XVI. Du wirst ernten, was du säst

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Es wird einfach, hatte Vasily gesagt.
Geheimdienstmarschall Lissipow erstickt doch bereits so an seiner Hybris, dass er die Tür zu seiner Dienststube einfach aufgesperrt lässt, hatte Vasily gesagt.

Nun, scheinbar hatte auch sein Zarewitsch den Trunk der Hybris gekostet, denn statt einfach in das Herz der Geheimpolizei zu marschieren, hing Krabat nun zwölf Meter über dem Boden, gekrallt an die Stuckornamente des Fensters vor Lissipows Studierzimmer und bewegte seine Lippen in einem lautlosen Gebet, dass die zwei parlierenden Wachen  unter ihm ja nicht nach oben sahen.

Was ein erbärmlicher Tod das doch wäre, stellte er fest, während die kalte Luft des Spätwinters an seinen Haaren zerrte und die Nacht nahezu jedes Licht Rostograds erstickte.
Und es würde sein Tod, denn auch Vasilys Macht war begrenzt.
Er war nicht einer der Herren der Welt.
Nein, im Territorium der Geheimpolizei verkam er zu einem unbedeutenden Prinzling.

Aber was riskierte Krabat nicht für den Zarewitsch?
Was war ein Leben im Angesicht des Schicksals einer Nation?

Dabei hatte all das so harmlos angefangen.

Noch heute morgen waren sie auf der Suche nach Sidor Kusmins Spuren durch das Alte Archiv gestapft, umringt von deckenhohen Regalen und schweren Ledereinbänden, die wohl schon Zeugen von Jahrhunderten gewesen waren.
Nicht nur einmal wäre Krabat nahezu an den aufstobenden Staubwolken erstickt, trotzdem hätte seine Euphorie nicht größer sein können.

Vielleicht lag es daran, dass es in der Tundra und Verbannung -ein Relikt der Großen Ausmerzung, das Magier noch immer heimsuchte-weder Geld noch Nutzen für Bibliotheken, gar richtige Schulen, gegeben hatte, vielleicht war Krabat aber einfach nur ein hilfloser Romantiker.

Dies war wohl ein durchaus pöbelhaftes Empfinden, denn ihm direkt gegenüber klatschte Vasilys Gesicht stöhnend auf das aufgeschlagene Buch.

"Wieso habe ich eine Heerschar aus Dienern, wenn ich mir das antun muss?", klagte der Zarewitsch betont leidend. "Wenn sich das Aristokratie schimpft, kann man die auch sofort wieder abschaffen."

"Dann wären Sie dem Radikalinski Kusmin vielleicht nicht räumlich, dafür aber geistig näher", versuchte sich Krabat an einem Witz und scheiterte an seinem eigenen nervösen Kichern.

Nun, zumindest war sein Humor größer als die zaristische Bescheidenheit es je gewesen ist- was er so natürlich nie aussprechen würde.
Er durfte das nicht einmal denken.
Eher sollte er sich schämen, wenn er nicht zugenähte Lippen ersehnte.

Doch die Aussage wurde lediglich mit einem Lächeln quittiert, bevor Vasily wieder  fortfuhr, seine Blini zu zerrupfen.
Nachdem von dem Großvater seines Prinzen nicht mehr übrig geblieben war als Fetzen ähnlich dem armen Blini vor ihm, wäre das Konspirieren mit Kusmin, sei es auch nur der verzweifelte Versuch, einer Revolution präventiv entgegenzutreten, nahezu Hochverrat.
Der Vorstellung half nicht gerade, dass die rote Marmelade besagter Speise auf die Hände des Zarewitsch gesickert war.

"Ich glaube, wir gehen hier ganz falsch heran", murmelte er leise vor sich hin, als er sich die Konfitüre von den Fingern leckte und die nun beendete Liste zusammenrollte.
"Wenn du ein im ganzen Land gejagter Revolutionär wärst und gerade so entkommen, was wäre deine erste Angst?"

"Attentäter?"

Vasily brummte. "Ja, das auch. Und sonst?"

Irritiert zuckte er mit den Schultern.
Was war das nun wieder für ein Spielchen?
"Meine Genossen, schätze ich. Dass man sie finden könnte."

"Du bist auf der richtigen Spur. Andere Prämisse: Du willst eine Politik vertreten, die dir wahrscheinlich den Staat auf den Hals hetzt? Worum hast du Angst, außer dem eigenen Leben?

"Familie", wisperte Krabat leise und ihm ging ein Licht auf. "Er muss seinen Familiennamen geändert haben. Mindestens."
Doch dann wurde er von einem verwirrten Kopfschütteln erfasst.
"Aber wieso? In seinen Reden behauptet der doch immer, er hätte keine mehr. Alles Opfer des unterdrückerischen Systems."

Für einen Augenblick blitzte Schalk in Vasilys Augen auf und seine Mundwinkel zuckten in die Höhe.
"Mein Lieber, ich wusste ja gar nicht, dass du so vertraut mit Kusmins Botschaften bist."

Schamesröte erklomm in Windeseile seine Wangen und er stotterte noch hervor:"Also Sie wollten von mir ja, dass-dass ich die Karlisten- Als in deren Wohnungen waren ja die Pamphlete und-"

Er brach einfach ab, als der Zarewitsch aufkeimendes Lachen in seinen Ohren klirrte.

Holz ächzte und das Lachen verstummte sofort, als Vasily sich in seinem Rollstuhl auftsemmen wollte, um die nächste Akte über die Namenslisten hiesiger Waisenheime zu greifen, aber begleitet von seinem Stöhnen sofort zurück in das Polster sank. Beinahe wäre Krabat aufgesprungen, hätte den Zarewitsch gepackt und... und... irgendetwas gemacht, doch der hob nur abwehrend die Hand, als der Magier aufgesprungen war.

"Schlechter Tag heute", knirschte er bloß, die Zähne fest aufeinandergebissen.

"Soll ich nach dem Koschtschei schicken? Haben die Blutungen wieder angefangen?"
Er wusste - gerade er wusste - dass Vasily mehr als nur widerstandsfähig war, älter und vor allem erfahrener als er selbst. Jemand, der besser auf sich aufpassen und das Zitteraalbecken des zaristischen Hofs navigieren konnte als Krabat es wohl jemals könnte.
Und doch... Er biss sich auf die Unterlippe. Der einzige Grund, warum man sich überhaupt dazu hinabgelassen hatte, einem Magier die Uniform eines Gardisten anzuziehen, lag wohl in dem zerfetzten Körper seines Großvaters begründet. Sollte einer von Krabats Fehlern aber dazu führen, dass äußere Kräfte den Zarewitsch verletzten...Nun, das Schicksal des letzten Zaren wäre gnädig.

Vasily stieß nur ein Knurren aus, doch da schwenkte Krabat schon die Hand und ein Luftstoß fegte die nächste Akte vor sie.

Zensus Waisenheime, verkündeten die abblätternden Lettern.
Doch als er das Buch aufschlug, starrten ihn keine Namenstabellen an.
Eigentlich starrte ihn nichts an, denn keine einzige Seite zierte mehr das Buch, die nicht geschwärzt war.

Sie alle waren herausgerissen.

Prinz und Gardist tauschten einen schnellen Blick aus.
Es gab keine andere Organisation, die eine solche Dreistigkeit besaß außer dem Geheimdienst.
Wer sonst fürchtete sich so sehr vor der Macht der Informationen?

Und die einzige Möglichkeit, ihnen auf die Schliche zu kommen , brach jedes Verständnis von Gesetz.

Der Geheimdienst hatten gestohlen, was sie so dringend brauchten - nun war es Zeit, es zurückzustehlen.

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Jede Sekunde verkam zu einem Millenium, als die Wachen keinen Fleck von der Stelle wichen.
Ihre Gespräche  schepperte in seinen Ohren, doch in dem heulenden Wind konnte er kein einziges Wort entziffern.

Umso mehr aber brannte sich der  hin und her wippende Schein ihre Gaslaterne in seine Augen.

Unwillkürlich drückte er sich dichter gegen die Fassade.
In seinem kläglichen Versuch, sich hinter eine Säule zu klemmen, traf sein linker Fuß auf eine vereiste Fläche.

Seine Augen weiteten sich vor Schock.

Haltlos glitt er vom Alabaster, Krabat strauchelte, grub seine Finger in die Ornamente, doch es war bereits zu spät.
Sein linker Stiefel donnerte gegen eine Regenrinne, Schmerz zuckte durch seine Glieder und ein metallenes Scheppern hallte durch die Nacht.

"Heh, hast du das gehört?"
Diesmal drang der Ruf einer der Wachen gestochen scharf an sein Ohr.

Panik schoss durch seine Glieder.

Immer weiter kroch der Lampenschein nach oben, direkt auf ihn zu und-

Krabat handelte instinktiv.
Flehentlich schnippte er mit den Fingern, da schwoll ein brüllender Windstoß an und fegte die Lampe aus den Händen der Soldaten.

Sie krachte auf das Pflaster und kullerte über den Boden, bis sie zischend im Schnee erlosch.

"Bei den Titten der Narecnitsy!", hörte er noch eine Wache fluchen, da hatte Krabat sich bereits dem Fenster zugewandt.

Ihm blieb nicht viel Zeit.

Mit zittrigen Fingern nestelte er eine Feldflasche aus seinem Mantel und träufelte etwas Wasser auf die Metallfassung des Fensters.
Noch während die ersten Tropfen abperlten, ließen seine Hände einen Zephyr über das Eisen gleiten.

Es war Korrosion, beschleunigt durch Magie ein Prozess von wenigen, polternden Herzschlägen.
Wasser, Sauerstoff, Zauberei - sie zerfraßen das Metall regelrecht, bis die Scharniere kaum mehr waren als rostige Klumpen. Vollkommen unbrauchbar und zugleich Krabats Schlüssel

Der Sturmbote zögerte nicht. Er stemmte seine Hände gegen das Fenster, es knackte leicht und der Rahmen schwang auf.
Innerhalb eines Sekundenbruchteils schlüpfte er in die noch immer warme Schreibstube.

Mit einem letzten Handgriff schloss er das Fenster  und duckte sich.

Keine Sekunde zu spät, denn kaum kauerte er sich gegen die Wand, blitzte wieder das Licht der Gaslaterne auf.
Wie ein Gespenst kroch es durch den Raum und tauchte die gegenüberliegende Wand in Gold, dann verschlang ihn wieder Dunkelheit.

Tief unter sich hörte er noch unverständliches Murren, sofort gefolgt von  dumpfe Schritten, die immer leiser wurden, bis sie schließlich ganz verstummten.

Automatisch entwich ihm ein schweres Seufzen.

Die Narecnitsy - oder Moiren, wie ein großer Teil Marlars die Schicksallschwestern interpretierte-  waren ihm heute scheinbar mehr als gnädig, denn noch immer brannte eine einzige Kerze.

Zwar war sie beinahe niedergebrannt und hatte den Schreibtisch bereits mit Wachs überzogen, trotzdem spendete sie noch schummriges Licht, sodass er mehr als nur vage Schemen erkennen konnte- und entlarvte  dabei reinste Dekadenz.

Oh die Lissipows.
Obwohl es sich hier um eine Amtsstube handelte, quoll der Reichtum der Adelsfamilie aus noch der kleinsten Ritze.
Sei es die goldverzierte Wandvertäfelung oder die Perlmuttintarsien auf der ein traditionelles Volksmärchen - ein Prinz, der mit der geretteten Prinzessin auf einem Wolf ritt- abgebildet war.
Sie hatten über Jahrhunderte gewaltige Reichtümer angehäuft. Manch einer munkelte sogar, die Zarendynastie Kaminkow sähe neben ihnen aus wie räudige Hausierer, obwohl der jüngster Lissipow- Spross als unverbesserlicher Spieler galt.

Vorsichtig richtete sich Krabat auf und tappte über den polierten Holzboden, um einen Blick auf den Schreibtisch erhaschen zu können.
Doch nichts von Bedeutung.
Lediglich Tinte, Feder und  eine Korrespondenz  in krakeliger Schrift.
Sie war signiert von dem Obersten Presbyter.
Scheinbar handelte es sich um einen Beschwerdenrief über den Koschtschei, den "falschen Heiligen", soweit er das entziffern konnte.

Doch das war jetzt unbedeutend.

Er suchte weiter, indem er die Aktenregale abschritt, den Boden nach Hohlräumen abklopfte und sogar den Papiermüll durchwühlte.
Dabei stellte ihm auch nur das leichteste Knistern alle Nackenhaare auf.

Dann - endlich-  fiel ihm der regelrechte Goldschatz in die Hände.
An der Unterseite des Schreibtischs fand er ein Geheimfach, das sich mit einem ähnlichen Trick wie das Fenster öffnen ließ und prompt flatterte eine handvoll Papiere in seine Finger.

Selbst im schummrigen Licht erkannte er, dass es die selbe Druckschrift war, die auch auf dem Zensusbericht geprangt hatte.

Auf leisen Zehen schlich er zu der Kerze, um die Buchstaben ausmachen zu können.

Swesda-Sirotstvo, verkündeten sie den Namen des Waisenheims und augenblicklich rann ihm ein kalter Schauder über den Rücken.

Sein Blick glitt weiter hinab und erblickte eine Liste der ehemaligen Bewohner.

Anna Iwanowna Popowa.
Lawrenti Wissorionowitsch Menkow.
Josip  Djordjevic.

Und schließlich der unscheinbare, so unbedeutende Name Sidor Smirnow.
Ein Junge, der vor knapp dreißig Jahren fortgelaufen war.

Wie Blei sickerten Vasilys Worte über den gefälschten Namen durch seine Glieder.
War das etwa der, den sie suchten? Der, der-

Er hatte nicht einmal Zeit, den Gedanken zum Ende zu führen.

Ein ohrenbetäubendes  Knarzen wanderte durch den Raum.
Krabats Blick wirbelte herum.
Der  Türknauf hatte sich bedrohlich gesenkt und sogleich klaffte ein erster Lichtstrahl in die Schatten, während sich die Tür aufschob wie das Maul einer ausgehungerten Bestie.

Instinktiv warf er sich unter den Schreibtisch
Er klebte regelrecht an der Holzverkleidung, als  Schritte über das Parkett hallten.

Krabat erstarrte.

War er zu laut gewesen? Hatte man seinen Schatten durchs Gebäude huschen gesehen? War er aufgeflogen?
Er meinte schon, die ganze Welt müsste spätestens jetzt das Donnern seines Herzens hören.

Die Schritte wurden lauter und er sah einen Schatten, wie er immer weiter über den Boden kroch.
Dann schob sich eine Silhouette in sein Sichtfeld.
Scheinbar war es der Körper einer Frau, gewickelt in die schwarze Seide eines maßgeschneiderten Anzugs.
Krabat konnte schwören, er müsste nur seine Hand ausstrecken, um ihre perlmuttenen Manschettenknöpfe zu berühren.
Doch innerhalb eines Wimpernschlags war sie aus seinem Sichtfeld verschwunden.

Krabat hielt die Luft an.
Stille.
War sie weg?
Jetzt, wo er alles hatte, müsste er einfach nur wieder aus dem Fenster-

Im nächsten Moment beugte sich ein bleiches Gesicht in sein Sichtfeld, umrahnt von goldenen Locken und geziert von einem manischen Grinsen.

"Hallo, kleiner Volshebnik", flötete sie und Krabat musste alle Kräfte aufwenden, nicht einen spitzen Schrei auszustoßen.

"Was- Wie-", keuchte er nur, aber aus ihrer Kehle sprudelte nur ein glucksendes Lachen.

Spätestens da erkannte er sie: Fürstin Xenija Felixowna Lissipowa, die Erbin des größten Vermögens des Landes.
Und die Frau, die scheinbar gerade sein Leben in ihrer Hand hielt.

"Na sieh mal einer an", spöttelte sie. "Wer hätte gedacht, dass das Herrchen sein Schoßhündchen direkt ins Verderben schickt?"

"Er ist nicht-", wollte er protestierten, aber die Worte erstarben auf seinen Lippen. Stattdessen würgte er hervor:
"Was- Was wollen Sie hier?"

"Sind Sie sich sicher, dass Sie derjenige sind, der diese Frage stellen sollte?",säuselte sie, packte ihn am Kragen und zog ihn einfach hoch.
Krabats Glieder gehorchten vollkommen willenslos.
"Aber man wird mir wohl kaum vorwerfen können, mich in dem Arbeitszimmer meines Onkels herumzutreiben, nicht?"

"In dieser Stadt sagen Verwandtschaftsverhältnisse nichts über Loyalität aus."

Ihre Augenbrauen zuckten in die Höhe.
"Ach wirklich? Was denken Sie, wen von uns beiden werden die Wachen verhaften, wenn ich sie jetzt hereinrufe?"

Krabats Herz setzte für einen Schlag aus.

"Nein, bitte!", flehte er und ein Ausdruck der reinen Zufriedenheit breitete sich auf Xenijas Gesicht aus, als sie ihre Beute so betrachtete.
Doch statt die Wachen zu rufen, beugte sie sich nur zu ihm herab und murmelte:
"Soso. Aber wir wollen ja nicht so sein, nicht?"

Erst jetzt bekam er die Gelegenheit, sie wirklich wahrzunehmen- außerhalb des Schleiers rasender Panik, auch wenn er noch immer am ganzen Leib schlotterte.

Ihre Aufmachung mochte zwar edel sein, doch mit dem ausgefallenen Schnitt passte sie wohl eher in eine Varieté der St. Ilja-Prospekt. Wo sie dem wilden Klatsch des Hofes zufolge die Nächte mit Alkohol und Papirossi versoff - und wussten die drei was sie noch in den Rachen bekam.
Keinesfalls Dinge, die für eine Tochter des alten Adels sprachen.
Vielleicht war das der entscheidende Grund gewesen, wieso ihre und Vasilys arrangierte Verlobung vor einem Jahr aufgelöst worden war.

Und als jemand, der allzu oft mit den Schatten der goldenen Säle und dem Schein er Lüster hatte verschwinden müssen, hatte der Gardist mehr von diesen Ondits aufgeschnappt, als ihm lieb war.

Leicht legte  die Fürstin ihren Kopf schief.
"Es war ja ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis unser Prinzlein Sie hierherschickt."

Krabat wurde noch bleicher um die Nase.
"Woher- Woher wissen Sie-"

Sie zwinkerte ihm aus den mit Kohle umrandeten  Augen verschwörerisch zu.
"Es liegt einfach in der Familie, zu wissen, wo sich der Abschaum verkriecht."

Er musste schwer schlucken, aber sie fuhr einfach fort, während sie ein Stück Papier aus einer ihrer Taschen zog.
"Sie können Ihren Götzen heute dankbar sein, dass ich Sie brauche, um den Boten für etwas zu spielen. Für etwas, das vor ihrem Herrchen geheimgehalten wurde, weil der Hofstaat seinen Widerstand dagegen fürchtet. Mimt Vasja denn nicht in letzter Zeit den Philanthropen?"

Unverwandt drückte sie ihm den Zettel in die Hand - und Krabats Augen weiteten sich.

"Dritte Mobilmachung", las er vor, runzelte aber prompt die Stirn. "Aber die letzte war doch erst vor einem halben Jahr."

Lissipowa schnaubte.
"Jemand wie Sie kann lesen?"

"Ja-ja! Wieso sollte ich es nicht können?", schnappte  zurück.
Trotzdem wurde ihm mit jeder Silbe und jedem Wort der Singsang seines Akzents und sein spitzes Sremenikengesicht schmerzlich bewusst.

"Wie auch immer", verwarf sie eine Worte bloß und tippte auf den Zettel in seinen Händen. "Anscheinend haben wir zu viel Kanonenfutter verpulvert. Wir haben keine Soldaten mehr. Also wollen Teile des Adels einfach noch mehr einziehen."

"Noch mehr?", echote er. "Aber die meisten jungen Männer und Frauen sind doch schon eingezogen! Und die, die es nicht sind, arbeiten in der Kriegsindustrie."

"Dann wird man eben mehr Arbeiter einziehen und die, die übrig bleiben, wegen der hohen Kriegskosten für weniger Lohn und mehr Stunden schuften lassen."

Ihm wurde schlagartig übel.
Er erinnerte sich an die elendigen Zustände des Proletenmolochs.
Aber so eine Mobilmachung... Wenn der kaum existente Lohn noch weiter schrumpfte und ein Großteil der Familienmitglieder irgendwo im Dreck verreckte, wie sollte man da noch überleben?
Es würde die Menschen über die Grenze des Ertragbaren treiben.

"Das ist doch absurd", murmelte er, doch Xenijas ernster Blick und die Druckertinte vor ihm schrien das Gegenteil.
Und hatte nicht Herzogin Karina Zhaba  noch letztens gesagt Pfui! Warum sind diese Ratten nur so unpatriotisch?

Er musste das schnellstmöglich Vasily zeigen.

Aber warum half sie ihnen? Wieso kümmerte all das dieses... Sinnbild aristokratischer Arroganz?

"Danke", hauchte er, aber sie schnaubte nur.

"Kein Dank ist angebracht", meinte sie. "Und nun husch husch, oder ich überlege es mir noch anders, die Wachen zu rufen. Du beginnst, mich zu langweilen."

Sie schmunzelte verschlagen und stopfte eine Papirossa in eine goldene Zigarettenspitze.
Lissipowa mochte sich zwar  jeder gängigen Modevorstellung widersetzten, aber die Art, wie sich ihre Lippen zu diesem abschätzigen Lächeln verzogen, unterschied sich nicht im Geringsten von all den anderen Hofdamen.

Aber Krabat ließ sich das nicht zweimal sagen.
In Windeseile hatte er sich aus dem Fenster geschwungen. Seine Beine schlugen auf dem Pflaster auf und er eilte über den Hof in den Palast.
Jeder Schritt war viel zu laut.

Es schienen nur Wimpernschläge zu vergehen, bis er keuchend und bebend in Vasilys Gemächer platzte.

Der Zarewitsch saß auf seinem Lieblingssessel vor dem Kamin mit einem Buch in der Hand und blickte nur überrascht auf, als sein Magier so in den Raum stürmte.

Oft hatte sich Krabat bereits vor den Füßen des Sessels zusammengerollt und das warme Prickeln der Flammen auf seinen Wangen genossen, aber jetzt blieb kein Nerv für so etwas.

"Krabat, was-", setzte Vasily an, da pfefferte ihm der Sturmbote nur die zwei Papiere auf den Schoß.

Wortlos begann der Zarewitsch die Texte zu studieren.
Seine Miene verfinsterte sich und er presste die Lippen fest aufeinander, bevor er begann zu sprechen:
"Wir waren langsam, unvorsichtig. Das können wir uns jetzt nicht mehr leisten."

"Sie denken, es eskaliert? So wie damals in Iurikow?"

"Schlimmer", erwiderte Vasily seufzend. "Aber nur, wenn wir es zulassen. Iurikow war eine Stadt, das hier betrifft das ganze Land. Eine neue Mobilmachung? Das Land kann den Preis nicht zahlen -außer mit unserem Blut."

"Es muss doch einen Ausweg geben!"

"Den gibt es immer", entgegnete der Zarewitsch prompt. "Das Problem des Hofes ist nur, dass Sie einen elementaren Grundsatz übersehen: Liberalisierung mindert nicht die Macht, sondern das Beharren auf veraltete Traditionen tut es. Vermeintliche Konzessionen dem Volk gegenüber bringen der Herrschaft mehr Stabilität, als die Durchsetzung der Überlegenheit des Adels."

"Und jetzt?"

"Ich versuche gegen die Mobilmachung bei Mutter zu protestieren, was sonst?"
Er kaute auf der Unterlippe.
"Wir müssen schnell handeln. Wenn ich vielleicht das schlimmste abwenden könnte..." Seine Worte klangen hohl, ohne Überzeugung.
"Aber uns läuft jedoch die Zeit davon und-"

"Ich gehe", die Zusage flog aus Krabats Mund. Ohne wirklich nachzudenken, mehr instinktiv als alles andere. "Sie besuchen Ihre Majestät, währenddessen kümmere ich mich um Kusmin."

Er musste dem Prinzen nicht ins Gesicht blicken, um seine erhobenen Brauen zu sehen.
"Bist du dir sicher? Dass du das schaffst, meine ich?"

Nein. Doch trotz den bebenden Fingern meinte er:
"Was sollen wir sonst tun? Der Welt beim Brennen zusehen?"

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