XIV. Neu Berun

"Uns sind acht Societates der Magie bekannt. Über Geist zu Blut, Wasser zu Feuer-aber das ist gleichgültig. Ihre Intention ist gleichgültig. Unterschiede verkommen zu Belanglosigkeiten unter der einen, wahren Erkenntnis:
Jede Form von Magie ist verdorben und Häresie. Gleichsam wer oder warum sie wirkt."
-Ihre Hochwürden G. Garthal, Hierophantin der Moiren

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Die Front bei Valon und die Hauptstadt trennten gerade einmal hundert Kilometer wie der Rabe flog.
Bedachte man Pausen zum Nachfüllen von Kohle, Zwischenstopps für weitere Passagiere und Schäden der Schienen, so sollte es keine drei Stunden dauern, um die Distanz zu überwinden.
Aber jede einzelne Minute zog sich zu einem Millennium.
In jedem anderen Moment hätte sie das wohl bloß auf die Anwesenheit des Oberst schieben können, doch dass Kerinsk nicht das schlimmste an ihrer Situation war, erklärte so ziemlich ihr düsteres Schicksal.

Das alles konnte sie sich jedoch selbst zuschreiben. Sie sollte lieber dankbar sein. Ihr eigenes Unleben hatte sie vielleicht verwirkt und verloren, aber dafür ihre ganze Einheit vor einem Gemetzel bewahrt.
Es war besser als in ihrem ersten Leben. Das sollte genug sein.

Aber das war es nicht.

Cäcilie starrte Kerinsk wortlos an - egal wie viele Worte ihr auch auf der Zunge liegen mochten.
Anklagen, Versicherungen, Gratulation für das Gelingen - all das erstarb and wurde zum Tabu im Angesicht der zwei Militärgendarmen, die sie in diesen Abteil gepfercht hatten.
Jeder von ihnen war mit einer Pistole bewaffnet, die Blicke starr und kalt.
Somit krampften sich ihre Finger nur um den hastig gepackten Koffer und sie wandte ihren Blick aus dem Fenster.

Die Ausläufe des Paßral-Gebirges waren ausgetauscht mit den Wäldern und Hochebenen des Nordens, bis sie selbst den ersten der beiden Zwillingsflüsse in der Ferne glitzern sah, die Neu Berun umschlossen wie eine Zange.
Bei der Bewegung klirrten die Ketten ihrer Handschellen und sie presste die Zähne weiterhin stur aufeinander, während das Adamium ihre Knöchel zu schmoren schien.
Doch nichts half gegen das Hämmern in ihrem Schädel und dem Zerren an der Magie in ihrem Inneren, die zu einem unruhigen Flattern verkommen war.
Ihre Finger zuckten vor Pein.
Etwas anderes.
Sie musste sich dringend auf etwas anderes konzentrieren.

Cäcilies Augen blieben an einem beschaulichen Städtchen hängen, an dessen Bahnhof sich dutzende Menschen um ein Geschäft drängten.
Die Leiber schubsten, die Münder pöbelten und Hände streckten Lebensmittelmarken in die Höhe. Die meisten waren Alte und magere Jugendliche, allein hin und wieder sah man junge Männer und Frauen, doch entweder stützten sie sich auf Krücken oder trugen Uniform.
Da trat eine Greisin aus dem Markt, drehte ein klappriges Schild um und sofort verstreute sich die Menge wieder mit hängenden Köpfen und Schultern.
Bevor ihr Zug vorbeigerattert und den Ort in Dampf begraben hatte, las sie darauf noch AUSVERKAUFT.

Bestenfalls würde sie genau so enden, wenn dieses Spektakel vorbei war.
Eine Zivilistin, die in den Munitionsfabriken schuftete und Projektile verzauberte.
Oder man ließ ihr doch das Offizierspatent, degradierte sie zum Leutnant und versetzte sie an einen Frontabschnitt, wo sie definitiv sterben würde. Nach Marondais zum Beispiel.
Sofort verzogen sich ihre Lippen und Schmerz pulsierte durch ihre malträtierte Wange.
Wenn man sie jedoch wirklich tot sehen wollte, konnte man sie gleich vor dem Militättribunal zum Tode verurteilen. Das wäre doch mal gefundenes Fressen für die ausgehungerte Meute.
Seht, eine Magierin, die Land und Leute verraten hat! Die weder Gehorsam noch Treue den Obrigen gegenüber kennt.

Aber konnte eine Tote sterben?
Sollte sie in der Armee bleiben, würde sie vor ein Erschießungskommando kommen. Sollte man sie aber unehrenhaft entlassen, würde man sie hängen. Nicht durch den nahezu gnädigen Genickbruch, sondern Strangulation.
Sie aber brauchte weder Luft noch Essen. Würde sie also einfach dort baumeln, bis jemand gnädig genug war, sie herabzuschneiden?

Der morbide Gedanke ließ ein Glucksen aus ihrer Kehle sprudeln und stumm hoben sich Kerinsk Augenbrauen bei ihrer Reaktion. Sie zuckte nur entschuldigend mit den Schultern - dann räusperte sich einer der Gendarmen betont.
Bevor jemand diesen Hauch der Kommunikation hätte rügen können, schnaufte die Lokomotive hinein in ein Spinnennetz aus Häusern und Straßen. Backsteingebäude hoch wie Kathedralen warfen einen Schatten auf sie herab und schon in wenigen Minuten glänzte die Glaskuppel des Beruner Hauptbahnhof, gleich im Südwesten der Hauptstadt.

Hunderte Rekruten tummelten sich neben den Gleisen. Mit ihren grauen Uniformen wirkten sie wie ein wogendes Meer im Sturm. Als dessen Gischt drückten sich die weißen Hauben und Schürzen des Sanitätspersonals durch die Wellen, die sich mit Tragen und Koffern bewaffnet zu den hinteren Waggons voller Verwundeter vorkämpften. Einige von ihnen hatten das aufgestickte rote Herz der Magier des Blutes an ihre Ärmel genäht. Zilli fühlte das warme Ausstrahlen ihrer Magie selbst noch durch die Scheiben pochen. Sehnsüchtig drückte sie eine Hand gegen das Glas.

Aber die Gendarmen ließen sie nicht aussteigen.
Die kleine Gruppe wartete noch mehrere zum Zerreißen gespannte Minuten, bevor die Frau zu ihrer Linken aufsprang, ihre Fingernägel in Zillis Arm bohrte und sie auf sie Beine zog.
Ihre Schritte hämmerten im zackigen Stackato durch die leergefegten Gänge und ließen Cäcilie stolpern, bis sie beinahe Schwindel und der taube Schenkel von den Füßen rissen.

Knirschend öffneten sich die Türen und abgestandene Luft schlug ihnen entgegen.
Auf der anderen Seite erhaschte sie einen Blick auf eine Lok, deren Räder sich ratternd und immer schneller in Bewegung setzten, bis sie aus den Hallen schoss und in das aufblühende Abendrot entfloh.
Doch gleichzeitig trug sie hunderte Seelen in den Abgrund der Front.

Als ihr Blick weiter dem nun menschenleeren Bahnhof abtastete, gefror sie auf der Stelle.

Zwei schwarze Wagen mit verhangenen Fenstern warteten am Rand - und sofort verknotete sich ihr Magen.

Ihr blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken. Erbarmungslos stachen die Nägel in ihr Fleisch, die Gendarmin wollte sie weiter treiben, doch sie stemmte ihre Füße stur in den Boden.

"Wohin bringen Sie uns?", postulierte sie zu wissen und streckte das Kreuz durch.

"Weiter!", kommandierte die Gendarmin. "Aber zackig!"

"Und wenn nicht? Was wollen Sie dann tun, mich etwa festnehmen? Oh nein, das würde ich niemals ertragen!"

Warnend stieß die blonde Frau ein Knurren aus.
"Früher hat man Magiern noch die Lippen zugenäht!"

Und vor der Großen Ausmerzung haben Magier lästige Gören wie dich in Türme gesperrt. Mittlerweile verstehe ich, warum, ergänzte sie gedanklich, schluckte die Worte aber herunter, da sie nicht erfahren wollte, ob totes Fleisch und Projektile gut zusammenpassten.
Stattdessen kniff sie nur die Augen zusammen und schwieg.

"Verdammte Juffer", spuckte ihr die Gendarmin ins Gesicht und blickte hilfesuchend nach ihrem Kameraden Ausschau. Der war aber zu sehr mit einem gewissen Oberst beschäftigt, der wiederum das einzig richtige tat: Dem Gendarmen vors Schienbein treten. Doch nur wenige Augenblicke später wurde ein krakeelender Kerinsk aber schon in den Wagen gezerrt und Zilli bemerkte, wie die Blondine... zitterte.
Kurzzeitig schlich sich der Gedanke in ihren Kopf, die Frau zu überwältigen, ihr die Schlüssel abzuknöpfen und den Massen der Hautptstadt zu verschwinden.
Aber das hieße auch, ihr Schicksal vollkommen zu besiegeln und ihr restliches Leben als Gejagte zu verbringen. Und zumindest wollte sie das Gesicht des Scharfrichters sehen, wenn er erfuhr, dass ihre Weiterexistenz sein Kündigungsgrund sein würde. Und der seines Nachfolgers.
Also zog sie nur ihre Brauen hoch.
"Wohin?"

Die Gendarmin knurrte, nur um zu entgegenen:"Ihn bringt man nach Kalardin in Festungshaft."

"Ihn?" Ihre Pupillen weiteten sich in Überraschung. "Warum nur Ihn?"

Sie bekam keine Antwort. Stattdessen riss man an der Kette der Fesseln und keuchend schleuderte die Bewegung ihr krankes Bein herum. Der dreckige Boden schoss näher, dann katapultierte sie ein Stoß in das Polster des Wagensitzes.
Noch immer schwirrte ihr Schädel und Taubheit ließ ihren Schenkel kribbeln, da ließ ein Fahrer, der hinter schwarzem Mantel und Melone verschwamm, den Motor aufheulen.
In weniger als einer Woche hatte sie bereits die modernste bekannte Technik zweimal nicht nur zu sehen, sondern auch mit jedem Röhren und jeder Erschütterung zu fühlen bekommen.
Aber selbst das war kein Vergleich zu der Metropole, durch die der Wagen wie ein schwarzer Pfeil jagte.
Das gewaltige Areal des Lustgarten mit seinen Marmorsäulen und Brunnen, Teichen und gestutzten Büschen verschwamm in grünen und weißen Schlieren.
Es war eine Akkumulation an Pracht, die sich nahtlos an die Herrenhäuser und Villen anfügte, die rechts und links aus dem Pflastersteine sprossen.
Genau das jedoch peitschte ihr einen eisigen Schauder über die Arme.

Denn mit jedem Zentimeter nahm die Dekadenz zu, während die rußgeschwärzten Fassaden der Hecknischen Familienkasernen am Horizont verschwanden und selbst die Fabriken nur noch in weiter Ferne Rauch in den Himmel spuckten wie Drachen, die aus ihren Höhlen krochen.
Backstein wurde abgelöst von Sandstein. Sandstein wurde abgelöst von Marmor.

Keine halbe Stunde später polterten sie durch die alte Stadtmauer hinein in das Zentrum der Macht.
Der Kristallsee glitzerte im glühenden Feuerball der untergehenden Sonne, in deren Schein sich Schwarz die Silhouette des Beruner Schlosses abhoben.

Dann kam das Automobil zum Halt.

Man ließ ihr keine Zeit, sich weiter umzusehen. Die Gendarmin packte sie am Arm und sie marschierten durch die Pforten eines ... Eines was eigentlich? Stadtpalais? Grand Hotel?
Licht von Lüster blendete sie, Blattgold verzierte Seidentapeten und Diwane flankierten die Säulen des Vestibül, aber sofort zerrte man sie eine Wendeltreppe hinauf, bevor sich die berauschenden Eindrücke zu einem Bild zusammensetzen konnten.

Das schwere Scheppern zweier weiterer Soldaten verfolgte sie bei jedem Schritt.

Kaum nahm sie den langen Korridor mit den hohen Decken und verspielten Malereien war, da knarzte eine weitere Tür auf und ein Schlag in die Seite brachte sie taumelnd über die Schwelle.

Holzdielen knarzten unter ihren Sohlen, dann versanken die Füße in einem Teppich und noch während sich ihr Sichtfeld in einem Kaleidoskop aus Farben auflöste, ratterte die Stimme der Gendarmin:"Im Namen der kaiserlich-bruktischen, ehemals königlich-teutischen, Militärgendarmerie, stehen Sie unter Hausarrest, bis der Generalstab über Ihr weiteres Schicksal entscheidet. Weder dürfen Sie den Raum durch diese Tür verlassen, noch mit irgendjemand der Angestellten ein Wort wechseln. So will es das Gesetz, verstanden?"

Weder nahm sie die Frage wirklich war, noch, wie sie mechanisch nickte oder ihre Fesseln mit einem Klicken geöffnet wurden, bevor die Tür zurück in die Angeln knallte und sie sich auf einen der Sessel setzte.

Obwohl setzen ein äußerst blumige Euphemisms für Ihren Zustand der absoluten Entgeisterung, Verwirrung und Fassungslosigkeit war, während das Wort "Generalstab" in ihren Ohren klingelte wie das Donnern einer ganzen Artilleriebatterie.
Somit stolperte sie nur erst einige Schritte zurück und kollabierte unter der Last dieser elf Buchstaben, als wären über ihr die Ruinen des alten Imperium Vermaryum zusammengebrochen.

Es gab genau einen Generalstab. Einen, der die ganze Armee lenkte, da der Kaiser offiziell zwar der oberste Heerführer war, aber noch lange kein Genie der Logistik und Taktik. Dazu brauchte es mehr als eine Person.
Somit war also klar, wo die wirkliche Macht in diesem Krieg lag - und genau von dort hing ihr Leben am seidenen Faden herab.
Unter ihr aber klaffte der Abgrund.

Für einige Minuten saß sie einfach da und starrte auf die gegenüberliegende Wand.
Erst langsam taute sie aus ihrer Starre auf und begann, ihre Umgebung überhaupt erst wahrzunehmen.
Mit der Vermutung, in irgendeinem Hotel eingeschlossen worden zu sein, schien sich zumindest auf den ersten Blick bestätigen zu lassen - dazu noch eins im Zentrum der Stadt.
Die Tapeten glänzten, die Schränke waren poliert, die Bettdecke sah aus, als wäre sie mit Daunen und nicht mit Stroh oder Wolle gefüllt, ja wahrscheinlich zweigte die Tür zu ihrer linken in ein Badezimmer mit fließend warmen Wasser ab.

Und beinahe schon ließ das Bücherregal neben ihr ihre Mundwinkel in die Höhe zucken.
Das unheimlich hohe Niveau der bruktischen Oberschicht spiegelte sich in eloquent formulierten Titeln wie "Gefangen in den Fängen der Leidenschaft", direkt daneben das mindestens ebenso anspruchsvolle "Flammen der Lust: Geisterhafte Ekstase".
Schnell wanderte ihr Blick höher, wo sie den feuchten Traum eines jeden gebildeten Großbürgers sah. Die Epen und Dramen ihrer Nationalautorin Amalie Goeller, Ravenna oder die Lyrik des herzoglich-cheruskischen Leander von Aramys.
Aber es waren Lücken in dieser Spalte des Regals.
Cäcilie hatte schon eine ziemlich genaue Ahnung, wer da vorher wohl gestanden haben musste.
Zu den bedeutendsten Autoren ihrer Zeit gehörten zweifelsfrei Aljona Livanowa oder Basil Moraux - aber wer wollte in diesen Tagen noch morokewische und mitreanischen Schriftsteller in der Privatbibliothek zur Schau stellen? Da las man ja eher noch die politisch nahezu ketzerischen Schriften des Wirtschaftsphilosophen Max Karl. In Calieux waren Goeller und von Aramys wohl gerade auch nicht mehr die Themen der literarischen Salons, ausgenommen, man zerriss ihre Literatur natürlich metaphorisch oder praktisch.

Der Gedanke ließ sie die Lippen verziehen und innerlich sofort aus dem Amüsement zurückzucken.

Sie hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wie jetzt mit Kerinsk verfahren würde.
Von Hašek ganz zu schweigen.
Als Tschetik und vollblütiger Magier... Sie schluckte.
Wenigstens stand Festungshaft im Ruf, für Ehrenhäftlinge reserviert zu sein. Duellanten, politische Gegner, besonders berühmte Karlisten, Offiziere - da konnte man die Haftgründe noch als Kavaliersdelikte abstempeln.

Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl herum, sprang auf und tigerte rastlos auf und ab, bis sie der Schmerz im Bein zum Sitzen zwang.
Ihren Stock hatte sie natürlich auch nicht mehr.
Stattdessen nur das Gewissen, dass sich die allerdurchlauchtigsten Damen und Herren Generale sich über ihre Zukunft auslassen würden.
Aber warum sollten die auch nur eine Sekunde auf ihr Dasein verschwenden? Bruktien hatte ein Millionenheer.

Zwar war ihre Kampagne - wohl eher dieses Scharmützel- erfolgreich, die Taktik vielleicht ein Affront an jegliche Kadavergehrosam, aber... War die Kriegslage wirklich so schlecht, dass dieser winzige Erfolg, ein wortwörtlich er Tropfen auf dem heißen Stein, Beachtung bekam?

Sofort erinnerte sie sich an das, was Kerinsk über den aussichtslosen Kampf der Rattenbrigade bei Marondais erzählt hatte.
Übelkeit schwoll in ihr an und drückte gegen ihre Magengrube.
Nein, bestimmt lag es an etwas anderem. Irgendetwas war wohl schiefgelaufen und sie war in die Vorrunde zur Auswahl eines perfekten Sündenbockes gelandet.

Zögernd warf sie einen Blick aus dem Fenster.
Hinter den Zinnen, Stuck und makellosen Gemäuern sah sie die letzte Glut der untergehenden Sonne.
Allein angenommen, ihr Handeln wäre wirklich ein Funken in der Dunkelheit, zumindest an der Saint-Mitre Front, dann würde dass doch sicherlich verbreitet werden? Zeitungen? Theatrophon? Sie müssten nicht einmal ihren Namen oder Magie erwähnen. Zumindest würde es sehr schnell sehr verdächtig werden, würden nur noch Erfolge aus Morokew gemeldet - das verriet auch sehr viel über den Zustand anderer Fronten.
Ihre Aktion wäre da ein Ausweg... Um das jedoch zu überprüfen, müsste sie auf diese Medien zurückgreifen und ihre momentane Situation gab das nicht her.
Immerhin hatte die Gendarmin deutlich gemacht, dass kaum etwas durch die Tür und erst rechts nicht herauskommen würde.

Zilli musste automatisch grinsen.
Denn sie hatte nur die Tür erwähnt - nicht aber das Fenster.

Immerhin würde sie hier nicht tatenlos zusehen, wie über ihr Schicksal entschieden wurde. Die Konsequenzen für ihr Handeln in Valon zu akzeptieren hieß noch lange nicht, ihr eigenes Leben sinnlos wegzuwerfen. Vielleicht war sie auch einfach barmherzig genug, nicht die Karriere des Scharfrichters zerstören zu wollen.

Zumindest redete sie sich das ein - herausfinden, ob sie einen zweiten Tod wirklich überleben konnte, wollte sie nicht.
In Bruktien war ein sozialer sowieso Tod schlimmer als der wirkliche. Mittlerweile konnte sie das aus eigener Hand bestätigen. Weil nichts war schlimmer als Verrat und unehrenhaftes Handeln - und sie würde nicht zulassen, dass man ihren Namen sowie den ihrer Familie unter solchen falschen Anschuldigungen beschmutzte.
Damnatio Memoriae - eine Strafe, die über den Tod hinausging.
Eigentlich passend.

Sie zerrte ihren grauen Interimsrock aus dem Koffer, streifte ihn sich über und trat ans Fenster.
Wenn sie handeln wollte, brauchte sie Informationen, in welcher Lage sie sich überhaupt befand.
Und wem würde eine weitere, kriegsversehrte Majorin auf Heimaturlaub in einer von Uniformen bevölkerten Stadt auffallen? Dem Zentrum eines bis zu den Zähnen bewaffneten und militarisierten Staates?

Sie bezweifelte nicht, dass die Gendarmerie Meister im Umgang mit Magie waren. Aber auch sie kannten nur lebende Magier. Rechneten mit einer Feuermagierin.
Keine Teleportation, kein kaltes, züngelndes Nichts in ihrer Brust.
Sollten ihre Instrumente doch Veränderungen in der Magie aufzeichnen... Mit einer hastigen Bewegung glühte sie eine einfache Sigille auf eine Buchseite. Mit etwas Glück würde die Gendarmerie und ihre Messsensoren deren Ausstrahlung für die passive Magie Zillis Präsenz halten.

Ihre Augen fixierten eine Nische zwischen zwei Stadtvillen, die in die Dunkelheit tauchte, unerreicht von dem goldenen Glimmen der Gaslaternen.

Das war nicht das erste Mal, dass sie einem Gefängnis mit pittoresken Anstrich entfliehen musste.

Die Akademie der geächteten Künste war ein solches gewesen. Ein altes Landgut irgendwo in der verwunschenen Landschaft bei den Deichen im Norden, wo sich die Bauern Geschichten über einen Geistermagier zuwisperten, dessen Seele auf einem weißen Ross die Fluten heraufbeschwor, die die gesamte Landschaft zu ersaufen drohten. Rastlos und eine helle Flamme in der Nacht. Einige behaupteten sogar, er hatte sich geopfert, um die Menschen vor seinem Zorn hilflos auszuliefern, weil der damalige Deichgraf ihm die Hand seiner Tochter verwehrt hatte.
Vielleicht waren solche Sagen schon die ersten Zeichen dafür, dass mehr hinter den altehrwürdigen Gemäuer steckte als die blütenweißen Hemden, grauen Röcken und dicken Lexika der Schülerinnen.

Ein Lyzeum, das sich zu der Gnade herabließ, aus jungen Magierinnen, deren Familien irgendwie zu Geld gekommen waren, brauchbare Mitglieder der Gesellschaft zu formen.
Keine Gefahrenquellen mehr.

Wie hätte man jedoch die Wahrheit dahinter erkennen sollen?
Nie hatte man ihnen erlaubt das Gelände zu verlassen, immer waren die schweren Vorhänge zugezogen.
Dahinter und zwischen den Stunden des zähen Unterrichts hallte das wüste Geschrei der Direktorin, der Klerikerin und Hierophantin Gundula Garthal, nur durchbrochen durch das Wimmern der Mädchen und Knallen eines Teppichklopfers.
Nicht einmal des nachts hatten sie Ruhe gehabt - denn auf den Doppelkammern kamen nur Magierinnen aus entgegengesetzten Orden.

Wochenlang hatte es Zilli nicht geschafft, auch nur ein Auge zu schließen, während ihre Sinne von den frostigen Wellen Hedda Marquardts Magie ertränkt wurden.

Erst nach Monaten hatten die zwei Mädchen begonnen, überhaupt nur ein Wort zu wechseln.
Und dann hatte eine von Zillis flapsigen Bemerkungen Hedda zum Lachen gebracht. Weniger schallend, dafür aber ein leises Kichern, schüchtern, trotzdem glucksend.
Es war der schönste Laut gewesen, den Zilli seit ihrer Abwesenheit von Zuhause gehört hatte.

Im Nachhinein wusste sie nicht einmal, was sie genau gesagt hatte. Oder ob es überhaupt nur Ansatz witzig gewesen war. Doch das war gleichgültig, denn egal was auch geschehen war, ab diesem Tag waren sie Freundinnen gewesen und je mehr Zeit sie verbrachten, desto eher reifte in ihnen die Idee heran, zu fliehen.
Nicht lange natürlich, eine Nacht nur. Sie wären zurück, bevor jemand ihr Fehlen überhaupt bemerken konnte.

Hedda wollte unbedingt einmal das Meer sehen, die salzige Luft in den blonden Locken spüren - und Zilli hatte nichts mehr gewollt, als ihre Freundin, ihren einzigen Halt an diesem freudlosen Ort, glücklich zu sehen.

Es war die schönste Nacht ihrer Jugend gewesen- bis sie eine Stunde vor Morgengrauen in ihr Zimmer zurückgekehrt waren und Ihre Hochwürden Garthal flankiert von ihrer Schlägerin auf sie gewartet hatte.

Die Erinnerung allein verzog ihre Lippen und automatisch wanderten ihre Finger zu ihrer unvernarbten Wange.
Wäre es bloß bei der Ohrfeige geblieben, die noch tagelang in ihrem Kopf vibriert hatte... Somit war also die schönste Nacht in den grausamsten Tag übergegangen.
Und vielleicht durchlitten jetzt, genau in diesem Moment, weitere junge Magierinnen und Magier das gleiche Desaster.
Genau wie sie würden sie sich dann nicht mehr helfen können.

Sofort fühlte sie wieder die heiße Glut in ihrer Magengrube züngeln. Diese Frustration. Hass. Das glühende Verlangen, das ganze Lyzeum der Gnade der Flammen zu überlasse...
Ein Echo alter Hilflosigkeit.

Aber jetzt konnte sie sich teleportieren.
Und sie war kein verschrecktes Mädchen mehr, dass sich vor Tyrannen wie Garthal oder dem Generalstab beugen würde.

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