XXXI.Eine göttliche Komödie

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Der Himmel weinte. Weinte um sie und ihre Zukunft - oder um die derer, gegen die sie in die Schlacht zogen.

Wasserfälle aus Regen trommelten gegen die Fensterscheiben und vermischten sich mit dem Röhren der Maschinen zu einem dumpfen Klopfen, während der Zug durch Dunkelheit und Gewitter schoss.

Ein Blitz zuckte über den Himmel, helles Licht flutete ihr Abteil und erleuchtete das Interieur, das unter anderen Umständen als der schmucke Salon einer reichen Dame hätte durchgehen können.
Mit dem kleinen Problem, dass die Insassen - Zilli, Božena, Kuno und Kerinsk - diesen Eindruck deutlich schmälerten.

"Du nichtswürdiger Wechselbalg , ich vermochte deiner Mutter Beischlaf zu leisten!", fluchte Božena unflätig wie ein Fischweib, das zu viele epische Dramen verschluckt hatte, als sie an den Ledergurten ihrer neuen Beinprothese zerrte. Dem Prinzen war währenddessen scheinbar die Durchschnittlichkeit ihrer bürgerlichen Existenzen zu Kopf gestiegen, da er angefangen hatte, die verschiedensten Alkohole und Früchte in fragwürdige Mixturen zu verwandeln, alles während Kerinsk missmutig in einem Diwan versank und unverständliche Worte in seinen nicht mehr vorhandenen Bart brummte.

Und Zilli selbst saß in ihrem Sessel, eine Hand um ein Cognacglas gelegt und die Abteiltür mit verengten Augen betrachtend.

Der letzte Stopp des Zuges lag keine drei Minuten in der Vergangenheit, aber sie hatten nicht nur eine neue Ladung Kohle aufgenommen, sondern auch einen Passagier.
Einen Passagier, den sie mit ihrer neuen Befehlsgewalt sofort zu sich zitiert hatte.

Knarzend öffnete sich die Tür und entblößte die gedrungene Gestalt, die sich die Dreistigkeit herausnahm, weder zu salutieren, noch zu grüßen, noch irgendwelche anderen Anstalten zu machen.

Stattdessen rief Maryk Hašek nur euphorisch aus: "Chefchen!"

Und Zilli? Die sprang prompt auf, breitete ihre Arme aus und erwiderte: "Mein Klößchen!"

Als stammten sie aus einer Schmonzette im Lichtspielhaus, begann Hašek zu laufen, auch seine Arme breiteten sich aus wie Schwingen - dann stürzte er sich auf Zilli.

Die schwungvolle Umarmung riss sie von den Füßen. Bevor sie es hatte verhindern können, züngelte Schmerz durch ihr malträtiertes Bein, sie knickte weg und Hašeks Stummelbeine gleich mit ihr.
Sie flog frontal auf den Boden, doch schnell hatte sie sich wieder aufgerappelt.

Mit einem breiten Lächeln bedachte sie ihren Offiziersdiener, nur um zu sagen: "Ich schwöre, wären Sie nicht so außerordentlich gut im Stiefelpolieren und Pfaffenvertreiben, ich würde Ihren Faden abschneiden und Sie dann persönlich aus dem Totenreich zerren, für den Schreck, den Sie mir eingejagt haben."

Der zuckte nur mit den Schultern.
"Totenreich klingt im Vergleich zu Ihnen ganz nett. Wenigstens soll das Klima gut sein."

Und als er geendet hatte, schloss sie ihn einfach noch einmal kräftig in die Arme.

"Ich habe Ihre Liebenswürdigkeit auch vermisst", keuchte er hervor. "Aber meine Rippen-"

Sofort ließ sie ihn los. Mehr als einen Toten konnten sie wirklich nicht in der Truppe gebrauchen, doch als Hašek wie benommen aus der Umarmung taumelte, weitete Verwirrung seine Augen.

"Ich glaub, ich hab so einiges verpasst", murmelte er und nickte verwirrt in Richtung der anderen Anwesenden.
Besonders Kerinsk bedachte er mit einer hochgezogenen Braue.
"Was habt ihr verbrochen, dass ihr den Grantler abbekommen habt?"

"Also bitte! Welch Frechheit", beschwerte sich Kerinsk sofort und schlug mit der Hand auf den Tisch - und rammte seine Finger sogleich in ein Austermesser.
Laut heulte er auf und schimpfte. Wortlos erhob sich Kuno, schnappte sich die Hand des  protestierenden Kerinsk und mit einem Fingerschnippen zogen sich die Wundränder zusammen.

Für einen Moment starrte der Oberst nur misstrauisch auf die frische, rosa Haut seiner Hand, dann presste er diese ganz dicht an seine Brust.
Trotzdem murrte er noch nahezu unverständlich: "Hätte vor einem halben Jahr nie gedacht, dass ich mal einen Magier an mir rumfummeln lassen würde."

Sofort blitzte ihm Kunos charmantestes Prinzenlächeln entgegen, das zweifelsfrei Herzen und ganze Heerscharen bändigen konnte. In einem ähnlichen Tonfall säuselte der falsche Baron:
"Ich hätte Sie auch von innen heraus verbluten lassen können, wenn Sie das in Ihrem Weltbild bestärkt hätte."

"Moiren, so war das nicht gemeint!", protestierte Kerinsk prompt.
"Aber wo wir gerade dabei sind... Wie sieht es mit der Heilung von Fußpilz aus?"

"Zu viele Details!" Panisch schlug sich der Prinz die Hände vor die Augen, nur um kleinlaut zu gestehen: "Aber ja. Glaube ich ... zumindest."

Zilli stieß ein gedehntes Seufzen aus.
"Das ist eine sehr lange Geschichte", war die einzige Erklärung, mit der sie Hašek dienen konnte.

"Sie haben genug Stoff, die Klekánice so lange in Gespräche zu verwickeln, dass die Mittagsstunde vorbei ist und sie ihre tödliche Macht verliert. Beispielsweise die Geschichte, wie ich durch Sie mein Bein verloren hab' ", scherzte Božena, da blitzte schon etwas in Hašeks Blick auf.
"Die Klekánice? Die tschetikische Mittagsdämonin?", wiederholte er.
Enthusiastisch warf er seine Arme nach außen und stieß zu ihr aus: "Sestra!"

Was sollte man sagen? Innerhalb kürzester Zeit hatte sich zwischen den beiden die famose tschetikische Brüderlichkeit entwickelt und Zilli hatte nicht einmal Zeit zu bedenken, dass sie hier gerade subversive Kräfte im Regiment heranzüchten könnte.

Doch ein geträllertes tschetikisches Volkslied später fielen beide erschöpft - eine durch ein fehlendes Bein, der andere durch fehlende körperliche Ausdauer- auf die gepolsterten Sessel.

"Warum sind Sie überhaupt hier?", fragte Zilli da Božena. "Mit der Verletzung hätten Sie deutlich angenehmere Plätze finden können. In einem Trainbatallion vielleicht. Oder Sie wären direkt aus der Armee ausgeschieden."

Die Tschetikin warf ihr ein blitzend weißes Grinsen zu. "Ach, Wege einen an der Front verrecken zu lassen finden die doch immer. Also lieber zu einer Bekannten gehen als sonstwo. Außerdem-" Ein fast schon genüsslicher Tonfall legte sich in ihre Stimme. "- bin ich kurz davor, eine göttliche Komödie zu genießen."

"Eine Komödie?", brachte Zilli hervor.
Sie dachte an all die Toten von Valon. An ihren eigenen Körper, der irgendwo halb verfault in den rauchenden Ruinen liegen mussten.

"Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist die Komödie der Macht. Denn - wenn man mir solche Ausfälligkeiten erlaubt - ist dieser Staat eine einzige Lachnummer und dieser ganze Krieg eine blutige Farce, bei der man die Unschuldigen unters Rad wirft. Der Kaiser aber, oho, er ist der größte Schauspieler von allen."

"Ich glaube, da liegt ein kleines Missverständnis vor", fiel Kuno ihr ins Wort. "Mein Vater pflegt durchaus Kontakt zu Schauspielern. Primär der weiblichen Sorte. Aber selbst? Bei dem, was er mit den Damen Macht, will er lieber nicht auf der Bühne entdeckt werden."

"Mein Vater?", flüsterte Hašek Zilli zu. "Der Bursche ist ein verfluchter Prinz?"

"Lange Geschichte", zischte sie zurück.

Božena stand auf und breitete die Arme aus. Fast schon so, als wolle sie ihr eigenes kleines Publikum in den Bann ziehen.
"Was, meine Freunde, gibt dem Kaiser Macht?"

"Er befehligt Armeen", pampte Kerinsk zurück.

"Er verfügt über den Staatshaushalt", erwiderte Kuno.

"Er zwängt uns allen furchtbare Bartmode auf", feixte Hašek.

Zilli legte den Kopf schief und betrachtete Božena, die blonde Nymphe, die Schauspielerin, die gegen den Kaiser wetterte als wäre er ihr Maestro und Hassobjekt gleichzeitig.
Langsam sagte sie:
"Er lässt die Menschen glauben, er hätte die Macht. Er lässt sie glauben, sie müssten seinen Zorn fürchten und nicht umgekehrt."

Boženas Lächeln wurde breiter bei Zillis Worten.
"Der Kaiser, er ist ein großer Künstler unserer Zeit und dafür bewundere ich ihn. Fast", verkündete sie. "Egal was er tut, seine Generäle befehligen die Truppen. Es sind die einfachen Soldaten, die ihm die Macht einer Armee geben. Der Staatshaushalt? Er wird von den einfachen Bürgern erwirtschaftet und von den Finanzbeamten kontrolliert. Selbst die Bartmode hat nicht er, sondern sein Hofcoiffeur erfunden."

"Das ist doch Humbug", zeterte Kerinsk. "Lächerlichster Humbug. Das Kaisertum hält sich seit Ernst Friedrich stolze zweihundert Jahre! Und das nicht grundlos!"

Sie bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick, der eigentlich nur unverständigen Kindern zuteil wurde.
"Im Glanz des Thrones mag er zwar eine zweifellos eindrucksvolle Persönlichkeit spielen, mag reden, ohne dass man mehr von ihm erwartet als reden, mag blitzen, blenden, ja sogar den Hass gegen imaginäre Feinde vor einem Amphitheater applaudierender Bürger schüren, aber einen Krieg führen?"
Sie schüttelte den Kopf, dann bedachte sie Zilli mit einem Blick aus ihren moosgrünen Augen.
"Und Sie... Sie haben sich eine Rolle in diesem Schauspiel angemaßt, die Ihnen nicht zusteht. Die erste Magierin, die Generalin wurde. Die einzige sogar. "

Zilli knirschte mit den Zähnen.
"Ich habe für dieses Land geblutet und das ist mein Erlös. Nicht mehr, nicht weniger."

"Oh, das haben Sie bestimmt, aber vielmehr haben Sie das Spiel gespielt. Ja, im Thronsaal damals haben Sie vorzüglich geschauspielert. Der Kaiser war Ihr Publikum und er war entzückt. Aber vielleicht, ganz vielleicht, kommen Sie herein und sind die Person, die diese Farce eines Schauspiels beendet."

"Ich bin nur eine Frau", meinte Zilli schwach.

Božena nickte.
"Und der Kaiser ist nur ein Mann."

Missmutig betrachtete Zilli das Cognacglas in ihrer Hand.
Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden schüttete sie es ihre Kehle herab. Den Alkohol schmeckte sie nicht einmal mehr.

Sie wusste nicht einmal, wie sie eine Brigade führen sollte - sie war schon froh, dass sie durch Stellungskrieg und Schienennetz halbwegs stabile Nachschublinien statt endlose Trosse hatten - und diese Frau sprach vom Hof und seinen Intrigen?
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf.
Sie war nur Zilli Palinquas. Weder Heilige noch Tyrannin, sondern einfach nur Zilli Palinquas.

"Chefchen-"

"Nein, Hašek, nicht jetzt."

"Aber Chefchen!" Seine Stimme quietschte seltsam. "Sehen Sie doch nur!"

Wiederwillig folgte sie dem starren Blick ihres Offiziersdieners und wandte sich zu dem Abteilfenster in ihrem Rücken.
Sie erstarrte noch in der Bewegung.

Der Zug schnaufte in diesem Moment über eine Brücke, die in schwindelerregender Höhe zwei Wipfel des Paßralgebirges verband.
Von ihr aus errang man einen weiten Blick in den Talkessel.
Unter ihnen klaffte eine weite Ebene, die sich bis in den Horizont erstreckte. Und dort unten hatten sich scheinbar alle Schergen des Grauens versammelt.

Reihe an Reihe, dicht an dicht gedrängt, wimmelte es zu den Füßen der Berge von unzähligen schwarzen Punkten. Eine endlose wogende Masse, dort auf der anderen Seite der Grenze, auf der anderen Seite von Marondais.
Rauchschwaden und dumpfes Rauschen stiegen von dort aus zu Zilli in den Himmel empor.

Zittrig nahm sie den Feldstecher von ihrem Gürtel und hielt ihn vor ihre Augen.
Tausende kleine Punkte in salbeigrün wurden zu schemenhaften Gestalten und hunderte Striche wurden zu Bannern, die tapfer im Wind flatterten.
Die zerbrochene Lilie Saint-Mitres.
Das Symbol der Feinde, zu denen man sie schickte, um zu sterben.
Und sie besaß nichts als eine einzelne Brigade.
Das dort unten mussten mindestens sieben sein.

Langsam ließ Zilli das Fernglas sinken.
"Die Komödie kommt hiermit zu Ihrem Ende", meinte sie nur trocken.

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