrandet war. »Dabei täte ihm gut daran. Naives kleines Geschöpf. Wie es da auf dem Tisch hockte und mich breit angrinste. Wer glaubt es eigentlich, wer ich bin?« Hatto hielt kurz inne und starrte ins Leere. »Wer bin ich? Wer eigentlich?«, murmelte er und zog die Stirn kraus.
Hatto wurde auf einmal flau vorm Magen. War sein Essen vielleicht verdorben? Hatte ihm Urite, der Spinner, doch verdorbene Sachen verkauft? Ein weiterer greller Blitz, gefolgt von einem markerschütternden Donnergrollen riss den Alten aus diesen Gedanken und er begann seinen Tisch abzuräumen.
»Ob er dieses Vieh bei dem Unwetter allein im Laden zurückgelassen hat?«, dachte er erneut an das kleine Ditto und schaute mit einer Mischung aus Faszination und Besorgnis aus dem Fenster, vor dem nun ein mächtiger Gewittersturm tobte und kräftig an den Fensterläden ruckelte. »Hatto, sei kein Narr!«, sprach er laut zu sich selbst. »Hör auf, an diese verfluchte Kreatur zu denken. Es wird seinen Grund haben, warum dieser Junge es nicht mehr bei sich haben wollte.«
Daraufhin ging er ins Wohnzimmer und kramte in seinem Bücherregal herum. Eigentlich war Hatto auf der Suche nach einem spannenden Krimi. Der hätte perfekt zu diesem grausigen Wetter gepasst. Stattdessen fiel ihm ein alter Bildband in die Hände, den er seit Schultagen nicht mehr beachtet hatte. Alle 136 Pokémon der Kanto-Region stand in großen Goldlettern darauf. Damals hatte man einige Pokémon, die in dieser Region lebten, noch nicht entdeckt oder ihre Existenz noch nicht zweifelsfrei bewiesen.
»Dieser schrullige Professor Eich aus Alabastia hat in den letzten Jahren sehr große Forschungen betrieben und unser Wissen über Pokémon nachhaltig geprägt. 151 von diesen Viechern sollen es wohl insgesamt sein«, nuschelte Hatto in sich hinein, als er ein Foto von Eichs Großvater im Einband entdeckte. Auch er hatte sich als Pokémon-Forscher verdient gemacht und an diesem Bildband mitgearbeitet. »Wie kann man nur sein ganzes Leben damit verschwenden, diese Biester zu erforschen? Schwachköpfe«, grummelte Hatto weiter, setzte sich aber dennoch zusammen mit dem Bildband in seinen quietschenden Sessel mit dem abgegriffenen Lehnenbezug.
Er blätterte durch die mittlerweile stark vergilbten, teilweise geknickten, eingerissenen oder losen Seiten des Buches und erinnerte sich an längst vergangene Tage, als er noch ein kleiner dummer Junge war und sich nichts sehnlicher wünschte, als ein eigenes Pokémon zu haben. Damals hatte er dieses Buch von seiner Großmutter geschenkt bekommen. Klein Hatto mochte eine Zeitlang besonders Feuer-Pokémon, wie Glumanda, welches sich später in Glutexo und schließlich in das faszinierende Glurak weiterentwickelte. Aber auch Fukano und Arkani standen auf seiner Wunschliste ganz oben.
Einmal mit einem Ponita oder Gallopa über die Ebenen Kantos reiten, schien für den kindlichen Hatto ebenfalls das größte Glück der Erde zu sein. Doch seine Eltern erlaubten es ihm nicht. Sie hielten nichts von diesen Geschöpfen. »Wie recht sie damit hatten. Nutzlose Biester«, knurrte Hatto und blätterte stumm weiter.
In seiner Schulklasse waren einige Kinder gewesen, die Pokémon hatten. Er erinnerte sich an einen Jungen, dessen Namen er vergessen hatte, der eines Tages weinend zum Unterricht erschien, weil er sich nicht entscheiden konnte, mit welchem Entwicklungsstein er sein Evoli entwickeln sollte. Eines der Mädchen bekam außerdem einen Wutanfall, weil ihr Pikachu, ihrer Meinung nach, nach seiner erfolgreichen Weiterentwicklung zu Raichu nicht mehr so niedlich war, wie vorher. Dann gab es die ganzen Raufbolde, die sich immer prügelten, im Streit darum, wer wohl das coolste Pokémon hatte. Das Enton eines Mitschülers brachte einmal den ganzen Unterricht durcheinander, als es einen seiner Psycho-Anfälle erlitt und das gesamte Gebäude evakuiert werden musste, um Schäden an Leib und Leben zu verhindern.
»Nicht nur nutzlos, sondern auch gefährlich, diese Monster«, lautete Hattos Fazit zu seiner Erinnerung.
Schließlich fiel ihm aber noch das Karpador ein, mit dem sie als Kinder im Sommer immer geplantscht hatten. Dieses mochte unser alter Knurrhahn tatsächlich sehr gern und beim Gedanken an diese unbeschwerte Zeit, bildete sich ein kleiner Anflug eines Lächelns auf seinem zornesfaltigen Gesicht. Aber dieses verging ihm so schnell wieder, wie es aufgetaucht war. Denn auch die Panik, die ausbrach, als sich das friedliche Karpador eines Tages in ein wütend fauchendes Garados entwickelte, war ihm noch lebhaft im Gedächtnis geblieben. Einige der Kinder waren danach nie wieder baden gegangen.
Später, während des Studiums, lernte Hatto seine Frau Rante Osora Shīdesu kennen. Sie wurde in ihrer Kindheit von einem Magmar angegriffen und trug dadurch zeitlebens schwere Narben zurück. Seit diesem Tag hasste sie alle Pokémon und diese Einstellung vertiefte sich fortan auch in Hattos Geist. Jeder ehemals gehegte Wunsch nach einem eigenen Pokémon war nun unwiederbringlich zerstört.
Oder doch nicht?
Auf einer der zehn Spezialseiten mit aufklappbaren Elementen wurden die Dittos vorgestellt. Ein Pop-Up-Ditto lächelte Hatto breit und auffordernd an. Es sah fast so aus, wie das kleine Nervenbündel aus Urites Laden, nur ging seine Färbung mehr ins rosafarbene, während sein Ditto hellviolett war. Auf einem kleinen Foto am Rand der Seite sah man das seltene blaue Shiny-Ditto. Im Gegensatz zu den meisten anderen bekannten Pokémon, konnte ein Ditto nur eine Attacke ausführen – den Wandler. Damit übernahm es sowohl die Gestalt, als auch alle Attacken seines gegnerischen Pokémon und konnte damit in einem Pokémon-Kampf eingesetzt werden.
»30 Zentimeter, na ja, da lag mein Kleiner ja noch ein ganzes Stück darunter«, lachte Hatto heiser, als er die körperliche Beschreibung zu den Dittos las. Er hatte sehr lange Zeit nicht mehr gelacht und, Moment, was hatte er da gerade gesagt?
»Mein Kleiner«, wiederholte der Alte seine eigenen Worte und klappte dann kopfschüttelnd das Buch zu. »Es ist schon spät. Ich mache mir noch einen Tee und dann gehe ich ins Bett. Das war eindeutig mehr Stress heute, als mit guttat.«
Hatto machte alle Fensterläden zu und bereitete einen Pfefferminztee vor. Doch diesen schaffte er nicht mehr zu trinken. Als er sich erneut auf seinen Sessel niederließ, schlief er schneller ein, als ihm lieb war und hatte einen sonderbaren Traum.
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