XXXII. Der Grenzgänger
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Der Kerker unter den Gemäuern des Palastes war feucht und kalt.
Dies war kein Ort für die Lebenden. Wer hier landete, erblickte nimmer mehr den Himmel und besaß bereits ein namenloses Grab, auch wenn das Herz noch schlug.
In einem anderem Leben wäre Krabat hier gelandet.
In einem Leben ohne Vasily.
Er hätte nicht hier sein sollen.
Der Magier hatte vor wenigen Stunden noch völlig bewegungslos auf irgendeinem Brunnenrand im Palastviertel gehockt.
Er hatte sich gefühlt wie gelähmt- als hätte er mit Vasily einen Teil von sich selbst aus seinem Körper geschnitten.
Das schlimmste war, dass er wusste, wäre er aufgestanden, wäre er einfach umgekehrt, der Zarewitsch hätte ihn zurückgenommen.
Krabat aber musste aufräumen. Und der beste Ort, damit zu beginnen, war seine Vergangenheit. Die verhaftete Karlistin. Das namenlose Mädchen seiner Kindheit.
Das schuldete er ihr.
So schritt er nun mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und polterndem Herzen durch den dunklen Korridor mit nichts als seiner Uniform als seine Rüstung.
Steif nickte er einem Geheimdienstler zu, der ihm im Laufschritt entgegenkam. Krabat entgingen nicht die Blutspritzer auf seinem gestärkten weißen Hemd, ebenso wenig das leise Wimmern, das dumpf aus den Stahltüren drang, die sich endlos links und rechts von ihm in das Gemäuer fraßen.
Noch einmal beschleunigte er seine Schritte.
683. Das war die Zellennummer, die die Wache am Eingang genannt hatte. Nach dieser musste er suchen.
Der Mann hatte sofort seine Frage beantwortet, als er Krabats Uniform und Rangabzeichen gesehen hatte. Er sandte ein stummes Gebet, dass das selbe auf den Rest der Leute hier auch zutreffen würde.
Er ignorierte das leise Schluchzen der Gefangenen, ebenso den metallischen Gestank, ja selbst die Abflussrohre versuchte er zu übersehen, die mit stetigem Abstand in den Boden eingelassen waren.
Nur die Zahlen. Darauf musste er sich konzentrieren.
681.
Ein Schrei drang durch die stickige Luft.
682.
Jemand warf sich gegen die Stahltür. Es schepperte laut.
Dann endlich - ganz am Ende des Ganges- sah er das Schild mit der Aufschrift 683, doch zwei Soldaten bauten sich zwischen Krabat und der Tür auf. Ihre Bajonette waren aufgeplanzt.
"Niemand hat Einlass. Befehl des Zaren", spie der Linke von ihnen aus und beäugte Krabat misstrauisch. Sein heller Blick zuckte erst zu dem Magierabzeichen auf seiner Schulter, dann zu seinem spitzen Gesicht.
"Der Zesarwitsch höchstselbst hat mich zu der Gefangenen geschickt", erwiderte Krabat aber nur mit einer Festigkeit in der Stimme, die ihn selbst verwunderte.
Die Lippen seines Gegenübers kräuselten sich noch mehr.
"Was will die Hoheit denn von... von so einer Karlistenschlampe?"
Krabat donnerte das Herz in seiner Brust, als er antwortete:
"Seine Hoheit will sich vergewissern, dass man ordentlich mit ihr umgeht. Er meint, wenn er mich schickt-"
Er machte eine vage Geste zu dem Blitz auf seiner Schulter. "- dass sie bei jemandem wie mir mehr redet."
"Unsere Befehle...", stammelte der andere Soldat.
Krabat machte ein betroffenes Gesicht.
"Soll ich Seine Hoheit wirklich damit plagen?" Wie ein Vertrauter beugte er sich etwas zu den zwei Männern vor. "Sie wissen doch, wie es um die Gesundheit des Prinzen steht. Ich kann ihn wirklich nicht noch mehr belasten. Und mich an die Majestäten wenden? Der Zar kam doch soeben erst von der Front zurück. Die Zarin selbst? Nun, Sie wissen doch, wie sie momentan ist..."
Bei der Erwähnung der Zarin blickten sich die Soldaten an, schluckten schwer, dann nickte der Linke Krabat zu und reichte ihm den Schlüssel.
"Sie dürfen passieren, Czornack. Aber für zehn Minuten. Keine Sekunde mehr."
Das war alles, was er brauchte.
Fast schon eine Spur zu hektisch trat er ans Schloss, sperrte die Tür nach mehreren Versuchen auf und glitt hinein.
Sofort fiel sie wieder hinter ihm ins Schloss.
Es war dunkel hier und Krabats Augen brauchten mehrere Sekunden, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen.
Das erste, was er sah, war ein Tisch zu seiner linken. Hübsch war er, poliert und fein gearbeitet, darauf stand sogar eine Vase voll mit Blumen. Doch sie waren schon lange abgeblüht und ihre braunen Blüten bedeckten die Keramikschale auf dem Tisch.
Darin lagen Zangen, Messer und Schlagstöcke.
Ihr Metall war blutverkrustet.
Übelkeit benebelte seinen Geist, dann hörte er es. Ein ersticktes Kichern aus dem hintersten Winkel der Steinzelle, dort im tiefsten Schatten.
"Oh Krabat, erinnert er sich wieder an mich?"
Ihre Stimme war gebrochen, doch es waren die Schemen ihrer Gestalt, die ihn zusammenzucken ließen.
Sie kauerte dort in der Ecke, ihre Hände hatte man ihr über dem Kopf an die Wand gefesselt und ihre wunden Knie rieben auf dem Stein.
Und ihr Gesicht... Oh Narecnitsy. Es war blutiger, zusammengeschlager Brei, in dem dunkle Strähnen klebten. Allein helle Augen funkelten ihm kampfeslustig entgegen.
Er brachte keinen Ton hervor.
"Oder verleugnest du mich weiterhin?", zischte sie. "Haben Sie deinen Schädel schon so mit Ihren hübschen Lügen gefüllt? Dass du nicht einmal mehr einer von uns bist?"
"Ich erinnere mich", setzte Krabat da an. Ganz langsam und Stockend. "Ich erinnere mich an dich. Du und ich, wir haben jeden Sommer an der Felsklippe über dem Steinbruch gesessen und wilde Beeren gegessen."
"Über dem Steinbruch, in dem unser Volk zu Tode gearbeitet wird."
"Wir haben jeden Morgen zusammen Wasser geholt."
"Bis der verfluchte Koschtschei dich in die goldene Stadt und die Soldaten mich in die Raffinerien verschleppt haben."
Krabats Stimme war zu einem rauen Wispern verkommen.
"Du hast mir gezeigt, wie ich die Haare meiner Schwestern flechten kann. Nachdem- Nachdem Mama gestorben ist."
Lange antwortete sie ihm gar nicht. Dann, nach quälenden Skeunden:
"Was willst du, Czornack?"
"Ich kann dich befreien", flüsterte er mit gebrochener Stimme und hob den Schlüssel vor ihre Augen, als wäre er Zentner schwer.
"Ich kann dich hier herausbringen. Nach Hause bringen."
Ihr Blick verschärfte sich.
"Was willst du, Czornack?", wiederholte sie bloß. "Du redest von Freiheit, aber zu welchem Preis? Darum geht es doch in eurer Welt, nicht? Was man alles gewinnen kann? Den eigenen Vorteil auf die Kosten anderer?"
Eure Welt? Als hätte er jemals wirklich in die Welt des Adels gehört. Nein, Krabat war höchstens ein Schatten. Ein bessergestelltes Haustier.
Und doch... Er zauderte. Uniform, warme Stube und Offiziersinsignie, sei es auch die niederste, verbannte ihn aus der Welt seiner Herkunft.
Wer sonst sah den Schein der Lüster, durfte aber nicht in ihn treten? Wer sonst aß von den goldenen Tellern, aber nur des Zarewitschs Reste? Wer sonst wurde wegen seiner Unzivilisiertheit verhöhnt, hatte aber als einziger seiner Familie das Lesen gelernt?
Er gehörte nirgendwohin.
Krabat war ein Grenzgänger zwischen den Welten, nirgendwo Zuhause und jeden Moment inbegriffen, zwischen beiden zerquetscht zu werden.
Noch einmal atmete er tief durch.
"Ich will einen Bürgerkrieg verhindern. Ich will ein anderer Mensch sein. Jemand, der endlich etwas tut, um anderen zu helfen-"
Sie ließ ihn nicht ausreden. Stattdessen schnaubte sie nur.
"Verstehst du es nicht, Krabat? Ein Krieg ist nicht zu verhindern. Er ist alles, was uns bleibt. Wir können unsere Fesseln nur mit Gewalt lösen, weil man sie uns mit Gewalt überstülpt. Man kann ein gewaltvolles Regime nicht mit Frieden bekämpfen. Man muss es stürzen."
"Stürzen?", schrillte er. "Sie werden euch vorher alle umbringen. War dir das Blut der letzten Tage nicht genug? Willst du daran ersticken? Ich will doch nur, dass unsere Leute nicht mehr leiden-"
"Nimm ihren Namen nicht in deinen Mund", fauchte sie urplötzlich. Die Ketten rasselte. "Es ist nicht dein Volk. Nicht mehr. Das Recht hast du dir verwirkt, als du uns... als du uns verkauft hast an diese Ratten. Ich bin hier in dieser Zelle, aber eigentlich bist du ihr Gefangener."
Zitternd gaben die Knie unter ihm nach und er ging zu Boden.
"Ich hab euch nicht verraten. Bitte, ich hab euch nicht verraten."
"Pah", stieß sie aus, doch etwas in ihrer Stimme wankte."Du unterstützt hier nichts als einen Machtkampf zwischen Vater und Sohn. Dein Prinz will nur den Thron. Die absolute Macht."
"Das stimmt nicht. Du kennst ihn nicht."
"Ihn nicht kennen? Ich kenne die Art, wie die Truppen seiner Familie uns umbringen", ätzte sie.
"Hör doch, wie du sprichst. Du bist seine Puppe. Hast dich selbst verkauft, wie du damals uns verkauft hast. Du kennst ja nicht mal mehr unsere Namen."
"Ich war ein Kind!"
Krabat schrie nicht. Normalerweise tat er das nicht. Wen sollte er denn schon anschreien? Die Menschen um ihn herum waren besser als er. Über ihm. Aber jetzt brachen die Emotionen aus ihm heraus. Brachen ihn und alle Wände um ihn.
"Ich hatte keine Wahl. Sie haben mich mitgenommen. Sie haben mir ihr Wappen ins Fleisch gebrannt. Da war ich gerade einmal sechzehn."
Seine Schultern begannen zu beben.
"Vielleicht hätte ich mich wehren sollen. Aber ich konnte nicht. Vielleicht war das egoistisch. Doch es war der einzige Weg, meine Familie zu schützen. Bevor Sie... Bevor Sie wie Mama..."
Er schniefte
"Vasily hätte nicht gut zu mir sein müssen, doch er war es. Er müsste nicht seinen sicheren Titel für euch riskieren, doch er tut es. Er ist ein guter Mensch."
Und ich habe ihn verlassen. Aber ich musste es. Sonst wäre ich erstickt.
Etwas an ihrer Haltung erstarrte. Der Kampfesmut floss aus ihren geschundenen Gliedern.
"Krabat-"
"Bitte", setzte er schwach nach. "Ich will dir doch helfen."
"Die Hoffnung stirbt wahrlich zuletzt. Aber sie stirbt. Und meine wurde hier in der Dunkelheit zu Grabe getragen. Und ich sterbe mit ihr."
"Ich hab den Schlüssel-"
"Du willst mir einen Gefallen tun, ja?"
Da war kein beißender Spott mehr in ihrem Blick, nur Mattheit. "Dann töte mich, Krabat. Meine Glieder sind zertrümmert. Mein Geist gebrochen. Ich komme hier nicht mehr raus. Ich liege im Sterben."
Er öffnete seine Lippen, aber kein Ton kam heraus.
"Sei mir ein letztes Mal ein Freund. Mach, dass es vorbei geht. Erlöse mich von der Dunkelheit."
Krabats Augen füllten sich mit dicken, heißen Tränen, doch er zwang sich zu einem Nicken.
Das war alles, was er tun konnte.
Nicken und ihren Wunsch erfüllen.
Sie von der Dunkelheit erlösen.
Elektrizität sammelte sich zischelnd und prickelnd in seinen Fingern.
Ein letztes Mal holte er tief Luft, dann schoss der Stromstoß aus seinen Fingern.
Draußen stürzten die Wachen ohnmächtig zu Boden. Sie hatten an der Tür gelehnt, auf die er gezielt hatte.
"Was-", setzte sie an, aber Krabat schloss bloß die Fesseln auf und hievte ihren zerbrochenen Körper auf seine Arme.
Mit wackeligen Beinen trug er sie in den Korridor.
Er war wie betäubt.
Es war gleich einem Wunder, dass niemand ihm in diesem Gang entgegenkam.
Noch irgendwo geistesgegenwärtig warf er seinen Mantel über das blutige Bündel in seinen Armen, doch selbst dann, als er den Weg mit einem Wachposten kreuzte, war der zu beschäftigt, einen Gefangenen an den Füßen tiefer in einen Tunnel zu schleifen, als dass er Krabat beachtete.
Endlich trugen ihn seine Füße aus der Unterwelt, aus diesem Palast und hinein in das weitläufige Gelände des Lustgartens und in die Umarmung des Frosts.
Er blickte in den Himmel.
Die blasse Frühlingssonne kitzelt seine Nase und verbannte die Dunkelheit.
Es war hell in der Welt.
Sanft ließ er die Magierin auf dem frischen grünen Gras ab, dass sich so todesmutig aus dem Schnee gekämpft hatte und jetzt weicher war als jeder Teppich.
Sogar das helle Blütenkleid von Schneeglöckchen brach daraus empor und krönte ihr Haupt wie einen Heiligenschein.
Die Wachen würden sich an nichts mehr erinnern können.
Vielleicht würden sie sagen, die Magierin hätte sich befreit, wäre geflohen und dann hier zusammengebrochen. Vielleicht würden sie Krabat einen Deserteur nennen, aber das sollte ihm recht sein.
Ihrer beider Augen trafen sich ein letztes Mal.
Sie lächelte ihr blutiges, lückenhaftes Lächeln, bevor sie sich leicht zu ihm hochbeugte und ihre finalen Worte in seine Ohren flüsterte.
"Geh zu der Barrikade mit der weißen Fahne und der schwarzen Katze. Geh zu Antonina und ihrer Splittergruppe.
Dort wohnt mein Herz.
Vielleicht findest du deines ja auch dort."
In diesem Moment war er nicht im Lustgarten, sondern fläzte sich zusammen mit ihr auf den Heidekrautwiesen. Für einen Augenblick waren sie wieder lachende Kinder.
Ihr Name lag ihm wieder auf der Zunge.
Die Worte verließen gleichzeitig mit ihrem letzter Atemzug seine Lippen:
"Auf Wiedersehen, Anahit."
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