XXI. Der machtlose Mächtige

▪︎ ▪︎ ▪︎

Als Valentin aufwachte, wusste er sofort, dass er nicht mehr in seiner Zelle war.
Er merkte es an dem Schneiden der Fesseln an seinen Handgelenken, er merkte es an dem Knarren eines unbekannten Polstersessels in seinem Rücken und er merkte es an dem seltsamen Geruch von Rauch, der in seine Nase biss.

Er schlug die Augen auf - und bereute es sofort.
Heftig blinzelte er gegen golden gleißendes Licht. Er wollte sich wegdrehen, doch die Fesseln ketteten ihn an Ort und Stelle.

"Nana, mein lieber Herr Saphir, seien Sie doch nicht so hektisch", hörte er die  Stimme eines Mannes tadeln. "Das Sedativum klingt erst langsam ab. Und Sie haben sehr viel davon in Ihrem Tee getrunken."
Sie haben viel davon in Ihrem Tee getrunken?

"Wo bin ich?", krächzte Valentin. "Wieso bin ich hier?"
Langsam setzte sich das blendende Licht zu einem Bild zusammen.

Die Petrollampen unter ihren Buntglasschirmen tauchten die schweren Polster, edlen Möbel und atamanischen Teppiche in einen güldenen Glanz, während hinter den Fenstern finsterste Nacht herrschte.
Sogar der polierte Tisch, der sich zwischen ihm und der Gestalt - fein herausgeputzt in Uniform- erhob, schimmerte.
Auf ihm standen zwei gefüllte Weingläser.

Es hätte ein gemütlicher Salon sein können, wäre da nicht der Mann, den er überall wiedererkannt hätte.
Bloche.

Yves Bloche, der General, der ihn gefangengenommen, der ihn entwürdigt, der ihm dieses verfluchte Band um den Hals gelegt hatte.

"Warum- Warum sind Sie hier?", zischte der Magier.

"Nana, warum so unhöflich?"
Er lächelte.
"Der Präsident hat mich geschickt. Hierhin nach Calieux und jetzt hierhin zu Ihnen. Was ist denn ein General anderes als die ausführende Hand der Politik?"

"Mit Verlaub, aber das klingt nach der Hand für die Drecksarbeit."

Bloche ließ ein kleines Rauchwölkchen über seine Lippen quellen, nachdem er einen erneuten Zug von seiner Zigarette nahm.
"Nun, mein lieber Saphir, Krieg ist eben ein schmutziges Geschäft. Aber spricht das denn gegen ein gemeinsames Dîner? Immerhin kann ich im Gegensatz zu Ihrem Kaiser wohl kaum unterlassen, die Gastfreundschaft zu pflegen."

Valentin blickte auf die Fesseln. "Ich befürchte, die mitreanische Hospitalität entzieht sich noch immer meinen eingeschränkten mentalen Fähigkeiten."

"Nun, es sind für Sie wohl wirklich sehr unbekannte Sitten- und ich habe dementsprechend etwas Besonderes für Sie vorbereitet." Zweimal klatschte er in die Hände.
"Couillard, der Hauptgang bitte."

Ein Diener löste sich auf Kommando aus dem Schatten und stellte lautlos wie eine Katze eine silberne Servierglocke vor ihnen ab.
Sie war geschmückt mit weißen Chrysanthemen. Totenblumen.

"So ein fürstliches Dîner wäre doch nicht nötig gewesen", spottete Valentin, dabei merkte er selbst, wie er innerlich in Verteidigungshaltung ging.
Ein Knistern lag in der Luft.
Das selbe Knistern, das ihn vor jeder Debatte überkam, das selbe Knistern, das in der Luft lag, kurz bevor zwei Heere im blutigen Gemetzel aufeinander trafen.

"Eine bruktische Spezialität", meinte der General mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, dann hob er die Glocke.

Als erstes schlug Valentin der süße Gestank von Fäulnis und Moder entgegen. Ein Beinhausgeruch.
Dann erkannte er das geköpfte Haupt eines Mannes, das bleich, blutverkrustet und angefault auf dem Silbertablett lag.

"Die Leibspeise Ihres Kaisers, scheint es mir", kommentierte Bloche bloß.

Valentin schreckte nicht einmal zurück.
Der Anblick des abgeschlagen Kopfes ließ ihn kalt.
Zumindest ließ er ihn auf die Weise kalt, wie es numal mit einem Mann geschah, dessen Leben hundertfünzig Jahre blutiger Weltgeschichte bezeugte.

"Warum zeigen Sie mir das?", brachte er seltsam unterkühlt hervor. "Was soll dieser Mummenschanz?"

"Das hier", meinte Arondax bedeutungsschwer. "War Commandant Moulin, ein alter Kamerad und Freund von mir. Er ist in der ersten Schlacht bei Valon gefangengenommen worden und somit in die blutigen Klauen Ihres Kaisers gefallen."
Er schürzte die Lippen.
"Scheinbar war das die Rache für Kabisius. Was für ein großer Mann Ihr Herrscher doch sein muss, wenn er sich an hilflosen Gefangenen vergreift."

Oh, Guilelmus, du ignoranter, grausamer Narr, fuhr es durch Valentin.
Jedoch schloss eine eiskalte, dunkle Vorahnung ihre knöchernen Finger um sein Herz.
Du kannst dein Leben nicht noch einmal in die Hand eines anderen Mannes legen, Valentin.

"Warum bin ich hier, Bloche?", meinte er. "Sie sind ein besserer Mann als das. Verhalten Sie sich gefälligst auch so."

"Gute Männer gewinnen leider keine Kriege", antwortete der General bloß. "Und diese Tat verlangt nach Revanche."

Nein. Nein. Nein.
Valentin war nicht so weit gekommen, um jetzt hier...
"Sie können mich nicht töten", presste Valentin aus zusammegpressten Kiefern hervor. "Sonst verlieren Sie jeden Verhandlungswert. Sonst werde ich-"
Sonst werde ich ihre Welt in Brand setzen.

"Oh, mein Lieber, sie töten? Das brauche ich doch gar nicht." Geschmeidig wie eine Katze stand er auf und strich fast schon liebevoll über Valentins Kieferpartie.
"Nehmen Sie das bitte nicht persönlich."
Bedauernd legte er eine Hand auf die Schulter des Magiers, mit der anderen aber drückte er seine Zigarette auf Valentins Handrücken aus.
Sofort entkam dem ein erstickter Schrei.

Der General winkte aber nur eine Gestalt aus dem Schatten heran, während Valentin sich krümmte.

"Es wird Zeit, Guilelmus sein eigenes Gift schlucken zu lassen", sprach Bloche zu dem Unbekannten. "Machen Sie den lieben Herr Saphir bitte nicht völlig kaputt. Der Präsident hat den kleinen Seelenfresser doch so gern."

Die Figur, die so völlig lautlos vor sie trat, hätte problemlos mit der Nacht draußen verschmelzen können.
Sie war umwickelt von tintenschwarzen, geschlechtslosen Stoff, dessen Konturen im Licht golden glühten.
Allein ein einziges Auge blickte darunter hervor. Es glomm violett.
Ein Geistermagier. Valentin hätte seine Leute überall erkannt.

"Bloche, Sie ehrenloser-", setzte Valentin an, aber der General ging und drehte sich nicht mehr nach ihm um.
Der Magier trat an Valentin heran.

"Nein, wagen Sie es ja nicht, ich-"
Ich bin der Geheimrat des Kaisers.
Ich war der engste Vertraute Ernst Friedrich I.
Ich habe die Große Ausmerzung überlebt.
Ich habe mein Leben für unser Volk geopfert.
Aber all das war hier und jetzt mit einem Mal bedeutungslos.
Valentin fühlte sich wieder wie der verängstigte kleine Junge, der er einmal gewesen war.
Die Angst stürzte sich auf ihn wie ausgehungerte Wölfe.

Die Gestalt legte ihre schmalen Finger am seine Schläfen.
Kurzer Schmerz fuhr durch ihn wie Feuerzungen, dann war er nicht mehr in diesem Raum.

Boden knirschte unter seinen Füßen und Hitze peitschte auf seine Wangen ein, während die Welt in das Knacken und Prasseln von Flammen getaucht war.
Es hätte fast die Schreie übertönt. Aber wirklich nur fast.
Spätestens jedoch der Gestank verriet alles. Rauch und Asche verpesteten die Luft, bis ein Hustenanfall ihn schüttelte.
Es roch nach verbranntem Fett.

Valentin riss die Augen auf und doch wusste er schon davor, was er sehen würde.
Die Nacht war in den roten Farben des Feuers gemalt.
Scheiterhaufen leckten freudig den entflammten Himmel, begleitet von dem Klagegeheul ihrer Opfer, ein Chor des Grauens, der von allen Seiten sang.
Es war ein Massaker. Ein Massaker an Magiern wie ihm. Eine Serenade für die Ohren ihrer Peiniger.

Alles in ihm verlangte nach Flucht. Aber er konnte nicht, denn dieser Ort wartete.
Er wartete in jeder Ecke und in jedem Schatten und wich doch nicht von ihm.
Er wartete auf Valentin in seinen Träumen. Er brannte hinter seinen Lidern, wenn er schweißgebadet aufwachte und er begleitete ihn an jeder Sommersonnenwende, wenn der Ganze Hof singend um die Feuer tanzte und allein Valentin im Schatten zurückblieb, steif und kurz davor, sich jedes Mal zu übergeben.
Er wollte fliehen, doch er konnte nicht.
Das vor Hitze und Rauch flimmernde Bild verschwand nie.

"Mama", stieß Valentin aus.
Seine Knie schlotterten und ein Schluchzer kämpfte sich aus seiner Kehle. "Mama."
Doch die Gestalten auf ihren Scheiterhaufen waren zur Unkenntlichkeit entstellt.
Die Haut war geschwärzt und geschrumpelt, die Kleidung mit dem Körper verschmolzen und die Haare verbrannt. Diese Personen konnten jeder oder niemand sein.
Man nahm ihnen jede Würde und Individualität, bevor man sie sterben ließ.

Aber eines erkannte er mehr als genau.
Zwischen den Scheiterhaufen standen sie, lachten und stachen mit den Bajonetten nach, wenn sich noch etwas regte. Soldaten in schwarzer und goldener Uniform, der Uniform Bruktiens, direkt aus der Unterwelt entstiegen.
Jemand von ihnen rief etwas, hob eine Hand, zeigte auf Valentin und packte die Waffe fester-

Mit einem Mal rannte Valentin los, rannte so schnell ihn die schmalen Beine durch das Rauchmeer trugen. Es knackte unter seinen Füßen - Knochen- doch er drehte sich nicht um. Die ganze Welt verschwamm in Hitze und Tränen, doch er sprintete weiter und setzte über eine undefinierbare Masse hinweg.
Seine Lunge wurde gekocht, aber er zwang sich vowärts. Schritt für Schritt.
Er wollte hier raus, musste hier raus, aber es gab keinen Ausgang.
Am Ende brachte es trotzdem nichts.

Das einzige, was er von seinem Angreifer sah, waren die schwarze Uniform und das Blitzen einer goldenen Maske auf seinem Gesicht, dann stürzte sich der Mann auf Valentin.

Die zwei krachten in einem Knäuel aus Gliedern zu Boden.
Schmerz flackerte durch Valentins Schulter, dann waren da überall Hände.
Sie rissen an ihm, zerrten an ihm, als wollen sie ihm die Kleider vom Leib reißen, nein, direkt die ganze Haut von den Knochen ziehen.
Sie wälzten sich über den Boden, bis Valentin es endlich schaffte, den Mann mit seinen Zauberkräften an den Boden zu pinnen und sich schnaufend und keuchend auf ihn zu wälzen.

Aus einem plötzlichen Impuls riss Valentin die Maske vom Gesicht dieses Soldaten, dieses Mörders, dieses Schänders, dieses... dieses...

Er blickte auf Friedls von goldenen Locken umrahmtes Gesicht herab, als die Maske zu Boden fiel.
Sein ganzes Inneres erstarrte.
"Vally", röchelte der nur, aber der Magier hörte ihn schon nicht mehr.

Valentin hob wie fremdgesteuert die Hand. Plötzlich lag ein Messer darin.
Nein.
Er packte den Schaft fester.
Bitte nicht.
Seine Hand rammte das Messer in Friedls Brust.
Nein, ich will das doch nicht!

Ein widerwärtiges Bersten und Reißen fuhr durch die Luft.
Nur ein einziger Gedanke echote in Valentins Kopf.
Ich will das nicht. Oh Märtyrer, ich will das alles nicht. Wieso tue ich es dann?
Doch er stach nur wieder zu.
Und wieder.
Und wieder.
Das war nicht mehr Valentins Körper, er war wie eine Puppe, verheddert in ihren Fäden - oder hatte man zum ersten Mal in seinem Leben die Fäden durchtrennt?

Endlich entglitt seinen blutbeschmierten Fingern die Waffe und die Tränen strömten völlig ungebremst seine Wangen hinab.

"Verzeih mir", schluchzte Valentin und es schüttelte ihn. "Friedl, verzeih mir. Bitte verzeih mir."

Zitternd hob Friedl eine Hand an Valentins Wange und strich darüber.
"Mein süßes Schleiereulchen", hustete er und Blut quoll über seine Lippen. "Du hattest immer so schöne Augen."

"Friedl, bitte", wimmerte Valentin, da wanderte die Hand an seiner Wange tiefer - und schloss sich um seinen Hals. Sie drückten zu.

Die Augen des Magiers weiteten sich, Panik strömte durch seine Glieder und reflexartig wollte er nach Luft schnappen, doch da war nichts.
Nichts als klaffende Leere und das Verlangen nach Atem.
Ich will nicht sterben.

Er zerrte an Friedls Arm, doch der war hart wie Granit. Seine Fingerspitzen wurden taub, die Sicht flimmerte gefährlich...

Mit einem Mal war es dunkel.
Nicht wirklich dunkel, auch nicht schwarz, sondern einfach... leer.
Friedl war verschwunden, seine Hand war verschwunden, nur Valentin hing allein im Nichts.
Aber der Druck um seinen Hals war nicht gewichen, er wurde noch immer von unsichtbaren Mächten zerquetscht.

Valentin wollte schreien, aber kein Ton drang aus seiner Kehle.
Stattdessen waren es Stränge an Worten, die lautlos und weiß leuchtend über seine Lippen schwebten.

Sie waberten in der schwarzen Luft, dann legten sie sich um Valentins Hals fester als jede Schlinge.
Es waren seine eigenen Lügen und falschen Versprechungen.

"Ich schwöre untertänige Gehorsam, auf das ich gelobe, Seiner Majestät auf ewig treu zu dienen", hatte er gesprochen, vor Ernst Guilelmus und seinem Thron kniend, als der frisch gekrönte Kaiser Valentin in seine Dienste befohlen hatte.

"Ich lass dich nicht allein!", hatte der kleine Valentin damals seiner Mutter geschworen.
Wenig später hatte man sie lebendig verbrannt.

"Natürlich vertraue ich dir", hatte er Friedl damals gesagt, als sie abends zusammen im Bett lagen und Friedl seine Arme von hinten um ihn gelegt hatte.
Dabei nagte immer dieser Zweifel, dieser eine Gedanke an ihm.
Was, wenn er dich fallen lässt? Wenn er dich nicht mehr möchte? Wird er deine Hinrichtung unterschreiben?

Die Schlinge zog sich immer enger und unbarmherziger um ihn, bis sie ihn in die Höhe riss und langsam erdrosselte.
Hifllos zappelten seine Füße über dem Abgrund.
Seine eigenen Lügen, sie töteten ihn.
Sie waren sein Ende.
Er- Er-

Mit einem Mal warf es ihn zurück in die Realität.
Licht strömte in seine Augen und es roch nach Parfum, dann kippte er aus dem Sessel und landete mit dem Gesicht im Teppich.
Seine Glieder fühlten sich taub und unbeweglich an, dabei lechzte seine kratzende Kehle nach Wasser.
Hatte er geschrien?

Aus den Augenwinkel sah er die Überreste seiner Fesseln, deren durchtrennte Enden silbern glühend auf dem Boden lagen.
Seine eigene, panische Magie hatte sich durch das Adamium gequetscht und sie versengt. Die Befreiung kam deutlich zu spät.
Dann hörte er Schritte, direkt hinter ihm. Gefolgt von dem entfernten Rauschen Bloches Stimme.

Er verstand seine Worte nicht. Eigentlich wollte er ihn nicht einmal verstehen, doch eins blieb umso klarer:
Wut. Er verspürte eine unbändige Wut auf diesen Mann. Gemeinsam mit Scham und Abscheu vor sich selbst.
Seine Hand ballte sich zu einer Faust.
Am liebsten hätte er geschrien, stattdessen aber nahmen Bloches Worte in seinen Ohren Sinn an.

"- das ist also, was von so einem übrig bleibt. Kein Wunder, dass man die damals alle einfach so verbrennen konnte."

Valentin wusste nicht, woher dieser plötzliche Fetzen Kraft kam, doch er floss glühend heiß durch ihn.
Schwankend brachte er sich zurück auf die Füße.
Die ganze Welt drehte sich und blinkte, doch er biss seine Zähne zusammen und rammte seine Faust in Bloches Kiefer.

Zumindest war das der Plan gewesen, doch der General fing die schwache Attacke mitten in der Luft ab.
Seine Finger gruben sich in Valentins Arm und seine Lippen verzerrten sich zu einem Lächeln.
"Nana, wie unhöflich. Wo bleibt die Etikette?"

Im nächsten Moment verdrehte der Mitreaner Saphirs Arm und gab ihm einen Stoß.
Valentin krachte keuchend zu Boden.
Und Bloche? Der lachte scheppernd.

"Das ist er also, der mächtigste Magier seiner Zeit!", spottete er. "Welch erbärmlicher Anblick."

Es interessierte Valentin nicht.
Er ließ die Tränen ungehemmt in den Teppich tropfen.
In diesem Moment war er wirklich kein Geheimrat mehr, auch kein Baron von Silberstein, er war der kleine Junge, der sich fürchtete.
Und nur für einen kurzen, winzigen Moment wünschte er sich, die Welt in Flammen aufgehen zu lassen.
Es schien ihm, als würde er das Streichholz dafür halten.

Arondax und der Kaiser konnten in die Unterwelt fahren.
Sie hatten das Recht an seinem Leben verwirkt.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top