1. Treibgut

Soundtrack: P. T. Adamczyk - Sea Dogs aus dem Gwent: The Witcher Card Game Soundtrack. Im externen Link am Ende dieses Kapitels findet ihr außerdem eine Spotify-Playlist mit allen Soundtracks in diesem Buch, der Reihe nach, und zusätzlich noch ein paar Songs, die noch dazu passten.

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Irgendwo, hinter dem Horizont, lag die Heimat. Dazwischen endlose Meilen des silberschwarzen Ozeans, ein Spiegelbild des von Sternen gesprenkelten Nachthimmels. Das Meer sang ein Duett mit dem Wind in den Palmen, das Flackern der Flagge legte einen Misston darunter.

Jemand stieß Natsu an, und er unterdrückte ein erschrockenes Zucken. „Das ist für dich", knurrte Skeg und drückte ihm eine Schale in die Hand. Ohne eine Antwort abzuwarten, rutschte das Katzenblut die wackelige Leiter hinab und gesellte sich zu den anderen in den Hof. Ein Lagerfeuer erhellte die alten Steine der Dagonsbastion, warf tanzende Schatten über die Mauern, die die Gauterlemischen vor Jahren dort gebaut hatten, zu Abwehr ebenjener Piraten, die sie nun bewohnten.

„Danke", murmelte Natsu und ließ sich auf einer der Kanonen nieder. Das Essen roch trotz seiner Undefinierbarkeit schmackhaft, selbst, wenn er nicht wusste, was genau darin war. Er würde nicht nachfragen. In der kurzen Zeit, in der er hier lebte, hatte er gelernt, dass die nächste Mahlzeit längst nicht so üppig ausfallen konnte wie eine Schale von Skegs Eintopf.

Weit unten, am Fuße des Hügels mit dem klangvollen Namen Admiral Dagons Kopf, schimmerten die Lichter der Stadt, ein Meer aus Fackeln und Laternen. Die roten papiernen auf dem Hurenschiff am Anleger im Westen, jene, die die ungepflasterten Straßen erhellten, weitere wanderten an den Rändern der Felder im Norden umher. Der Schein der dünnen Mondsichel ließ die blutbeschmierten Mauern des Galgenforts schimmern, ein lauernder, alternder Drache aus dem gleichen hellgrauen Gestein wie die Dagonsbastion, das die Stadt nach Osten hin abschirmte und mit seinen mächtigen Kanonen die Piraten Hogarths vor ihren Feinden aus Nox, Gauterlem und Jade schützte.

Natsu mochte die Bastion. Weit mehr, als er die Stadt mochte. Unten in den Straßen regierten die Captains und ihre Mannschaften, ein blutiger Machtkampf, von dem er nichts verstand. Etwas war geschehen, vor nur wenigen Monaten, und seitdem brannten nicht nur die Fackeln. Schiffe. Häuser. Menschen. Doch hier oben, mit einem Ausblick in alle Himmelrichtungen, fühlte er sich sicher. Er wusste, dass niemand ihm persönlich nach dem Leben trachtete, doch der Hass der Banden würde ihn nicht verschonen, falls er in die Schusslinie geriet. Allein bei dem Gedanken, bei Tagesanbruch, nach dem Ende seiner Wachschicht, durch die raunenden Wälder hinabzugehen, durch die zwielichtigen Straßen, bis er in der Sicherheit der Taverne war, wurde ihm mulmig.

Er kratzte die letzten Reste aus der Schüssel, willens, sich keinen Bissen entgehen zu lassen, und stellte sie auf die Lafette der Kanone. Zurückgeben konnte er sie später.

Zwei Männer saßen im Schutz der Schatten beieinander und würfelten, Münzen klirrten. Einer von ihnen folgte Natsu mit einem herausfordernden Blick. Beim ersten Mal, als er auf der Bastion Wache gehalten hatte, hatte er ebenjene Männer dafür gescholten, dass sie spielten und nicht nach Feinden Ausschau hielten. Sie hatten ihn vom Wehrgang in den Hof geworfen, und er hatte das Glück gehabt, nur mit einem gebrochenen Arm davongekommen zu sein. Natsu hatte sie bei einem jener verraten, die sich Offiziere schimpften, doch sie hatten ihn ausgelacht. Das war der Moment gewesen, in dem er begriffen hatte, dass eine Wache auf der Bastion nicht mehr bedeutete, als fort zu sein aus der Stadt, fort von den Huren, allein mit Rum, Glücksspielen und gleichermaßen betrunkenen und übellaunigen Piraten, die zu alt, zu verletzt und zu schwach für die Schiffe waren.

Natsu setzte seinen Weg fort, den Wehrgang entlang, vorbei an den Kanonen und den daneben bereitliegenden Kugeln, durch den Südturm, auf dessen Spitze eine Flagge der Knochensammler flatterte, auf die Westseite der Bastion. Wo Hogarth ein Meer aus Lichtern gewesen war, gähnte hier der Abgrund, ein schwarzer Strand, gespickt von hellen Felsen und den Knochen gleichenden Überresten der dort angespülten Schiffe. Den Trümmerstrand nannte man ihn, dort, wo eine verhängnisvolle Strömung sich an der Landzunge von Admiral Dagons Kopf fing und bei Sturm glücklose Schiffe gegen die Steilwände schleuderte. An den Tagen danach wanderten Treibgutsammler über den Strand, suchten nach Geld und anderen Kleinodien, die man zu Geld machen konnte. Einmal hatte Natsu ebenfalls sein Glück versucht. Er hatte den Kopf einer Galionsfigur gefunden, das Goldblatt noch zu erkennen auf der Krone der hölzernen Frau, doch kaum hatte er den Saum des Waldes betreten, hatten ein paar Männer ihn ausgeraubt, verprügelt und halb tot im Dreck zurückgelassen.

Nun warfen die Wogen erneut Holz und Fetzen aus Segeltuch an Land, wo sie liegenblieben wie die Häute toter Wale, dunkel und eingefallen. Doch kein neues Wrack hatte sich zu der Armada halb verrotteter Schiffe gesellt. Wahrscheinlich eine Schlacht auf See, vermutete Natsu. Die meisten Schiffe hatten weiße Segel, doch diese schienen schwarz vom Wasser. Vielleicht Überreste eines Wyrdail-Schiffes, eines jener, die nach dem Tod ihrer Fürstin aufgebrochen waren, um anderswo nach Unterstützung zu suchen. Vielleicht hatte eine andere Bande es gestellt und auf den Grund des Meeres geschossen.

Natsu trat zu einem der anderen Wachmänner. „Dürfte ich mir dein Fernglas ausleihen?"

Mürrisch wandte der Halbork sich zu ihm um, die Hand bereits auf dem angelaufenen Messinggerät, als fürchte er, Natsu würde es ihm stehlen. „Nein", brummte er.

Natsu verzog das Gesicht. „Nur für einen Moment. Bitte."

Der Ork verdrehte die Augen, nahm das Fernrohr vom Gürtel und reichte es ihm, doch ließ nicht los. „Wenn du es stiehlst oder kaputt machst, werfe ich dich von der Mauer", drohte er.

Natsu nickte mit klopfendem Herzen und griff danach. Die vorderste Linse hatte einen Sprung, doch er konnte erkennen, wie die Wellen mehr und mehr Holz, in Tampen verhedderte Segeltücher, Fässer und Ballen anspülte.

Mit dem Treibgut würden auch die Leichen kommen. Die Sammler machten keinen Unterschied zwischen einer Kiste und einem Toten, beide waren nur Gegenstände, aus dessen Schätzen man Geld machen konnte, doch ihm wurde jedes Mal übel, wenn er eine Leiche sah, egal, wie oft er bereits welche gesehen hatte. Die der Banditen in Jade, die die Felder niedergebrannt hatten und dafür bezahlen mussten. Die seiner eigenen Eltern. Die unzähligen, grausam zugerichteten auf den Straßen von Hogarth, die aufgedunsenen auf dem Trümmerstrand.

Die erste lag bereits dort, zwischen einer gesplitterten Rah und den Felsen. Gleichmütig leckte das Wasser an den Stiefeln und ließ den Mantel für kurze Momente wogen wie Seegras.

Plötzlich hob er den Kopf, so unerwartet, dass Natsu zusammenzuckte. Zuerst meinte er, das Schimmern des Mondlichts auf den Wellen habe seine Sicht verschwimmen lassen, doch der Körper kroch Stück für Stück den Strand hinauf. Keine zwei Schritte von der Wasserlinie entfernt brach er regungslos zusammen.
Natsu wandte sich zu den anderen um. „Da unten am Trümmerstrand ist jemand!"

„Wieder einer von den Plünderern?", fragte Skeg gelangweilt.

„Nein, ein Überlebender." Natsu wich dem Ork aus, der ihm das Fernglas aus der Hand reißen wollte, und blickte erneut hindurch. Die Gestalt rührte sich nicht. „Er hat sich bewegt! Dort, neben dem Felsen!"

Grob schnappte der Ork ihm das Fernrohr weg. „Aye, da ist jemand. Aber der ist tot wie 'ne überfahrene Ratte."

„Nein. Er lebt noch. Wir müssen ihm helfen." Natsu kletterte hastig die Leiter hinunter.

„Das werden die Plünderer schon tun." Skeg stocherte mit seinem Säbel im Feuer. Funken stoben. „Noch ein paar Stunden, und die Sonne geht auf. Lange muss der Kerl schon nicht warten."

Natsu wusste, was die Plünderer mit Überlebenden taten. Die kurzen Messer, von denen sie behaupteten, sie würden sie dafür nutzen, um Kisten aufzubrechen und Ballen aufzuschneiden, durchtrennten mehr Kehlen als Seile. „Nein, ich werde ihn nicht diesen Mördern überlassen." Irgendwo kicherte jemand. Natsu sah sich nach dem Geräusch um, doch niemand wollte es von sich gegeben haben. „Kommt einer von euch mit mir?"

Die Männer wechselten Blicke. „Nein, Rotfell", sagte ein struppiger Taur höhnisch. „Du musst schon allein durch den Wald entlang der Klippe gehen, wo man die Toten, die an der Klippe zerschellen, schreien hört." Das Kichern erhob sich von Neuem.

Natsu schluckte. Jeder wusste, dass er sich fürchtete. Doch wenn er dem Überlebenden helfen wollte, musste er gehen. „Skeg, geh Sally holen. Schnell."

„Wirklich?" Das Katzenblut verdrehte die Augen. „Natsu, bitte. Lass uns einfach auf die Sonne warten. Dem Kerl kann niemand mehr helfen." Er erhob sich und drückte ihm eine Flasche Rum in die Hand. „Trink. Dann vergisst du deine Leiche."

Natsu biss die Zähne zusammen. Verfluchte Piraten. Kümmerten sich um niemanden außer sich selbst. Er reichte die Flasche einem Halbelfen und schritt zum Tor der Bastion. Der Querbalken war so schwer, dass er ihm beinahe entglitt. „Skeg!", rief er das Katzenblut erneut und stieß die Torflügel auf.

„Aye?"

Natsu nahm die Fackel, die neben dem Tor in ihrer Halterung steckte. „Wenn Sally nicht bald am Strand ist, sage ich ihr, dass du dich geweigert hast, sie zu einem Schiffbrüchigen zu rufen." Er hasste es, jemandem drohen zu müssen. Gerade Skeg, einer der wenigen, die ihn nicht wie Dreck behandelten. Doch er brauchte Sallys Hilfe. Sie kümmerte sich um all jene, die am Strand angeschwemmt wurden und den Untergang ihres Schiffes und die grausame See überlebt hatten. Selbst die Plünderer ließen ihr den Vortritt.

„Du bist ein Hurensohn, Natsu", fauchte Skeg und trat gegen das Dreibein über dem Feuer.

„Du hast mich gehört", sagte er und schritt hinaus in den Wald, bevor seine Angst ihn wieder zurück in den Schutz der Mauern treiben konnte.

Das Feuer der Fackel sträubte sich im Wind, weit mehr als zuvor in der Bastion. Zuweilen glaubte Natsu, er würde die Flamme mit sich reißen und ihn zurücklassen, in der rauschenden, singenden Dunkelheit des Waldes. Äste und Farne griffen nach seinen Schultern, Büsche tasteten nach seinem Hemd. Seine Finger umklammerten das Heft seines Säbels, so fest, dass er seinen rasenden Puls an seiner Handfläche spüren konnte. Dumpf peitschte die See gegen die Felsen und sang von all den Toten, die an den Klippen des Admiralskopfes gestorben war, eine Warnung vor seiner Grausamkeit. Natsu meinte, schleichende Schritte im Unterholz zu hören, Pfoten auf raschelnden Blättern. Eisig fuhr die Luft an sein schweißnasses Fell.

„Natsu!"

Er wirbelte herum, das Schwert zur Hälfte aus dem Gürtel gezogen.

Skeg kam schlitternd neben ihm zum Stehen. „Ich komme mit dir. Warren geht Sally holen."

Natsu lächelte ihm schüchtern zu. „Danke."

Skeg verzog das Gesicht und wies auf den Pfad vor ihnen. „Nach dir."

Natsu nickte, wappnete sich und trat voran. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Skeg die Führung übernommen hatte, allein deswegen, weil er selbst dem Katzenblut mit dem steifen Arm zutraute, ihm ein Messer in den Rücken zu rammen, doch er wusste, dass er unter Sallys Schutz stand. Es war der einzige Grund, warum er in Hogarth überleben konnte.

Ein wenig schämte er sich dafür. Er war kein Kind mehr. Niemand sollte auf ihn aufpassen müssen. Und doch war er, seit er von zuhause aufgebrochen war, öfter verprügelt, halb ertränkt und erniedrigt worden als alle anderen in dieser Stadt, so glaubte er. Es hatte erst ein Ende gehabt, als Sally ihn vor den Plünderern gerettet und er begonnen hatte, in ihrer Taverne zu arbeiten. Danach hatten sie ihn nur noch verachtet.

Der Sand des Trümmerstrandes knirschte unter seinen Pfoten und blieb in seinem Fell kleben. Treibholz, trockene Palmwedel und die Überreste der Geplünderten lagen verstreut in den hellen Körnern. Natsu stapfte zielstrebig auf den Schiffbrüchigen zu, Skeg folgte ihm fluchend.

Der Mann lag bäuchlings im feuchten Sand, einen Arm ausgestreckt, als hatte er sich noch weiter an Land ziehen sollen, bevor ihn die Kraft verlassen hatte. Geschwungene Hörner wuchsen aus seinem Schädel, umgeben von einem Gewirr aus dunklen Locken. Goldene Ringe glänzten im Schein der Fackel. Strähnen klebten an seinem Gesicht, scharfe Wangenknochen wölbten sich unter hellvioletter Haut mit leicht dunkleren Streifen. Schwarze Schmiere lag um seine Augen. Ein Tiefling.

„Irgendwo habe ich den Kerl schon mal gesehen." Skeg zog seinen Säbel und stieß dem Mann damit vorsichtig in die Seite. Er rührte sich nicht. Erneut stieß Skeg zu, ein wenig fester, doch der Mann blieb reglos. Zufrieden ging er in die Hocke. „Der ist tot. Das bedeutet, er braucht die nicht mehr", befand er und streckte die Hand nach dem Gold an den Hörnern aus.

„Skeg!", rief Natsu warnend und stieß das Katzenblut beiseite.

Er verlor das Gleichgewicht, versuchte, sich mit seinem steifen Arm abzustützen, und fiel in den Sand. „Was?", fauchte Skeg und stemmte sich wieder auf die Beine. „Er ist tot, verdammt! Er wird weder das Gold brauchen, noch seinen Mantel, noch seine Stiefel. Ich habe Schulden bei Bryston. Die wären allein mit dem, was er an seinen verflucht nochmal toten Griffeln trägt, beglichen!"

„Bist du nur mitgekommen, um ihn auszurauben?", wollte Natsu entgeistert wissen und hockte sich ebenfalls neben den Tiefling. Mit zwei Fingern fühlte er nach dem Puls. Leicht wie das Herz eines Vogels flatterte er unter seinem Druck.

Skeg verzog das Gesicht und sah zur Seite. Sein Griff um den Säbel verkrampfte sich. Aus dem Augenwinkel maß er Natsu mit Blicken, und er ahnte, dass nur seine Angst vor Sally ihn davor abhielt, ihn anzugreifen. Siegen würde er. Er hatte oft genug mit Natsu gekämpft, unter dem Vorwand, ihm das Kämpfen beizubringen. Doch wahrscheinlich hatte er es mehr genossen, ihm eine Abreibung zu verpassen.

„Er lebt noch", sagte Natsu eindringlich und erhob sich. „Seine Sachen gehören ihm. Er wird sie noch brauchen. Wenn du plündern willst, musst du dir eine Leiche suchen."

Skeg lächelte berechnend. „Ein Lebender ist auch nur einen Schnitt von einem Toten entfernt." Er wies mit dem Säbel auf den Bewusstlosen. „Wir können uns teilen, was an ihm dran ist. So gut bezahlt Sally dich nicht."

„Nein", sagte Natsu entschieden. Tatsächlich bezahlte Sally ihm kaum etwas, und auch die Wachschichten in der Bastion brachten ihm kaum mehr als zehn Aurai pro Nacht ein, doch er würde niemals jemanden für seine Besitztümer töten. Er konnte es nicht, und das war einer der Gründe, warum die Piraten ihn verachteten.

Skeg blickte ihm in die Augen. Natsu senkte den Blick keine drei Sekunden später. Das Katzenblut war lange nicht so furchterregend wie viele andere, die in Hogarth lebten, und doch reichte Natsu der Anblick seiner blutunterlaufenen, stets riesigen linken Pupille, der roten Schmiere, die in sein Fell lief, und die Herablassung in seinem gesunden rechten Auge, um ihm Angst einzujagen.

„Du wirst ihn nicht anrühren", knurrte Natsu dennoch, ohne ihn anzusehen. „Sally..."

„Sie wird nur denken, dass er bereits tot war", raunte er. „Viele werden mit durchgeschnittener Kehle über Bord geworfen."

Natsu zog seinen Säbel. „Verschwinde, Skeg."

Das Katzenblut musterte ihn voller Spott. „Sonst was? Willst du mir wieder mit deinem Kindermädchen drohen?"

„Wenn es hilft, ja. Niemand weiß, was mit denen passiert ist, die ihr in die Quere kamen, und du willst es sicherlich auch nicht herausfinden."

Skeg verlagerte das Gewicht, wog den Säbel in der Hand. Schließlich spuckte er aus. „Du bist ein feiger kleiner Pisser", schnarrte er, wandte sich um und stolperte durch den Sand zurück zum Wald. Das Unterholz verschlang ihn.

Natsu sah ihm nach. Er wusste, Skeg würde es gegen ihn nutzen, ein weiterer Punkt auf einer langen Liste, weswegen sie ihn geringschätzten. Dennoch vermisste er seine Anwesenheit beinahe. Mit ihm war er nicht allein gewesen, allein mit der abweisenden See, ihrem drohendem Gesang gegen die Felsen und dem Wispern des Windes in den Bäumen. Allein mit dem Fremden, der ihm trotz seiner Regungslosigkeit nervös machte. Er hatte Waffen bei sich. Der juwelenbesetzte Griff eines Rapiers lugte unter seinem Mantel hervor, und er ahnte, dass der Tiefling damit auch umgehen konnte. Still hoffte er, Sally würde sich nicht allzu viel Zeit lassen.

Sie erfüllte ihm seinen Wunsch. Auf dem blanken Pferderücken preschte sie über den Strand, Sand wirbelte um die Hufe ihres Schimmels. Wenige Schritte von ihm entfernt sprang sie ab und trat zu Natsu. „Ich habe Skeg getroffen. Er nannte dich feige." Sie klang nicht im Geringsten tadelnd. Eher milde verwundert, als wäre es gar seltsam, dass jemand Natsu einen Feigling nannte. Dabei tat es jeder.

Natsu erhob sich nervös und wischte sich die Hände an den Hosen ab. Sand rieselte zu Boden. „Weil ich ihn nicht ausrauben wollte." Er wies auf den reglosen Tiefling. „Er ist erst gegangen, als ich ihm gedroht habe."

Sie wusste genau, mit was er Skeg gedroht hatte. Ein Lächeln huschte über Sallys Züge und verzog die kleinen Linien aus Runen auf ihrer linken Wange. Die Tätowierungen waren Flecken aus Schwärze auf ihrer im Mondlicht bläulich wirkenden Haut, die Striche, Punkte und Symbole, die ihren Hals, ihre Schultern und Arme bedeckten. Stilisierte Augen aus Tinte prangten auf ihrer Stirn, auf ihren Fingerknöcheln, auf ihrer Kehle, überall verborgen in den anderen Mustern an ihrem Körper. Ein weiteres lag unter dem nun schwarz wirkenden, im Licht dunkelgrünen rechten, echten Auge, ein zweites unterhalb dessen, wo dereinst wohl ihr linkes einmal gewesen war, und ein letztes auf dem zugenähten Lid. Die Naht darunter erinnerte Natsu an eine umgekehrte Augenbraue. Anfangs hatte er die Augen gefürchtet, als könnte sie mit ihnen all seine Verbrechen sehen, selbst, wenn es nicht viele waren, doch nun waren sie genauso ein Teil von Sally wie ihre ausgeblichene Kleidung, ihre verfilzten Haarsträhnen, die sie mit einem blauen Tuch zurück band, die Ketten mit Muscheln und anderem Treibgut, die sich um ihre Gelenke und ihren Hals wanden, und ihre ruhige, rätselhafte Art.

„Fang das Pferd ein, Natsu." Sally ging neben dem Tiefling in die Knie, ihre Röcke verfingen sich im Sand.

Natsu tat wie geheißen und kehrte mit dem Schimmel am Zügel zu Sally zurück. „Wir müssen ihn in die Taverne bringen."

„Aye, das müssen wir", murmelte Sally gedehnt und nahm langsam die Hand vom Hals des Tieflings. „Er ist schwach. Wer weiß, wie lange er vom Ort seines Unglücks bis hierher brauchte." Sie sah zu Natsu auf, ihr Auge wirkte dunkler als zuvor. „Gehst du vor und bereitest ihm ein Bett vor?"

Natsu hatte Sally nie gefürchtet, doch nun machte etwas in ihrem Tonfall ihm Angst. Ein Hunger lag darin, eine Begierde, die er bisher nur von den Männern beim Hurenschiff gehört hatte, doch dunkler, als wäre das, was sie mit dem Tiefling vorhatte, bei weitem nicht so zahm war wie das, was die Huren mit den Freiern taten. Allein bei dem Gedanken brannte es unter Natsus Fell. Etwas in ihm wisperte, er sollte gehen, auf den Rücken des Pferdes steigen und in die Stadt reiten. Heftig schüttelte er es ab. Er hatte den Tiefling vor Skeg beschützt. Nun würde er ihn auch vor allen anderen beschützen. Natsu nahm all seinen Mut zusammen, und hoffte, seine Stimme würde nicht nach all seinem kümmerlichen Mut klingen. „Nein."

„Nein?" Sally hob eine Augenbraue.

„Die letzten beiden, die angeschwemmt wurden, sind noch auf dem Weg in die Stadt gestorben. Vielleicht passt du nicht gut genug auf sie auf, und du brauchst meine Hilfe, damit er", er zupfte an den Zügeln, „nicht schon wieder einen Sprung zur Seite macht und den Bewusstlosen auf seinem Rücken abwirft, oder damit er", Natsu nickte zu dem Schiffbrüchigen, „nicht doch an seinen inneren Verletzungen stirbt."

Sally warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, beinahe stolz, und Natsu spürte seine Angst schwinden. Sally sah ihn nicht oft so an, und es war jedes Mal ein Segen für seine von der Verachtung der anderen geplagten Seele. „Du bist aufmerksam, Natsu", sagte sie klingend. „Bring das Pferd dazu, sich hinzulegen."

Sie hatten den Tiefling keinen Schritt weit gezogen, als er plötzlich die Augen aufriss. Bernsteinfarben schimmerten sie im Mondlicht, die Pupillen geweitet. „Ranshaw", keuchte er. „Ranshaw, du elender..." Ziellos irrte sein Blick umher.

Natsu legte seine Hand auf seine Schulter. „Wir bringen Euch in Sicherheit", versprach er sanft.

Der Tiefling blickte ihm in die Augen, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. „Sei gegrüßt, Schöner", flüsterte er heiser, in einem Tonfall, der Natsus Fell sträuben ließ. „Ich bin..." Er verdrehte die Augen und erschlaffte.

Natsu warf Sally einen fragenden Blick zu. Sie zuckte mit den Schultern. „Bringen wir ihn nach hause."

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