XXXVIII. Was wir verschlingen

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Das Glockengeläut des Uhrenturms hallte in den Gedärmen des Kerkers laut genug wieder, um den Boden unter ihren Füßen zum Zittern zu bringen. Aber es war nicht das Schlagen der vollen Stunde, nein. Es war das Schrillen des Alarms.

Kunwar schleppte ihn die schwarzen Treppenstufen hinauf und bei jedem Tritt auf den glitschigen Stein drohten seine Füße unter ihm nachzugeben. Noch immer schwirrte sein Kopf.
Ich träume. Aber das Schellen des Alarms und das Gewicht der Maske des gekrönten Dämons auf seinem Gesicht waren real.
Genauso wie der ausblutende Mann, den sie vor seiner Zelle vorgefunden hatten.

„Wir haben es fast geschafft", keuchte Kunwar zwischen zusammengebissenen Zähnen. Ihre großen dunklen Augen fixierten einen Lichtkegel, wo die Tür aus diesem elenden Loch sein musste. „Wenn wir endlich hier raus sind und uns unter die Feiernden mischen, dann sind wir sich-"

Ihre Worte mussten ein fürchterlicher Fluch gewesen sein.
„Halt! Keine Bewegung!"
Soldaten schoben sich vor das Licht der Tür und fünf Gewehre richteten sich auf sie. Sie blockierten den Weg zwischen der Treppe und dem rettenden Ausgang.
Shruti und Valentin erstarrten auf den Stufen.

Er sah noch, wie Kunwars Finger zu der Waffe zuckten, die sie sich über die Schulter geschlungen hatte, um Valentin zu stützen, aber einer der Männer knurrte:
„Denk nicht mal daran, Verräterin."

Die Maharani biss sich auf die Unterlippe. Hinter ihren langen Wimpern lieferten sich Stolz und Vernunft eine fürchterliche Schlacht. Eine, die der Stolz verlor, denn langsam hob sie ihre Hände in die Luft.

„Du da", blaffte einer der Soldaten und nickte zu Valentin. „Nimm ihr die Waffe ab und schieb sie zu uns rüber - ganz langsam!"

„Nein." Es war nur ein leises Wort, doch der Soldat zuckte bei dem Klang Valentins Stimme zusammen.
Valentin hatte vergessen, wie es sich anfühlte zu leben - und jetzt, wo er sich panisch in der Freiheit verkrallt hatte, würde er sie nie wieder loslassen.

Valentin machte einen Schritt nach vorne und die Gewehrläufe richtete sich auf ihn. Noch ein Schritt.

„Halt! Sofort!", schrie einer. „Wir werden schießen!"

Er konnte die Gedanken der Soldaten sehen. Ihre Köpfe lagen vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch. In ihnen sah er sich selbst.
Einen Dämon mit Augen wie Sternenlicht.

Der Schuss krachte aus der Mündung, doch er fand nie sein Ziel. Stattdessen blieb das Projektil völlig regungslos mitten in der Luft schweben.
Unbeeindruckt hob Valentin die Brauen hinter seiner Maske und schnippte mit den Fingern.
Als wären sie Puppen, deren Fäden man zerschnitten hatte, fielen die Soldaten knochenlos zu Boden.
Ihre Gesichter waren zu schmerzerfüllten Fratzen verzogen, als Valentins Magie sie in ihren schlimmsten Ängsten gefangen hielt.
Es ist schön, den Gefallen zu erwidern, dachte Valentin und Bloche schwebte ihm vor Augen.

Doch kaum verließ das Prickeln der Magie seine Adern, klappte er keuchend zusammen.
Kunwar packte ihn am Arm.
„Wir müssen sofort von hier verschwinden!" Sie blickte auf den Soldaten und das abgefeuerte Gewehr. „Wo die herkommen, können noch viel mehr von dieser Sorte sein."
Valentin nickte. Ihm war ganz schummrig geworden.

Trunken vor Erleichterung stolperten die zwei über die Schwelle und hasteten über die verlassenen Marmorböden des Präsidentenpalastes. Durch die gewaltigen Rundbogenfenster drang das Gelächter der Feiernden und als Valentin durch das Glas den funkelnden Sternenhimmel sah, wäre er am liebsten in Tränen ausgebrochen. Stattdessen eilten sie weiter, als die Türen zum Verließ hinter ihnen zufielen.

„Haben wir eigentlich einen Plan, was nach 'Gemetzel und Flucht' kommt?", stieß er etwas atemlos hervor, als sie in den nächsten Korridor einbogen.

Shruti knirschte mit den Zähnen. „Daran arbeite ich noch."

„Ah", machte Valentin nur. „Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber Sie teilen sich die Weitsicht mit meinem Kaiser."

„Entschuldigung? Ich steck' Sie gleich zurück in Ihre Zelle, wenn Sie mich weiter mit diesem modischen Totalausfall vergleichen!" Kunwar schaffte es noch im Lauf, ihm einen Ellenbogen in die Seite zu stoßen. „Außerdem habe ich nicht versehentlich einen Krieg angezettelt! Das habt ihr alle ganz alleine hinbekommen."

„Touché."
Dabei wusste Valentin nicht mal so genau, ob da sehr viel „vershentlich" in den Kriegsbestrebrebungen gesteckt hatte.

Shrutis Gedanken hatten sich aber bereits auf einen neuen Punkt konzentriert. „Fast geschafft. Durch diese Tür und wir können durch die Parkanlage fliehen."

„Und die Wachen? Was ist mit ihnen?" Valentin dachte an das Scheitern ihrer letzten spektakulären Flucht. Hiernach gäbe es keinen neuen Versuch mehr. An Shrutis Lippen aber zupfte nur ein Lächeln, als sie sagte: „Warten Sie nur ab."

Sie stieß die Tür in der Wand auf und durch den Dienstboteneingang schlüpften sie in eine schillernde Welt aus Glas und Gelächter.
Valentins Augen wurde groß. Die gesamte bruktische Ballsaison verkam hier zu einem Provinzfest.
Sie befanden sich in einem Saal, dessen Wände völlig in Glas gegossen waren. Das Licht dutzender Lüster aus Tagen der Könige verfing sich in den Fensterfronten, sowie den zahllosen Perlenketten, Weinkelchen und Orden der Besucher. Es mussten mehrere hundert sein. Sie lachten, schwatzten, aßen vom Buffet oder wirbelten auf der Tanzfläche herum, während sie in luftige Gewänder oder Militäruniformen gekleidet waren. Und sie alle trugen Masken. Der gekrönte Dämon. Die weinende Melusine. Die Königin mit den wahnsinnigen Augen.
Valentin und Shruti waren nur zwei unbedeutende Punkte in der Masse.

Valentin packte Shruti am Ärmel ihrer Uniform, um sie nicht zu verlieren, während sie sich durch die Masse schoben. Ein Diener, der gekleidet war in Krone und Pelzmantel eines Königs - immerhin liebten die Mitreaner den ironischen Rollentausch an ihrem Revolutionstag - stoppte und bot Valentin Häppchen auf einem Silbertablett an.
Er hätte ablehnen sollen, aber nach Tagen des Hungers griff er nach der Speise und biss in das Weißbrot mit Käse und Trauben. Er meinte, noch nie etwas köstlicheres gegessen zu haben.
Die blanchierten Schimmerschnecken daneben ignorierte er.

Sie hatten fast die Glastür erreicht, hinter der sich der Innenhof und die Ausläufe der Gartenanlage erstreckten, als sich eine Hand auf Valentins Schulter legte.
„Ah, Herr Botschafter, endlich kann ich Sie sprechen!"
Sein Blut gefror zu Eis bei dem Klang dieser Stimme. Wie betäubt wandte sich Valentin um und starrte in Arondax Gesicht. Oder eher auf seine grünen Augen, die hinter dem Gesicht der weinenden Melusine aufleuchteten.

Automatisch zog Valentin den schwarzen Umhang des Kostüms enger um ihn, bevor jemand die Blutflecken an den Ärmeln sah.

"Herr Präsident", krächzte Valentin und musste feststellen, dass Tage ohne Wasser und Gebrauch seine Stimme fast unkenntlich gemacht hatten. "Was eine Ehre."
Seine Handflächen waren feucht mit Angstschweiß.

„Oh", machte der Präsident. „Geht es Ihnen nicht gut?"

„Die Lunge", klagte Valentin. „Sie wissen, die Stadt ist nicht gut für mich. Wahrscheinlich muss ich mich an die Küste zur Kur begeben."

Shruti hatte ihr Gesicht abgewandt und starrte beflissentlich auf einen Brunnen, aus dem Schaumwein quoll.

"Jaja, das Leiden unserer Zeit", erwiderte Arondax grimmig, nur um eine ausladende Geste durch den Raum zu machen.
"Aber ist das nicht wundervoll? All diese Leute feiern hier zusammen, trotz all dem Grauen. Man hat sogar die Menschen aus den Elendsvierteln eingeladen."
Zufrieden fuhr er sich über sein Menjou-Bärtchen.

"Sehr beeindruckend", floskelte Valentin vor sich hin und wollte sich schon davonstehlen, aber der Präsident hatte ganz andere Absichten.

Leicht beugte er sich zu Valentin vor und ergänzte mit gesenkter Stimme:
"Haben Sie noch einmal über das Freihandelsabkommen nachgedacht? Was sagt Ihr Regierungschef dazu? Ich brauche langsam Antwort. Dringend."

"Ah, ja, das Freihandelsabkommen", stotterte Valentin und schluckte schwer. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Alles, was ihm von dem Tod trennte, war der halbe Meter, der Arondax davon abhielt, ihm einfach die Maske vom Gesicht zu reißen.
"Also..."
Was tat er bei Kabinettsitzungen, wenn er nach der dritten Predigt des Kaisers über den Grund, warum sie die Sozialausgaben zugunsten einer unnötig großen Flotte kürzen sollten, aufgehört hatte zuzuhören?
Der Magier holte tief Luft. Ein Gedankenfetzen von Arondax flatterte in seinen Kopf.
Rosveldischer Stahl.
"Also im Anbetracht der momentanen geopolitischen Lage und Synergiepotenzialen der mitreanischen Wirtschaft, sind wir positiv gestimmt, dass ein Abkommen über kriegswichtige Stahlgüter der angesprochenen Art durchaus - unter Beibehaltung bereits vereinbarten Kriterien- in Betracht gerät..."

"Pardon, was soll das denn jetzt bedeuten?"

Valentin täuschte einen Hustenanfall vor und schlug sich auf die Brust.
„Herr Präsident, es tut mir schrecklich Leid, aber ich muss dringend an die frische Luft und-"

"Ah, Herr Präsident!" Das tiefe Timbre einer Männerstimme vibrierte in der Luft. Ein rosveldischer Akzent lag in den Worten. "Schön, Sie zu sehen!"
Mit zugeschnürter Kehle konnte Valentin bei dem herannahenden Mann erkennen, dass er das selbe Kostüm wie er trug und eine ähnliche Statur besaß.

"Herr Botschafter!" Irritiert blinzelte Arondax und deutete erst auf den Fremden, dann auf Valentin. "Was bei Mitrienne geht hier bitte vor?"

Valentin hatte aber schon auf dem Absatz kehrt gemacht, Shruti an den Handgelenken gepackt und gezischt:"Renn!"
Und in diesem entwürdigenden Zudtand nahmen sie ihre Beine in die Hand und preschten durch die Tür in die kalte Nacht.

Kies knirschte unter ihren Füßen und Valentin konnte im Hof die geisterhaften Schemen des Uhrturms erkennen.
Das Geschrei hinter ihnen war kaum zu vernehmen. Da war nur das sperrangelweit geöffnete Eisengitter und die Straßen der Stadt mit ihren dutzenden Kanälen, Gassen und Häusern dahinter. Freiheit.

Sie hatten gerade die Hälfte der Schrecke zurückgelegt, als Shruti einen alarmieren Schrei ausstieß.
"Saphir!"

Das Prickeln von Magie auf seiner Zunge war die einzige Warnung, bevor sich aus dem Kanal eine gewaltige Masse Wasser aufbäumte wie ein erwachender Gigant. Brüllend stürzte sie sich auf Valentin.
Die Flut riss ihn von den Füßen.

Sein Rücken schmetterte gegen die Fenster. Glas barst unter ihm und er segelte durch die Luft.
Bevor Valentin jedoch auf den Boden schlagen konnte, strömte Magie durch seine Fingerspitzen. Für einen Moment hielten ihn unsichtbare Hände in der Schwebe, schon trafen seine Füße auf den Boden und kamen in einem kontrollierten Schlittern zum Stehen.

Klappernd fiel seine Maske auf den Marmorboden und Rufe des Entsetzens gellten durch die Luft.
Valentin wusste, dass er auf die dutzenden Menschen um ihn herum achten sollte, die panisch zurückstolperten. Oder auf die Soldaten, deren Waffen sich auf ihn richteten, aber alles, was er sah, war die in weißes Musselin gekleidete Frau, die wie ein Rachegeist aus den Trümmern des Fensters emporstieg.

„Lamisque." Es war eine bittere Feststellung.

Die mitreanische Magierin streckte wortlos ihre Finger in die Höhe und eine Eislanze aus Luftfeuchtigkeit gefror in ihrer Hand.
Sie war direkt auf Valentins Herz gerichtet.
Valentins Hände und Lamisques Lanze schossen gleichzeitig nach vorne.

Glasscherben zischten durch die Luft und gruben sich in Lamisques Fleisch. Sie stieß einen Schrei aus, ihre Konzentration brach und noch in der Luft zerfloss das Eis zu Wasser. Nutzlos klatschte es zu Boden.

„Madame!"
Ein Mann - nein, ein Junge- drückte sich aus der zurückgewichenen Menge hervor. Sein zimtfarbenes Gesicht stand im Kontrast zu seinen weißen Haaren, aber Valentin sah auf die Schatten, die regelrecht an seinen Sohlen leckten. Ein Lichtmagier mit Schattenaffinität also.
Lamisque aber hob nur eine Hand.
„Bleib zurück, Augustin." Ihre Stimme war bitter und die schwarzen Locken fielen ihr wild in die Stirn. „Das ist eine Sache zwischen mir und Saphir."

Eine gespenstische Stille legte sich über den Saal. Kein Soldat griff ein, als würden sie hier einer heiligen Prozession beiwohnen.

Saint-Mitre hatte schon lange kein Duell zwischen Zauberern gesehen.
Für die Magier der alten Tage mussten sie kaum mehr sein als Kinder. Aber diese waren schon lange begraben. Für die Menschen um sie herum waren sie zwei Naturgewalten, die aufeinandertrafen.

„Wir alle haben unsere Pflicht, nicht wahr?", sprach Lamisque. „Das muss nicht so enden, Saphir. Füg dich dem Schicksal und dem Willen Mächtigerer. Ergib dich."

„Ich bin keine politische Spielfigur. Weder für den Kaiser, noch sonst jemanden." Er öffnete seinen Kostümmantel, damit er neben ihm zu Boden glitt. Er sah Shruti in die Augen, nicht Lamisque. „Ich habe vergessen, dass es meine Aufgabe ist, für die Freiheit anderer zu kämpfen. Nicht für einen Herren, sondern gegen einen. Aber ich vergesse nicht mehr."

In der Luft schwang ein Gedanke, den Lamisque direkt an ihn richtete. Hier im Aether der Magie, wo nur er ihn hören konnte.
Das ist unser Schicksal, Saphir. Wir sind Spielfiguren Mächtigerer, oder wir sterben.

Shruti meinte, die Welt müsse zerbrechen.

Sie hatte schon oft Magie gesehen. Immerhin hatte sie vor dem Krieg mehrere Wochen mit Zilli in einer Suite gelebt. Eine Handgeste, die eine Kerze entzündete. Ein Gedanke und der Kamin loderte. Bei der Sonnenmutter, in ihrem letzten Brief, der es irgendwie durch die Zensur und über die Grenze geschafft hatte, hatte sie beschrieben, wie sie sich mit einem mitreanischen Magier duelliert hatte.
Nur hatte dieser Kampf mit einem Querschläger geendet, der dem Mitreaner den Kopf vom Rumpf gerissen hatte.
Aber es war definitiv nicht so ein Weltenbrand gewesen.

Bolzen aus Eis schnellten durch die Luft und vergruben sich metertief in Stein und Holz.
Saphir aber war schneller. Noch ehe ihn ein tödliches Geschütz durchbohren konnte, verschwand er in einem blassen Schimmer und materialisierte sich woanders.
Er sieht, was Lamisque tut, noch während sie darüber nachdenkt.
Aber selbst Shruti konnte sehen, dass er langsamer wurde.

Mit einer hastigen Geste Saphirs segelte ein ganzer Banketttisch durch den Saal. Im letzten Moment zog Lamisque eine Eiswand hoch, die das Geschoss von seinem Kurs ablenkte.
Das Holz zerschmetterte in eine Explosion aus Splittern.
Shruti rollte sich über ihre Schulter ab und Schrapnell versank tief in dem Brunnen hinter ihr, wo gerade eben noch ihr Kopf gewesen war.

Aus dem Augenwinkel erblickte sie, wie Lamisque Saphir in einen Regen hunderter Eisscherben badete. Zischend verdampften die meisten an einer Kuppel lavendelfarbener Energie, aber sie sah ebenso das rubinrote Funkeln von Blut.

Shruti schluckte.
Saphirs Gesicht und Hände waren übersät mit Kratzern. Er war abgemagert, bleich und die Augen waren tief umrändert.
Ein gebrochener Mann stand einer Furie am Zenit ihrer Macht gegenüber. Das hier war kein Duell, es war eine öffentliche Hinrichtung.

Ihre Hände krallten sich um ihr Gewehr und sie blickte hoch zum Uhrturm. Es wäre die perfekte Schützenposition.
Dass sonst niemand eingriff, hieß nicht, dass sie Saphir hier unten alleine verrecken lassen würde.

Als die Soldatin vor dem Turm Shruti sah, war es schon zu spät. Sie war bereits zu nah, dass das lange Gewehr ein Nutzen hätte sein können und die Dutvari schickte die Frau mit einem gezielten Schlag zu Boden.
Der Körper hatte das Pflaster noch nicht berührt, da war sie schon durch die Tür und schnellte die Treppe hoch.

Sie sprintete die Stufen hinauf, immer zwei auf einmal nehmend.
Zehn.
Zwölf.
Vierzehn.
Saphirs Schrei gellte durch die Luft, als Lamisque ein Wasserrohr platzen ließ und ihren Kontrahenten in eine Wolke glühend heißen Dampf hüllte.
Zweiundzwanzig.
Sechsundzwanzig.
Achtundzwanzig.

Nach Luft schnappend erreichte sie die Spitze des Turms.
Ihr Herz raste, doch mit überraschend ruhigen Gliedern trat sie das Fenster vor sich ein, positionierte den Lauf ihres Gewehrs und ließ sich tief atmend zum Schießen herab.

Von hier oben war es so, als würde sie auf eine bewegte Karte herabsehen. Ein Spielfeld, das weit entfernt war von ihrer Realität.
Aber das war es nicht.

Ein Soldat hatte sich aus der konsternierten Masse gelöst und seinen gekrümmten Säbel gezogen.
Er glitzerte im Lüsterlicht, als er ihn Saphir in den Rücken rammen wollte, aber Shruti jagte ihm einen Schuss in die Schulter, einen anderen ins Schienbein.
Jaulend sackte der Mann zusammen, während die dritte Patrone nutzlos in irgendeiner Säule landete.

Mit ruhiger Hand richtete sie den Lauf ihres Gewehrs auf Lamisques von Stoff umflatterte Gestalt.
Von hier oben konnte sie nur ihren Rücken sehen, aber trotzdem spürte sie ein Zucken im Magen, als die Magierin die Arme in die Höhe riss.

Spitzen aus Eis brachen aus dem Boden, direkt auf Saphir zu. Sie waren rasiermesserscharf, schnell und-

Shruti drückte ab.

Die Kugel zerteilte die Schulter der Magierin und sie heulte auf.
Mit blitzenden Augen wirbelte Lamisque herum, eine Hand auf ihren rechten Oberarm gepresst, dessen heller Stoff sich rot verfärbte.

Sie konnte Shruti nicht sehen. Unmöglich über die Distanz. Aber Lamisques Augen schienen sie dennoch zu durchbohren.

Shruti hörte das Dröhnen, das die Wehklagen der Magierin erstickte.
Wassermassen aus dem Kanal schraubte sich in die Höhe, höher und immer höher, wie die wütende Faust einer Gottheit, die mit aller Kraft auf das Gestein des Turms herabfuhr.

Ein gewaltiges Ächzen schoss durch das Gemäuer und die Welt kippte.
Shrutis Rücken schlug gegen die gegenüberliegende Wand.
Schmerz blinkte hinter ihrem Schädel, sie keuchte und instinktiv klammerte sie sich an ihre Waffe, die harmlos und dumm wie ein Spielzeug in ihren Händen lag.

Das war nicht das Wasser, das sie hörte. Das war der zersplitternde Stein des Turms!
Ich falle. Nein. Der ganze Turm taumelte in die Tiefe!

Shruti sah nur ein Bild vor Augen:
Ihr eigener Körper, zerquetscht und auf jegliche Art entstellt, wie er zwischen den Trümmern hing.

Sie handelte aus Instinkt, als sie irgendwie auf ihre Beine kam, den sich gen Boden neigenden Flur überquerte und durch das zerbrochene Fenster sah.
Ohne auch nur zu zögern machte sie einen Satz hindurch und sprang in die Tiefe.

In diesem letzten Moment, als sie in der Schwebe hing, fragte sie sich, ob Zilli sich so gefühlt hatte, als sie gestorben war.

Dann stürzte sie herab.

Als der Turm zusammenkrachte, sah Valentin Shruti nur noch fallen.
Ihre schwarzen Haare flatterten hinter ihr wie ein Banner, während sie in den Tod raste.

Valentins Entscheidung war schon längst gefallen.
Er wirbelte herum, kehrte Lamisque den Rücken und ließ Magie in seine Fingerspitzen strömen.
Er hätte genauso gut vor ihr kapitulieren können, aber das war egal.

Bevor Shruti auf dem Pflaster zerschellen konnte, blieb ihr Körper einfach in der Luft erstarren. Ein helles Flimmern wanderte über ihre Glieder, langsam senkte sie sich herab zu Boden-

Ein Speer aus Eis zischte durch die Luft und zerteilte sauber Valentins Handfläche.
Er stieß einen spitzen Schrei aus.

Shruti stürzte zu Boden und sein Körper krümmte sich.
Für eine Sekunde wurde ihm schwarz vor Augen.
Er konnte sich nicht einmal wehren, da bohrte sich ein zweiter Speer durch seine andere Handfläche und grub sich tief in den Stein.
Er konnte sich nicht einmal mehr rühren.

Valentin wusste, dass er verloren hatte, noch bevor Lamisque vor ihn trat.
Er hatte sie noch nie so schön gesehen.
Ihr weißes Gewand flatternd und rot getränkt stand sie da wie eine Heilige und blickte auf ihn herab wie ein lästiges Insekt, dessen Flügel sie durchbohrt hatte.

"Es tut mir Leid", sagte sie mit echtem Bedauern in der Stimme, als sich in ihrer Hand ein Messer formte.
Valentin schluckte, als sie die Spitze auf sein Herz setzte.

"Nein", sagte Valentin. "Mir tut es Leid."

Valentin öffnete den Mund und nahm einen tiefen Atemzug.
Aber es war nicht allein Luft, die in seine Lunge strömte.

Ein erstickter Laut drang aus Lamisques Kehle und ihr Dolch klapperte auf den Boden.

Seelenfresser, so nannte man Magier Valentins Art. Einer von zahllosen schrecklichen Vorwürfen.
Aber manche von ihnen waren wahr.
Was würdest du von mir denken, Friedl? Was sähest du jetzt in mir? Monster oder Heilsfigur?

Einmal angefangen, ließ er keinen Tropfen zurück.
Ihre Erinnerungen waren seine. Ihre Träume und Ängste. Ihr ganzes Leben zerronn zwischen seinen Händen.
Es war ein Rausch. Reinste Ekstase. Er schwebte über den Wolken und den tiefsten Abgründen der Unterwelt zugleich.
Lamisques Seele schmeckte nach Meersalz, Schmerz und Lavendel.

Als ihr Körper zu Boden sackte, blieb nur noch der fade Geschmack ihrer Existenz auf seiner Zunge zurück.

Das Eis in seinen Händen löste sich auf und bebend kippte er auf seinen Rücken.
Am liebsten hätte er sich übergeben und seine eigene Seele herausgekotzt, bis nichts mehr von ihm übrig blieb.
Er wollte Schluchzen, aber er hatte keine Träne, die er noch vergießen konnte.
So lag er da, neben ihrem Körper.

Valentin konnte keinen Triumph spüren, als er auf Lamisques leblose Glieder hinabstarrte.
Sie atmete noch. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Sie blinzelte sogar, aber ihre Augen waren leer.
Er hatte ihre Seele gefressen. Ihre Magie. Da war nichts mehr in ihrem Kopf.
Sie war eine Tote in einem lebenden Körper.
Er hatte ihr nicht mal einen Geist gelassen, der Frieden finden konnte.

Valentin rollte sich zusammen und hoffte, es würde einfach vorbeigehen.

Shruti lebte.

Sie konnte es selbst kaum glauben, aber sie fühlte die entzückende Lebendigkeit des Schmerzes, als sie sich wankend zurück auf die Beine kämpfte.

Sie wusste nicht, was genau geschehen war. Sie wusste nicht einmal, was ihre Augen gesehen hatten, aber die Luft stank nach Tod. Erst war die Magierin gefallen, dann Valentin.

Durch eine Wolke aus Staub und Schutt sah sie Saphirs Gestalt, wie er neben Lamisque am Boden lag.
Genauso wie sie die Menschen erblickte, die sich den zwei näherten.
Sie fletschte die Zähne und knallte zwei Warnschüsse vor ihre Füße.

"Keinen Schritt weiter!", schmettere sie ihnen entgegen, schon hatte sie einen Arm um Saphirs Schultern geschlungen und schleppte ihn im Schutz des Trümmernebels in den Spalt zweier Gebäudeflügel.
Wenigstens atmete er noch. Das war ein gutes Zeichen.

Wehleidig sah sie zum offenen Tor in die Freiheit. Aber in diesem Zustand würden sie es niemals über die offene Fläche dorthin schaffen.

Sie wollte gerade völlig im Schatten verschwinden, als sie noch einen jungen Mann mit weißem Haar sah, wie er neben Lamisque auf die Knie fiel, ihre Schultern schüttelte und schluchzend ihren Namen rief.
Shruti wandte sich ab. Mitleid war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte.

Sie schleppte den völlig in Bewusstlosigkeit geglittenen Saphir durch das Gässchen und biss die Zähne zusammen.
Nicht mehr weit, dann hätten sie einen Seitenausgang erreicht und-

"Ah, Mademoiselle Kunwar und der Geheimrat, welch eine Ehre!"

Nein, bitte nicht. Bitte nicht er.
Alles in ihr gefror bei der bekannten Stimme und der Silhouette, die sich vor ihnen im Schaten erhob.

Da stand er, Yves Bloche, eine Hand noch immer verbunden, in der anderen ein Revolver, der direkt auf sie beide gerichtet war.
Was wollte ihnen die Welt noch entgegenwerfen?

Zischend hob Shruti ihr Gewehr.
"Keinem Schritt weiter oder ich schieße."

Ohne eine Spur von Nervosität hob der General die Braue.
"Das werden Sie ohnehin nicht tun."

"Zweifeln sie an meinem Mut?"

Ein kurzes Lachen kam aus seiner Richtung. "Genauso wenig wie an Ihrer Ruchlosigkeit. Aber Sie haben bereits sechs Kugeln verschossen, ich habe gezählt. Ich kenne die Gewehre meiner Armee, Mademoiselle Kunwar."

Sie schwieg, aber das war Anzwort genug.

"An ihrer Stelle wäre ich jetzt ganz vorsichtig."

"Was wollen Sie?" Ihre Stimme war mehr wie das Keifen einer Katze.

"Ihnen helfen."

Leger warf er ihr eine Rolle Papier zu, die sie nur auffangen konnte, indem sie ihr Gewehr losließ.
"Was ist das?"

"Eine Karte von Valon - und den Fabriken, die dort vor dem Krieg standen."

Sie schnaubte.
"Und was soll mir das bringen?"

"Sie werden sehen."
Mehr sagte er nicht, stattdessen drehte er sich um und bedeutete ihr mit einem Wink, ihm zu folgen.

"Warte!", rief sie dazwischen. "Warum sollten wir Ihnen glauben?"

Er warf bloß einen verächtlichen Blick über die Schulter.
"Eine Sache haben wir gemein, Kunwar: Wir sind Patrioten. Ich bin nicht dumm. Ich habe nachgeforscht. Ich weiß, dass dieser Dolus mit faulen Tricks spielt. Und ich will nicht, dass meine Enkelin in einer Welt lebt, wo solche Scharlatane wie er regieren."
Er rümpfte die Nase.
"Wer auch immer für all das hier verantwortlich ist, er hat mich am Lac du Larmes als Spielfigur missbraucht und das werde ich nicht so einfach hinnehmen."

"Sie profaner Knecht!", spie sie ihn an. "Warum sind Sie damit nicht zu ihrem Präsidenten gerannt? Warum haben Sie uns so leiden lassen? Saphir wäre fast gestorben."

Bloche zuckte mit den Achseln.
"Es hat mir durchaus Freude bereitet, ihn zappeln zu sehen. Das hier ist keine Gefälligkeit. Sie, Kunwar, haben das selbe Ziel, diesem Mann das Handwerk zu legen. Und ich brauche mehr Beweise."

Fluchend drückte sie Saphir näher an sich, dann machte sie Anstalten, dem General zu folgen.

Er brachte sie zu einen schmalen Kanal, in dem ein Bötchen auf sie wartete.
Als Shruti sich und Saphir hineinhievte, konnte sie nur zusehen, wie Bloches Gestalt immer kleiner und kleiner wurde, während die Strömung sie hinein ins Stadtzentrum und hinaus zum Hafen trug.
In einer letzten, spöttischen Geste legte der General eine Hand an sein Képi und salutierte ihr. Dann war er verschwunden.

Sie waren frei.

Joah, ein paar fragwürdige Impressionen aus diesem Kapitel✨

(Wetten der Kerl unten rechts ist Bloche?)

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